AAAA – Runts (Acid Test)
Es kommt vor, dass Menschen in den USA ihren Namen derart ändern, dass er schlussendlich an erster Stelle des Telefonbuchs steht. Der Fantasie ist dort kaum eine Grenze gesetzt. An einer Stelle weit vorne im Telefonbuch der Musik steht der in Mexiko weilende Gabo Barranco alias AAAA, der neben einer EP und einer gemeinsamen Arbeit mit Tin Man (Projektname DOVS) nun alte, eigentlich bereits auf dem Sterbebett liegende Tracks zurück ins Leben gebracht hat. Runts ist eine coole Sammlung von housiger Musik, die sich zwischen klassischem Acid und ziemlich atmosphärischem Tech ansiedelt, von Beginn an fein melodiös und vereinzelt in experimentelle Gefilde ausfadend. Die Nummern reichen von ziemlich straighten Dance-Tracks mit ballerndem Bass wie „Lantinx Date Cuenta” bis hin zu Stücken wie „Plonks Acid”, die an melancholische Sounds von Richard D. James gemahnen und auch super für introspektive Tieftauchgänge taugen. Bis hin zum letzten Track „Argos”, der auch aus der Feder des Chillwave-Zauberers Tycho stammen könnte. Ziemlich überzeugend und Anspieltipp: „Future Shelters”, das von Barrancos Händchen für eingängige, einnehmende Melodien zeugt. Lutz Vössing
Basic Soul Unit – Free To Be (Lab.our)
Auch schon nahezu 20 Jahre im Dancefloor-Geschäft ist Stuart Li alias Basic Soul Unit. Ob House, Techno oder Breakbeat, der Producer aus Toronto weiß sich in jedem Idiom stilsicher zu bewegen und auszudrücken, wobei Detroit einen genreübergreifenden Bezugspunkt seiner Handschrift darstellt. Während vor fünf Jahren auf Under The Same Sky, seinem Album für Dekmantel, ein schroffer Industrial-Sound im Vordergrund stand, schlägt er auf seinem aktuellen Longplayer melodischere Töne an, ohne die für ihn typische Mischung aus Roughness und schwelgerischer Entgrenzung zu verleugnen. Anders gesagt: Free To Be ist ein lupenreines Deep-House-Album alter Schule, dessen Tracks Ecken und Kanten mit warmen Feel-Good-Harmonien verbinden. Dafür greift Li immer wieder auf jazzige Vibes zurück, etwa im Titeltrack oder in „Morning Mist”. Mit „Dreamweaver” gibt der Kanadier seine Definition eines Acidtracks ab. Highlights sind das sommerlich anmutende „Another Day” und das bouncende „Drifting Souls” – in beiden klingen auch, wie mehrfach hier, die ersten Jahre von Warp an – sowie der Midtempo-Ausklang mit „Fading Memories”. Rundum wohltuendes Understatement. Harry Schmidt
Biochip – Crux Alley (Central Processing Unit)
Schon mit der Synthase-EP aus dem letzten Jahr reihten sich Biochip nahtlos in den CPU-Kanon zwischen prickelndem IDM und retrofuturistischem Electro nach bewährtem Drexciya-Rezept ein. Crux Alley ist zwar tatsächlich noch kürzer geraten, wird aber nun als Debütalbum des Duos gehandelt, das erneut ein konstant hohes Produktionsniveau zu bedienen weiß und dabei herrlich spacige Stimmungen mit reduzierten Mitteln beschwört. Schon in den Titeln spiegelt sich das wider: „Orbital Rendezvous” klingt wirklich, als sei man auf dem Weg zu einem Date im Mars-Orbit und ließe den Autopiloten gewähren, während man sich im Badezimmer des Raumgleiters frischmacht – komplett mit sphärischen Höhen, reduzierten 808s und träumerischem Synthsäuseln. „Dopamine City” hingegen wirkt voller und dunkler, evoziert urbane Szenarien auf der dunklen Mondseite und verdeutlicht vor allem, dass die Biochip-Signatur selbst mit ihren bewusst minimal gehaltenen Mitteln einen beachtlichen Facettenreichtum ausbildet. Denn wo andere einen Schwall an diversen Samples einzuhegen versuchen, üben sich Melissa Speirs und Julian Kochanowski in wohldurchdachter Stringenz – mit wiederkehrendem Erfolg. Das wird gegen Ende noch einmal ganz deutlich, wenn erst das famos texturierte „Neutral Current” seine mäandernde Modulation auswirft und anschließend ins definitive Highlight dieses Albums mündet. „Tower 13” ist alles, wirklich alles, was Mensch sich in diesen Tagen von atmosphärischer Abendmusik elektronischer Machart wünschen kann. Schummrig raunende Flächen, zurückhaltende Basslinie, ein ebenso eingängiger wie brillant sequenzierter Breakbeat – und dann drängen nach der Hälfte auch noch diese warm fließenden Pads ins Bild wie Erinnerungen von endloser Geborgenheit. Sahnematerial für stundenlange Repeatschleifen. Nils Schlechtriemen
Brother Nebula – The Physical World (Legwork)
Der Mensch als Galaxie, hach, da sabbern Philo-Studis vor lauter Träumerei schon mal heimlich in die Unterhose. Weil der Deep-House-Astronaut Lance DeSardi zu viele Weltraum-Dokus weggeballert hat, nennt er sich seit ein paar Jahren Brother Nebula und fummelt mit Außerirdischen rum. Ganz schön creepy, das Cover ist trotzdem so geil wie die Idee, wieder mal beim Mond vorbeizuschauen. Mit The Physical World zündet der brother from another planet die Turbinen – dritter Gang: Ultraschallgeschwindigkeit auf der Weltraumautobahn. Breaks knattern auf dem Weg in die Unendlichkeit über Melodien, die weder galaktisch gut noch kometenhaft kacke sind, sondern einfach aus dem aufgewärmten Loveparade-Universum von 1995 kommen. Die Umlaufbahn, auf die man sich mit der bei Legwork erschienen Platte einpendelt, lässt uns Kreise, Loops und Schleifen ziehen. Immer und immer wieder, bis man nicht mehr weiß, wo vorne und hinten ist, einpennt und auf alle Ewigkeit mit Deep House und Astronautenfutter im Sauseschritt durchs All düst. Christoph Benkeser
Cygnus – Cybercity Z-ro (Gentrified Underground)
Dieses Album demonstriert wieder einmal beispielhaft, wie sich heute mehr und mehr Zeitebenen in der Wahrnehmung in- und übereinander schieben, wie Gleichzeitigkeit, Everything-goes zum bestimmenden Phänomen in Kunst (und vielen anderen gesellschaftlichen Sphären) geworden ist. Cybercity Z-ro erschien 2012 auf Cassette, also zu einer Zeit, als sowohl Electro – das auf dem Album dominierende Genre – als auch die Kompaktkassette als Tonträger bereits mehrere Durchläufe der Wiederentdeckung hinter sich hatten. Jetzt erscheint das Debütalbum von Phillip Washington alias Cygnus zum ersten Mal auf Doppelvinyl, was weiteren Revivals auf stilistischer und Verwertungs-Ebene zu verdanken ist. Aber abgesehen von diesen etwas kuriosen Verschränkungen, verdient der Erstling des Produzenten aus Dallas auch inhaltlich diese Aufmerksamkeit. Seine Definition von Electro konzentriert sich auf die spacig-sphärische Komponente des Genres, Stücke heißen „Astrobation” oder „Subterrestrials 2”, und gerne auch auf Deutsch „Mitgefuhl” (genau, ohne „ü”) oder „Aquatisch”. Das Adjektiv bezeichnet nicht nur Lebewesen der Wasserwelt, auch der Infotext zum Album benutzt es und spricht von den „aquatischen Kompositionen” Washingtons. Und klar, Space und unendliche Weiten dehnen sich eben nicht nur um und über uns, sondern auch und oft noch weit unerforschter unter uns aus in den Meerestiefen und noch tiefer liegenden Erdschichten. Cygnus orchestriert dieses Unbekannt-Faszinierende mit entschlackten Breakbeats und an Detroit-Techno geschulten Synthesizer-Flächen, die Raum- und Zeitempfinden in Richtung Sehnsucht dehnen und verknäulen. Wenn Eskapismus wie gerade in diesen Tagen fast ausschließlich im eigenen Kopf stattfinden kann, kommt ein Soundtrack wie Cybercity Z-ro gerade recht. Mathias Schaffhäuser
DJ Earl – Bass + Funk & Soul (Moveltraxx)
Der Chicagoer Footwork-Produzent DJ Earl fasst sich gern kurz. Fünf Sekunden braucht es in der ersten Nummer, um sein Gesangssample in Reinform vorzustellen, danach wird es unverzüglich in das titelgebende „Baaaaaa”-Gestotter zerlegt, knapp 40 Sekunden später folgt ein Saxophon-Solo. Nach zweieinhalb Minuten ist der Spaß vorüber, mit einem Fade-out, der, gerade eben angefangen, gleich schon wieder abreißt. Soul für Menschen mit einer Aufmerksamkeitsspanne von unter acht Sekunden. Neun Titel, 25 Minuten, das ist das Album Bass + Funk & Soul in nüchternen Zahlen. Vier Jahre sind seit seinem Teklife-Debüt Open Your Eyes vergangen, damals hatte er Kollegen wie DJ Taye oder DJ Manny und den Elektronik-Forscher Oneohtrix Point Never hinzugebeten. Jetzt hat er lediglich in der Nummer „Shitz Aint Safe No Mo” mit Traxman zusammengearbeitet, der Rest entstand im Alleingang. Und vom Ergebnis her hat ihm die künstlerische Einsiedelei nicht geschadet. Neben orthodoxeren Footwork-Tracks gibt eine Reihe von Nummern, in denen DJ Earl sich einige Freiheiten gestattet, siehe den Opener. Die Streifzüge durch die im Albumtitel genannten Genres sorgen dabei für angenehme hektische Abwechslung, mit „Wrk Dat Body” als einem Höhepunkt in Gestalt eines Footwork-Songs, wenn man so will, Future Funk-Refrain inklusive. Get Smoked! Tim Caspar Boehme
DJ Godfather – Electro Beats For Freaks (Databass)
DJ Godfather ist eine echte Detroiter Legende. Brian Jeffries, wie der Künstler mit bürgerlichem Namen heißt, hat bereits als Teenager aufgelegt und beweist mit über 30 Jahren Erfahrung in seinen Sets fast unübertroffene Mix-Skills. Sein Stil zeichnet sich durch ruppige Cuts und schnelle Übergänge aus, Tracks bleiben nicht länger als nötig drin und sein liebstes Werkzeug ist vermutlich der Crossfader. So mixt Jeffries Musik als einer der Meister des Ghettotech zu unverwechselbaren Performances und zieht das Publikum auf Events wie dem legendären Detroiter Movement Festival an. Zwei Jahre nach dem Revival seines ikonischen Labels Databass erscheint auf ebendiesem nun sein erstes Soloalbum.
Dieses umfasst eine unglaubliche Anzahl von 44 Tracks und ist fast zwei Stunden lang. Allerdings sind diese zwei Stunden sehr reduziert. Die Tracks sind meistens nicht viel länger als zwei Minuten und verstehen sich eher als eine Art Sneak-Peak zu längeren Versionen. Über das Jahr 2021 verteilt, sollen auf Databass dann weitere EPs einzelner Tracks in längeren und alternativen Versionen und BPM-Variationen erscheinen.
Auch in der Anordnung hat das Album den Charakter einer Vorschau. Electro Beats For Freaks ist als ein Ganzes produziert. Und zwar in dem Sinne, dass es in chronologischer Reihenfolge die Anmutung eines DJ-Sets hat. Die Tracks bauen aufeinander auf und gehen ineinander über.
Musikalisch überzeugt Jeffries mit ausgezeichnetem Ghettotech und starken Einflüssen aus Grime, Electro und Techno. Schöne, rohe Basslines, knackige electro Drum-Patterns und für das Genre klassische, gesampelte Vocals in der typisch vulgären Sprache sind unverkennliche, tragende Elemente. Die Stadt Detroit spielt immer wieder eine zentrale Rolle. In einigen Sequenzen, aber wirklich nicht mehr als nötig, gesellen sich noch ein paar Pads über die sehr perkussiven Beats. Im Großen und Ganzen ist das Album ein spannender Release, das jetzt schon hungrig auf all die Variationen im kommenden Jahr macht. Und damit auf all die Partys, die sich mit ihnen schmücken! Jan Goldmann