DJ Deeon – Destiny EP (Teklife)
In den frühen 1990ern war DJ Deeon neben DJ Funk, Jammin’ Gerald und DJ Milton einer der Pioniere des Ghetto House. Dieser entstand aus dem Chicago House und zeichnet sich durch seine Roughness und sehr präsenten Vocal-Samples aus. Über den Umweg Detroit wurde das ganze mit einer Prise Techno angereichert, und zurück in Chicago entwickelte sich der Juke: schneller Ghetto House mit oft übersexualisierten Vocal-Samples. Wichtigstes Label: Teklife. Hierhin hat es Deeon nun verschlagen, und es war wohl sein Schicksal, dass er diesem Kapitel noch ein paar Sätze hinzufügen würde.
„Tek 57” beginnt mit dem Geratter eines Spechts, und ein eindringliches Genöle dringt tief in die Ohren. Bloß zur Hälfte kurz unterbrochen von einem Hi-Hat- bzw. Drum-Part. Wie immer im Genre: In-your-face-Samples an der Grenze zum Nicht-mehr-Aushalten, aber bis dahin sehr krass und energetisch. „Living that TEKLIFE” heißt Track zwei. Sehr schnelle Hi-Hat, Trommel-Geballer auf sämtlichen Höhen und Tiefen und im Hintergrund melancholische Synths. Irgendwo zwischen High-Life und Tragik. Diese Spannung hält sich fast die ganzen sieben Minuten. Auch, weil die Samples diesmal einfach gut passen. Auf „Respect the fact” legt er über einen auf- und ableitenden Bass einen minimal sexistischen Vocal – muss wohl einfach sein. Bei „Herbal Grinder” ist er völlig in seinem Element: musikalisches Fastfood, mit seinen 3:25 dieses Mal zeitlich komprimiert. Einfaches Rezept, klingt wie schnell zusammengeschustert, und heraus kommt ein spaßiges Kleinod. Destiny ist stumpf und mit Sicherheit das Gegenteil von subtil. Man kann es zugleich als Stärke oder Schwäche sehen. Kaum jemand wird sich aber gegen ein Grinsen beim Hören wehren können. Lutz Vössing
Gotshell – Rezagados EP (BPitch)
Gotshells größte Waffe ist sein Modularsystem. Aber seid unbesorgt! Das hier wird keine weitere Folge von White Kids With Modular. Der kolumbianische Künstler weiß ganz genau, wie er seinem System die perfekten Bleeps entlockt. Vor allem durch seine Live-Sets hat er sich eine weltweite Fanbase erspielen können, zu der unter anderem auch James Ruskin und Berlin’s Finest, Ellen Allien, zählen. Die veröffentlicht nun Rezagados, den psychedelischen Wirbelsturm von Gotshell, der gleichzeitig als politisches Statement verstanden werden will. Der Künstler solidarisiert sich darauf mit der Protestbewegung seiner Heimat und prangert eine Regierung an, die mit einer höchst umstrittenen Steuerreform gerade die niedrigere Einkommensklasse dazu verdonnern will, Geld in die klammen Kassen zu spülen und eklatante Haushaltsdefizite auszugleichen.
Das besondere an diesem Acht-Tracker ist seine Experimentierfreudigkeit und der damit einhergehende Facettenreichtum. Beginnt die EP noch mit dunkler, analoger Sound Art, die zu Teilen an Rrose erinnert, bricht der Kolumbianer dann mit ebendieser und bringt mit den drei Tracks „Creyentes”, „Rezagados” und „¿Y La Libertad?” Liebhaber*innen von 90s-IDM zum Jubeln. Vor allem das melancholische „Creyentes”, das im Drop mit verträumtem Gitarrenspiel überrascht, muss man einfach wieder und wieder genießen. Wenn man sich dann von diesem lösen kann, wirft Gotshell mit „iCalumnia e Injuria!” noch einen letzten Curveball, der wieder erstaunt. Zum langsamen 80-BPM-Kopfnick-Beat fräst sich eine gemeine Acid-Bassline tief in den Gehörgang, wird mit Pads und eleganten Effekten ergänzt und lässt mit heruntergelassener Kinnlade nicht schlecht staunend zurück. Andreas Cevatli
Lack – Make It Circular EP (Livity Sound)
Lange vor Dubstep gab es in den frühen Neunzigern neben Dub Techno ja auch mal Dub House, wie er von Projekten wie Zion Train praktiziert wurde. Ein wenig fühlt man sich an diese digitalen Dub-Anverwandlungen erinnert, wenn man den Track „Grapefruit” hört, mit dem Charly Foy alias Lack seine neue EP beginnt. Er lässt die Dinge ruhig angehen, mit gleichwohl merklich stolperndem Beat zur Strukturierung des stoischen digitalen Basses. Danach zieht er das Tempo an, auch der Rhythmus wird straffer, pendelt sich zwischen Dubstep und Techno ein. Im Titeltrack beleben leicht verstimmt hallende Synthesizer die Angelegenheit zusätzlich. Um dem Titel Make It Circular gerecht zu werden, bringt Lack zum Abschluss dann noch einmal nervöses Pochen mit luftigen Momenten in produktiven Austausch. Gelassen und aufgekratzt zugleich, so lässt es sich mit Techno heute leben. Tim Caspar Boehme
Lion’s Drums Edits – Manos Tsangaris Drum (Cocktail d’Amore)
Trickreich verzwickt: das jüngste Release des Berliner Labels CockTail d’Amore serviert zwei Edits des aus Marseille stammenden Produzenten Harold Boué alias Lion’s Drums, der global auch unter seinem zweiten Pseudonym Abstraxion für fiebrigen EBM, Electro und Techno bekannt ist. Als Lion’s Drums veröffentlicht er seit 2018 rhythmisch verspielte Tunes auf Labels wie Hivern Discs oder seinem eigenen Imprint Lion’s Drums. Für CockTail d’Amore editierte er nun Musik des deutschen Komponisten Manos Tsangaris, genauer gesagt die Stücke auf dem 1990 veröffentlichten, abstrakt groovenden Album Elephant’s Easy Moonwalk Through The Night. Zwei raue, von wilden, zackigen Drums angepeitschte Edits, die an frühe Cómeme-Platten erinnern und im Aufbau zuweilen ähnliche Überraschungsmomente präsentieren, die einst den Techno des Kölner Produzenten Barnt so berühmt machten. Die zuweilen an die marokkanische Darbuka erinnernden Tribal-Trommeln werden von Disco- und Techno-Grooves begleitet, die zur Peaktime jeden Dancefloor in ekstatische Verwirrung versetzen. Insgesamt zehn Minuten erfrischende Dance Music, die gängige Muster umschifft und organische Schlagzeug-Ekstase mit bewegender Spannung klischeefrei in den Club katapultiert. Michael Leuffen
Perel – Star (Running Back)
Glitzer, Glanz und ein Ausflug in die Space Disco. Mit Perel auf der Stereo heben sogar Kleinlastwagen ab, propellern sich in einen Zustand zwischen absoluter Ekstase und relativer Geschmeidigkeit und schießen sich mit Jeff Bezos ins All. Schließlich erklimmt man auf Perels Star den Stairway to Heaven im Marschiertempo. Der titelgebende Track ist eine Hymne, nicht nur an die Schwerelosigkeit. Sondern an den Zustand, der damit einhergeht, wenn man nach eineinhalb Jahren wieder mal im Club vor den Boxen steht, sich das richtige Zeug reingepfiffen hat und einfach nur grinsend rumeiert. Deshalb kommt der „Star” auch in drei Ausführungen daher. „Extended”, „Extended Instrumental”. Und das Original auf Deutsch, bei dem Annegret Fiedler unter anderem diesen Wisdom raussäuselt: „Ich seh’ ‘nen Stern am Himmel, das könntest du sein.” Meine Güte, die Wildecker Herzbuben scheißen sich vor Perels Schlagerqualität schon in die Lederhosen. Für Gerd Jansons Running Back giorgiomorodern Perels Synthies jedenfalls, als hätte sich so ein Michi gerade zwei Schulterpolster bei Humana gecheckt. Bevor man interne Dialoge führt, verdrückt man auf der Regenbogen-Strecke mit „Tour de Perel” ein paar Tränen, lutscht das „Eis am Stiel” und verballert mit „In The Box” das heißeste DJ-Material des Sommers. Christoph Benkeser