Modular Organ System (Alle Fotos: Udo Siegfriedt / CTM 2022)
In nicht pandemischen Zeiten lockt das jährliche CTM mit einer exquisiten Kombination aus experimenteller Musik, Performances, Installationen und Clubveranstaltungen in die Hauptstadt. Da die Pandemie jedoch nachwievor das kulturelle Leben einschränkt, haben sich die Macher*innen entschieden, die diesjährige Ausgabe in zwei Hälften zu teilen. Aus diesem Grund fanden alle coronakonformen Veranstaltungen Ende Januar statt, während die Clubveranstaltungen für den Zeitraum vom 24. bis zum 29. Mai angesetzt sind. Ein Publikumsmagnet der ersten Festivalhälfte war mit Sicherheit das Modular Organ System von Phillip Sollmann alias Efdemin und Konrad Sprenger im Silent Green.
Auch wenn im ehemaligen Krematorium Wedding schon lange keine Leichen mehr eingeäschert werden, wirkt das geneigte Publikum an diesem Abend ein wenig, als wäre es zu einer sehr szenigen Trauerfeier erschienen. Die Gäste tragen Schwarz, die Atmosphäre ist andächtig und am Ende des kleinen Parks ragt der imposante Kuppelbau mit dem alten Schornstein hoch in den Nachthimmel Nordberlins.
Das Ziel des heutigen Abends liegt jedoch nicht in diesem durchaus beeindruckenden Gebäude, sondern rechts davon hinter einer eher unscheinbaren Tür verborgen. Nach der obligatorischen und streng wie schnell durchgeführten Impfnachweisüberprüfung geht es durch einen nebelverhangenen Tunnel in die unterirdische Tiefe. Aus der Ferne ist bereits ein diffuses Rauschen zu hören, das erahnen lässt, was genau dort unten wartet.
Am Ende des Tunnels angekommen öffnet sich schließlich die rund 800 Quadratmeter große Betonhalle des Silent Green und gibt den Blick auf etwas frei, das aussieht, als ob jemand diverse Vuvuzelas aus verschiedensten Materialien und in unterschiedlichen Größen wahllos im Raum drapiert hätte. Fairerweise wird diese derbe Beschreibung des ersten Eindrucks keineswegs der Genialität hinter dem gebotenen Spektakel gerecht. Was eben noch profan als südafrikanisches Fußballaccessoire diffamiert wurde, ist in Wirklichkeit das Modular Organ System, von Phillip Sollmann und Konrad Sprenger – eine begehbare Klanginstallation von immensem Ausmaß.
Die beiden Komponisten und Musiker haben mit Unterstützung des Künstlers Nico Ihlein eine Vielzahl an pfeifenartigen Objekten geschaffen, deren Präsenz das Konzept des Instruments Orgel auf den Ausstellungsraum anwendet. Wie bereits erwähnt variieren dabei sowohl Form und Größe, aber auch die Materialien der Instrumente. So erreicht beispielsweise die größte Pfeife eine länge von rund neun Metern, während die kleinsten gerade mal so lang sind wie eine menschliche Hand. Alle Pfeifen sind elektronisch ansteuerbar und geben in regel- oder unregelmäßigen Intervallen Töne von sich, die irgendwo zwischen einem tiefen Brummen und einem heiseren Fiepen skalieren. Begibt man sich nun in diese riesige Orgel hinein, so kann man per Bewegung des eigenen Körpers das Gehörte verändern. Allein durch die Masse und die Ausrichtung der Klangerzeuger reicht bereits ein kleiner Schritt oder eine minimale Drehung des Kopfes, um den omnipräsenten Klang nunancenweise zu beeinflussen.
Sobald das Publikum zu dieser Erkenntnis gekommen ist, findet es eigene Wege, mit der installativen Situation umzugehen. Ein Pärchen führt sich mit geschlossenen Augen durch die Halle, ein älterer Mann in Armeehose dreht sich auf der Stelle im Kreis und ein Großteil des Béret tragenden Volkes versucht händeringend das Erlebnis in der Insta-Story festzuhalten. So bietet diese überdimensionierte Orgel letzten Endes vor allem eines: die einzigartige Möglichkeit, eine raumgreifende Soundsituation für sich selbst zu erforschen. Wie mit dieser Möglichkeit umgegangen wird, bleibt schlussendlich jede*r selbst überlassen.
Nach einer Stunde in der riesenhaften Orgel und mehreren Experimenten zur eigenen akustischen Manipulation tritt man schließlich wieder hinaus in den mondbeschienenen Park des ehemaligen Krematoriums. Für alle Besucher*innen, die Lust auf mehr auditive Erfahrungen haben, geht es nun weiter in die ehemalige Trauerhalle. Dort, im eben bereits angesprochenen Kuppelbau, befindet sich die Installation Incantations des armenisch-litauischen Künstlers Andrius Arutiunian.
Eine Art sechs Meter langes Messingband hängt an Stahlseilen von der Decke des achteckigen Raums, während das Publikum andächtig drumherum oder über die beiden Oberränge flaniert. Alleine durch die räumliche Inszenierung erlangt das Objekt eine sakrale Konnotation und wirkt ein bisschen wie ein gigantischer Obelisk, der inmitte des dunstigen Saals aufblitzt. Währenddessen läuft eine einstündige akustische Aufnahme, die in Zusammenarbeit mit dem Melos New Vocal Music Collective entstanden ist und auf armenischen Beschwörungsformeln aus dem 19. Jahrhundert basiert. Die Musik wirkt ruhig und klar, und in manchen Momenten schwingt das gigantische Messingband hörbar mit. Dadurch wird der Klang gleichzeitig verstärkt und verzerrt, was den mystischen Charakter der Musik wunderbar unterstreicht.
Auch im Kontrast zur begehbaren Orgel funktioniert diese Installation hervorragend und erschafft einen Ort, der zwar ebenfalls zum Verweilen einlädt, jedoch viel sanfter als die druckvolle Inszenierung der unterirdischen Halle wirkt. Es ist gerade das Zusammenspiel der beiden Installationen, das dem CTM-Abend einen dramaturgischen Überbau verleiht. Dieser fordert auf seinem Höhepunkt beachtliche Konzentration von den Gästen, um sie anschließend zu den sanften Klängen von armenischen Zauberformeln in die kühle Winternacht zu entlassen.