M.Rahn – The Lost Archives (Seasides on Postcards)
Vor einem Jahr saß man mit verkrampften Kiefer im Uber zur Afterhour, um Dienstagfrüh die neue Woche mit ein paar fremden Gesichtern einzubimmeln. In einem lichten Moment schnappte man sich das Aux-Kabel und zog dem Downbeat-Geplätscher den Stecker. Es war Zeit wieder Zeit für den „Toaster“ – Druffi-Jargon für „Jetzt drück ma alle nochmal aufs Gaspedal, Leudde!“ Der „Toaster“ ist einer der frühen Tracks des Frankfurter Basic-Channel-Epigonen Matthias Rahn und einer der ersten auf dem Kölner Label Trapez. Dort lief schon immer der bessere Dub Techno, soll heißen: Der „Toaster“ war für ein Gelingen der After wie zwei Packungen Wrigleys am Dancefloor – überlebensnotwendig! Dass man seit zwölf Monaten den Kaugummikonsum eingestellt hat, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keinen Bedarf an Kiefer-Frakturen gibt. M.Rahn hat für Seaside For Postcards die alten Festplatten aufgeräumt oder sich einen klugen PR-Gag einfallen lassen: The Lost Archives bestehe aus Tracks, die über die Jahre entstanden seien, bloß nie veröffentlicht wurden, weil – tja – man habe sie halt vergessen. Kruder und Dorfmeister grinsen wie zwei Buben im Pelz. Schon wieder ist was aufgetaucht! Im Gegensatz zu den 90ern in Wien, pritschelt es bei Rahn auch heute wie damals mit dem „Toaster“. Die Pads schmieren, als hätte man Nutella über vegane Butter gestrichen, Plastikman mit Orangensaft gesoffen und am Frühstückstisch nochmal Gas … gegeben. So deep, so dark, man will nie mehr auf den Dancefloor! Christoph Benkeser
Nuron / Fugue – Likemind 06 (Likemind)
Die Geschichte der frühen UK-Techno-Jahre ist bereits einige Male erzählt worden. Zu Beginn der 1990er-Jahre war in England die Zahl der Techno-Labels überschaubar. Vieles von dem, was damals auf Labels wie A.R.T. (gegründet von Kirk Degiorgio), B12 (gegründet von Mike Golding und Steve Rutter) oder Ferox (Russ Gabriel) herauskam, gilt heute zurecht als Klassiker. Keine der damals erschienenen Platten ist ohne den Detroit-Techno-Einfluss denkbar gewesen. Und doch beschritt man auf der Insel zum Teil ganz andere Wege. Hier und da hallte Bleep nach, auch die Breakbeat- und Rave-Welt jener Tage schimmerte manchmal durch, wobei der damalige UK-Techno hinsichtlich Komplexität und Rave-Signal-Eindeutigkeit natürlich am gegenüberliegenden Ende des Spektrums operierte. Unter dem Schlagwort IDM gerann so manche frühe UK-Techno-Idee ein paar Jahre später zum Klischee. Zu den ganz wichtigen frühen Techno-Adressen aus England zählte das Londoner Label Likemind, das 1996 nach nur vier EPs, die heute für völlig weggeschossene Beträge gehandelt werden, wieder von der Bildfläche verschwand – für mehr als 20 Jahre.
Auf Likemind erschienen ab 1993 Tracks von Redcell/B12, Andy Turner (Plaid) oder Kirk Degiorgio, also von den üblichen Verdächtigen. Seinen Kultstatus verdankt das Label aber Produktionen von Nurmad Jusat. Der nannte sich sich abwechselnd Nuron und Fugue. Ganze 12 Stücke hat der Londoner mit malayischen Wurzeln veröffentlicht, danach war er einfach weg. Acht dieser Tracks hat Paul Smith, der sein Label vor ein paar Jahren wiederbelebt hat, für die Compilation Likemind 06 ausgewählt. Die sind grandios vielschichtig und von oft fragiler Schönheit. Nuron- oder Fugue-Tracks waren zu ihrer Zeit keine Stücke, die für den Club produziert wurden. Ins IDM-Schema passen sie aber genausowenig. Detroit Techno ist natürlich das große Vorbild, aber die Ergebnisse klingen wie bei Kirk Degiorgio oder B12 eben anders. Mal hat man es mit Post-Bleep-Sound zu tun, mal erinnern Nuron-/Fugue-Stücke durchaus auch an den frühen Richard D. James.
Doch im Vergleich zum berühmten Kollegen aus Cornwall war Nurmad Jusats Verständnis von Musik dann doch konservativer. Völlig ungeklärt ist der Verbleib von Nurmad Jusat. Die einen sagen, er sei irgendwann aufs Land gezogen, um Bio-Gemüse anzubauen. Andere meinen, er lebe mittlerweile in Malaysia. Überhaupt gibt es nicht viel, was man über den Mann weiß, außer dass er in den frühen Neunzigern einen Porsche fuhr. Dass er rennsportbegeistert war, legt auch das einzige Foto in seinem Discogs-Profil nahe. Schön, dass diese Musik, die nur ganz vorsichtig aufs Gaspedal tritt, wieder zu haben ist. Holger Klein
Parabellum Detroit (Upstairs Asylum)
Die Compilation jackt überwiegend gewaltig knackig mit der guten alten TR-909 nach vorne. Kein Wunder, denn die Detroit-House-Legenden Delano Smith und Rick Wilhite vereinen für ihre Sammlung das Who is Who der Detroiter Produzenten-Gilde. Wilhite kennt man von der Supergroup 3 Chairs und Smith von Labels wie Sushitech, Mixmode oder Third Ear. Und so harmonisch, fett und verspielt kommt auch der Sound rüber und entführt die Hörer*innen in den Afrofuturismus der Mitt-90er Jahre. Dabei polieren die genannten Acts die jazzig-deepen Rolltreppen-Grooves so glitzernd auf, als würden sie von der aalglatten Spiegel-Lackfassade der General-Motors-Hochhäuser in Schweiß-getränkte Sommernächten über die Great Lakes bis nach Chicago schallen. Gerald Mitchell liefert dazu in bester Galaxy2Galaxy-Manier den – nach SH101-Bass klingenden – Spacefunk-Vocalhousetrack „Kaori”. Norm Talley unterstützt insomnische Autofahrten in Richtung Downtown („Dreaming In Detroit“). Javonette lässt die Großstadt im 1970er-Jahre-Turboliner-Zug nach West-Michigan hinter sich („Late Night Love“). Omar S hat seine TR-707 mit dabei („VAT 69“), und Moodymann macht mit „I’m Goin Black”, was er am besten kann: Schön dreckig sampeln. Das ist pure Körper-Extase, das sind große House-Epen! Was der Titel mit der Parabellum-Pistole des deutschen Kaiserreichs zu tun hat, erschließt den Hörer*innen allerdings nicht wirklich. Außer, dass die Compilation halt ziemlich knallt. Und Knarren passt generell ganz gut zu Detroits Mainstream-Außenwahrnehmung. Mirko Hecktor
Special Request – DJ-Kicks (!K7)
Der aus Leeds stammende Paul Woolford hat sich nicht nur als nimmermüder Produzent einen Namen gemacht (allein vier Alben seines Special Request Alias’ erschienen 2019), sondern auch sein mehrere Dekaden und Styles umfassender DJ-Auftritt kann sich sehen lassen. Der Eintrag in die DJ-Kicks-Serie hat sich offiziell zum Ziel gesetzt, ein möglichst umfassendes Bild seiner eigenen Lieblingstracks abzubilden und das Ganze lose mit dem Bindfaden von „lush melodies“ zusammenzuhalten.
Demnach finden sich auf den 25 Tracks (von denen Woolford übrigens bei 11 Stücken selbst seine Finger mit im Spiel hatte) ganze Epochen der Dance Music, von Sun Ra Arkestras „Cluster of Galaxies“ aus den 1960ern bis zu noch nicht erschienenen Eigenproduktionen. Dass der Mix sich dabei unauffällig, mit lange ineinander greifenden Übergängen, vor sich hin schlängelt und die Elemente der Tracks sich kaum hörbar abwechseln, macht das Set nicht nur auf einem imaginären Dancefloor einsetzbar, sondern auch kopfhörertauglich.
Der unauffällige Übergang zwischen einzelnen Tracks bezieht sich aber nicht nur auf deren Inhalt, sondern auch auf die stilistische Herkunft, auf deren Entstehungsort und -Zeitpunkt. Wo andere, im Jungle- und UK-Continuum verortete Mixes oft kaum in Richtung House und Disco hinüber blicken, springt Woolford fast gleichberechtigt zwischen frühem House und Disco (er öffnet etwa mit John Morales’ Remix von Alicia Myers’ Discohymne “Right Here Right Now“) und Techno, Electro und Ambient, aber eben auch IDM, Breakbeat, Hardcore und natürlich seinen eigenen Neo-Jungle-Produktionen als Special Request (und deren kürzlich erschienen Remixes des Londoners Tim Reaper).
Das beweist zum einen superbe DJ-Skills, zum anderen aber legt es tatsächlich die Breite der Einflüsse auf seinem Katalog als Produzent dar: einer, der sich auf so unterschiedliche Art und Weise wie mit Vocal-Charthouse featuring Diplo oder eben durch halsbrecherischen Jungle ausdrücken kann.
Fans seiner rollenden Produktionen letzter Art werden freilich nicht enttäuscht, denn der Mix wendet sich in seinem letzten Drittel den Subbässen und Breaks zu. Dass Woolford von jedem Track aber immer nur genau soviel nimmt, wie der Mix gerade braucht, stellt das Set als solches betont vor den Wert einzelner Songs und lässt seine prominente Produzentenrolle bewusst in den Hintergrund treten. Das Ergebnis, einen Mix für den Eintrag in diese ehrenwerte Serie zu schaffen, den man immer wieder hören kann, gibt ihm Recht. Leopold Hutter
Steve O’Sullivan – Green Trax (трип)
Bis zur Mitte der 1990er-Jahre war die Londoner Techno-Szene noch ein kleines Dorf, jeder kannte wirklich jeden. Puristischer Techno spielte in den Clubs eher eine Nebenrolle. Zu den Leuten, die stellvertretend für diese kleine, ab 1995 an Fahrt aufnehmende Szene standen, ist Steve O’Sullivan zu zählen. Der verbrachte seine Teenager-Tage in den Achtzigern mit Electro-Hip-Hop, Depeche Mode und New Order. Doch im Nordwesten Londons, wo er aufwuchs, war man auch immer mit Reggae konfrontiert – ein Einfluss, der für O’Sullivan noch wichtig werden würde. Am deutlichsten war dieser auf seinen späteren Bluetrain-Produktionen zu hören. Doch auch die minimalistischen Tracks, die er ab 1995 in seiner Green-Serie veröffentlichte, waren nicht allein von Vorbildern wie Robert Hood oder Jeff Mills geprägt. Dub spielte auf diesen fünf Veröffentlichungen ebenfalls eine Rolle.
Die Platten waren bloß mit einem grünen Label versehen, von der Nummerierung in französischer Sprache abgesehen gaben sie keine weitere Information preis. Langlebiger als die Green-Serie war sein Label Mosaic, dort war er bis zum Jahr 2003 umtriebig. Doch nach der Insolvenz des damals wichtigen UK-Techno-Vertriebs Prime zog sich O’Sullivan für knapp zehn Jahre ganz aus dem Geschäft zurück. An einer Wiederveröffentlichung seines Kataloges zeigte der Londoner bisher kein Interesse. Er wolle nicht als Techno-Dinosaurier von seiner Vergangenheit leben, sagte er 2014 in einem Interview mit dem Blog Innate. Dass Steve O’Sullivan nun doch sein Archiv geöffnet hat, ist Nina Kraviz zu verdanken. Für die Compilation Green Trax hat O’Sullivan der Russin neben zehn Highlights aus dem Green-Katalog (die nun erstmals Tracktitel tragen) auch drei bisher unveröffentlichte Aufnahmen zur Verfügung gestellt. Das Spektrum der Green-Tracks reicht von kompromisslos straight („Grænn“ oder das bis dato unveröffentlichte „Hijau“) über klar konturierten Techno-Minimalismus mit Dub-Einflüssen („Berdea“) bis hin zu eher verschachtelten Produktionen („Kijani“). Zirka 25 Jahre später klingt der Sound dieser Steve O’Sullivan-Produktionen noch immer irre frisch. Holger Klein