Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im ersten Teil des Oktober-Rückblicks mit 808 State, Carla dal Forno, Donato Dozzy und sechs weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge.
808 State – Transmission Suite (808 State)
808 State waren mal das Epizentrum der Acid House-Szene von Manchester, England, wenn nicht gar Europa und schufen mit „Pacific State” bereits 1991 einen Meilenstein, der den Namen auch verdient und heute noch Bestand hat. Und ich muss gestehen, dass ich die Entwicklung der Acid House-Supergroup, zu der nicht zuletzt auch Gerald Simpson alias A Guy Called Gerald gehörte, seit den 90ern etwas aus den Augen verloren hatte. Transmission Suite, das aktuelle Album des verbliebenen Duos aus Urgestein Graham Massey und Andy Barker, kann auf jeden Fall schon mal nicht von sich behaupten, eine ähnliche Revolution loszutreten wie ihre Veröffentlichungen der frühen 90er. Die TR 808-Sounds klingen ganz wie damals und die Claps und Rims wollen gerne an die goldene Ära erinnern. Aber die zeitgemäßen Clubhymnen im Retro-Gewand, die kommen inzwischen halt eher von Bicep und Co., während Transmission Suite oft seltsam uninspiriert klingt und die Genialität der frühen Meisterwerke nur noch als vage Ahnung im Hintergrund mitschwingen lässt. Stefan Dietze
Acid Arab – Jdid (Crammed Discs)
Omar Souleyman hat den Dabke, also diese schnelle, arabische, tanzbare Popmusik, die vorher meist nur in den Ländern östlich des Mittelmeerraums zu hören war, mit seiner energetischen Partymusik auch auf die Festivalbühnen Mitteleuropas gebracht. Das französische Duo Acid Arab, bestehend aus Guido Minisky und Hervé Carvalho, fabrizieren ähnliches, mischen dafür bouncige, westliche Electro-Beats mit arabischem Gesang. Ihr erstes Album Musique de France erschien 2016 und ist Gilles Peterson-approved. Für Jdid (arabisch: neu) geht die Band noch ein paar Schritte weiter, sprich Richtung Paris und Berlin: die Einflüsse aus Club-orientierter Tanzmusik sind sehr spürbar vorhanden, Liveshow-Keyboarder Kenzi Bourras ist nun festes Mitglied. Allerhand Künstler*innen aus besagtem Mittelmeerraum sind gefeatured und tragen zum frischen, housigen Sound bei. Auf „Staifia” ist es die algerische Sängerin Radia Menel, die in einem eindringlichen, call-and-response-mäßigem Hin und Her ihre kräftige Stimme gegen einen Bläsersound einsetzt. „Electrique Yarghol” hat ordentlich Synth-Drive und Hasan Minawi, Könner am Drinking Straw (Musikinstrument!), liefert dazu ab. Genauso einen klassisch arabischen Einschlag, aber noch mehr von der elektronischen Seite, hört man in der Kollaboration mit dem tunesisch-belgischen Produzenten Ammar 808, beispielsweise auf „Rajal”. Das ist eine trancige Nummer, hier und da mit Percussion: Partymusik. „Was Was” hat was von Aphex Twin-Nummern aus den Neunzigern: deeper Sound, shady Stimmung, einfache Rhythmik. Der Auftritt von Cem Yildiz auf „Ejma” gehört zum Besten auf der Platte. Sein dunkler, fast hingesprochener Gesang funktioniert fantastisch zusammen mit den treibenden Synths. Allgemein erkennt man eine Gewisse 1980er-1990er-Romantik; alte Kassetten, staubige Synthies, grelle Farben. „Malek Ya Zahri” mit Cheikha Hadjila, der letzte Song des Albums, macht das nochmal eindrücklich klar. Ist aber schön so. Lutz Vössing
Amon Tobin – Long Stories (Nomark)
Der cineastische Soundtüftler Amon Tobin hat sich mit einem Instrument aus den Achtzigern beschäftigt, das klingt wie eine polyphone Spieluhr: dem Omnichord. Gleich zwei LPs sind daraus entstanden: Fear in a Handful of Dust kam im Frühjahr raus, Long Stories jetzt im Herbst. Beide sind überraschend melodisch, Long Stories bietet nur sparsame Bässe und selten mal langsame Beats. Der Sound ist äußerst warm, Tobin hat mehrere „sahnige Analogmaschinen” verwendet, Pre-Amps, Verzerrer usw., und beschreibt das Ergebnis als „in Schokolade eingepackte Magie”. Das könnte schnell im Kitsch enden, aber dem setzt er explizites Sound Processing, Dissonanzen und vielfältige Rhythmik entgegen. Im zweiten Track „Full Panther” bewahren starke Tremolos vor ätzender Süße. Im dritten Track „Sounds Like Moths” tanzen dissonante Melodien wie Motten um das Licht und verschwinden hinter einem Vorhang aus Hall in die Ferne. Trotz aller Störmanöver: Long Stories hüllt ein in eine süße Wolke gegen Herbstmelancholie. Martina Dünkelmann
Boreal Massif – We All Have An Impact (Even Hippies Do) (Pessimist Productions)
Wenn jemand sein Projekt wie der Bristoler Produzent Kristian Jabs Pessimist nennt, dann gehört der Klimawandel für ihn allemal in den näheren Themenkreis. We All Have An Impact (Even Hippies Do) irritiert da zunächst einmal mit dem frontalen Titel, auch weil man nicht ganz sicher sein kann, ob der Einschub in Klammern ironisch gemeint oder lakonische Feststellung ist. Gemeinsam mit Reuben Kramer alias Loop Faction geht Pessimist jedenfalls auf seinem Label Pessimist Productions jetzt unter dem Namen Boreal Massif ökologische Fragen an. Musikalisch begnügt sich das Duo dabei mit Field Recordings als Referenz auf die Umwelt, ohne dass diese Aufnahmen von Schritten, Vögeln oder Vinylknistern selbst eine klar erkennbare Botschaft übermittelten. Sie bilden auch eher das Hintergrundrauschen für die zwölf Nummern dieses Albums, das in Bristoler Tradition an instrumentalen Hip Hop und Bassmusik anknüpft, ohne etwas davon allzu heftig in den Vordergrund drängen zu lassen. Zur Krise tanzen – oder sie wegbassen – ist für Boreal Massif anscheinend keine Lösung. Mehr rhythmisch grundierter Ambient als Clubmusik, liegt über den Stücken eine tiefe Skepsis, die sich das Baden in apokalyptischem Bombast verbietet. Und dieser leicht diffuse, zugleich fein austarierte Zustand des Dazwischen, den Boreal Massif schaffen – Nachdenklichkeit, Trauer, Wut kann man darin hören –, ist viel stärker, als ein Bemühen um größtmögliche Eindeutigkeit sein könnte. Massive. Tim Caspar Boehme
Carla dal Forno – Look Up Sharp (Kallista)
Die in London lebende Australierin Carla dal Forno debütierte 2016 auf dem einflussreichen Label Blackest Ever Black, gegründet vom FACT-Redakteur Kiran Sande. Der fand das Alltagsgeschäft der Clubmusik irgendwann nur noch eintönig und ermüdend. Stattdessen begann sein Interesse nun um Post Punk, Minimal Wave, Industrial, Goth oder Drone-Sound zu kreisen. So war auch Carla dal Fornos erstes Album You Know What It’s Like zu verstehen, nur dass die Australierin noch nie etwas mit Clubmusik zu tun hatte. Inzwischen hat sie ein eigenes Label gegründet, Kallista heißt es, benannt nach der Vorstadt von Melbourne, in der sie aufwuchs. Ihrem minimalistischen und kargen Sound ist sie treu geblieben. Ambient-Sounds bauen sich in Zeitlupe auf, um dann über mehr oder weniger zäh tropfenden Beats zu schweben, dazwischen immer wieder mit Effekten traktiertes Gitarren-Feedback. Ihren Bass spielt Carla dal Forno stoisch, das klingt stets nach Post Punk und Dark Wave. Im Zentrum steht aber ihr fast körperloser Gesang. Look Up Sharp ist ein in sich gekehrtes Album, das die Melancholie regelrecht zelebriert. Die Single „So Much Better” erinnert dabei ein wenig an die Young Marble Giants, der schönste Song dieses herbstlichen Albums ist aber das wunderbare „Took a Long Time”. Holger Klein
Dengue Dengue Dengue – Zenit & Nadir (Enchufada)
Die Masken strahlen wieder. Dengue Dengue Dengue, zwei Typen aus der peruanischen Hauptstadt Lima, klemmen sich die bunt bemalten Dinger vors Gesicht, um sich mit Macheten-Beats eine Schneise durchs lateinamerikanische Unterholz zu schlagen – auf Zenit & Nadir spitzen sie ihre Pfeile, lecken an giftigen Fröschen und trommeln sich im Rausch ins nächste Leben. Die dritte LP von DDD, die mit Bass ausgestopfte Cumbia-Ryhthmen um die Welt tragen, pfeift sich den grausligen Lianen-Cocktail rein. Zu medizinischen Zwecken, natürlich. Und wegen des Heimwehs – Felipe Salmon und Rafael Pereira haben ihren Lebensmittelpunkt mittlerweile von Lima nach Berlin verlegt. Deshalb haben sie sich auf der neuen Platte mit Musikern zusammengetan, die den afro-peruanischen Sound der Vergangenheit ins 21. Jahrhundert beamen. Also: das afrodiasporische Vermächtnis über den Hula-Hoop-Sound der Gegenwart stülpen. Was soll da schon schiefgehen? Rasseln rasseln, Holz klöppelt auf Holz, die Bässe pumpen in rhythmischen Verrenkungen 20 Meter-Wellen in den Pazifik – und kommen doch nicht ganz an die Jetzt-reißen-wir-alles-ein-Extase der letzten Platte ran. Irgendwie auch gut, die Sache langsamer anzugehen. Beim nächsten Mal dann wieder auf die peruanische Zwölf! Christoph Benkeser
Donato Dozzy – 12 H (Presto!? Records)
Ob als DJ oder Produzent, schon jeher baut der Italiener Donato Dozzy unzerstörbare Brücken zwischen den verschiedensten Genres und verbindet so ganze Subkulturen miteinander. Wie unglaublich passend ist es da doch, dass sein neuestes Album 12 H tatsächlich für eine Soundinstallation auf einer Brücke geschrieben wurde! Die Walskelett-artige „Music Bridge – Armando Trovajoli“, benannt nach einem berühmten italienischen Komponisten, spannt sich in 190 Metern Länge über den Tiber im Zentrum Roms. Mit hypnotischen Modulationen, zeitlosen Melodien, klug eingesetzten perkussiven Elementen und dem Stilmittel der Wiederholung schafft Dozzy ein Werk, welches höchsten künstlerischen Ansprüchen genügt. Am ehesten ist es noch mit seinem Voices from the Lake– Projekt mit seinem langjährigen Weggefährten Neel (der übrigens für das großartige Mastering von 12 H verantwortlich ist) zu vergleichen. Doch im Gegensatz zu diesem ist es wirklich gänzlich ungeeignet, es in irgendeiner Form als psychedelische Tanzmusik zu präsentieren. Zu plätscherndem Wasser gesellen sich ab- und anschwellende Synthesizerwellen, choraler Gesang wird vom fernen Brummen eines landenden Flugzeugs abgelöst. Das stete Kommen und Gehen der anspruchsvollen und doch luftig-leichten Klangwelten funktioniert ausgezeichnet als begleitende Musik zu meditativen Übungen an einem kühlen Morgen oder einem langen Spaziergang durch den persönlich favorisierten Stadtpark, um den Kopf freizukriegen. Vielleicht ist durch dieses Album nun endlich eine vernünftige Brücke zwischen Kunst und elektronischer Musik geschaffen worden. Andreas Cevatli
Freedom Engine – A Box Full Of Magic (Dekmantel)
Mathew Jonson gehört zu den ideenreichsten und vielseitigsten Produzenten im Techno-Kosmos. Seine Bandbreite reicht von Primetime-Hits bis hin zu subtilen Listening-Frickeleien. So weit, so üblich heutzutage. Viele Protagonisten der Neunziger sind über die Jahre gereift, ruhiger geworden, mittlerweile weniger an Partymusik interessiert, haben sich Ambient und experimentellerer Musik zugewandt. Jonson allerdings tobt sich schon seit langer Zeit auf verschiedensten Ebenen aus, und seine ruhigeren, Dancefloor-abgewandten Projekte – wie hier als Freedom Engine – erzählen nichts von Älterwerden, Ermüdung, Enttäuschung, Neue-Märkte-Erschließen oder ähnlichem, wie es leider bei vielen, tendenziell beliebig daherkommenden Listening-Konzepten der Fall ist. Im Gegenteil, der Titel A Box Full Of Magic kann durchaus wörtlich genommen werden, denn das Album überrascht und erfreut auf mehreren Ebenen – im strukturellen Verlauf, in seiner Stilvielfalt und, vor allem, durch seine Musikalität und Ideenvielfalt. Oft lassen die Stücke und die verwendeten Sounds, gerade im ersten Drittel des Albums, an Siebziger-Progrock denken, eher assoziativ, nicht durch konkrete kompositorische Analogien. Aber allein schon der Titel! Im weiteren Verlauf wird rhythmisch Electro zum bestimmenden Bezugspunkt, aber immer mit Brüchen und Genregrenzüberschreitungen, krudem Pop und Kraftwerk-Reminiszenzen kombiniert. Mathias Schaffhäuser
Lake Haze – Glitching Dreams (E-Beamz)
Nach nicht weniger als zehn EPs, die der Portugiese Gonçalo Salgado alias Lake Haze seit 2013 auf – hauptsächlich – Unknown To the Unknown und Crème Organization veröffentlicht hat, erscheint sein Debütalbum nun auf E-Beamz, wo es mit seiner postmodernen Melange aus einer Myriade von musikalischen Einflüssen auch sehr, sehr gut hinpasst. Denn neu geschrieben wird die Geschichte hier sicherlich nicht – aber ist das denn überhaupt immer nötig? Eine Rose ist nunmal eine Rose ist eine Rose. Aber solange sie erblüht, ist das sicherlich für niemanden ein Problem. Und so ist auch dieses retrofuturistische Album, auch wenn es die Tonscherben der Vergangenheit – von Electro bis Electronica, von Techno bis House, von Breakbeat und Jungle bis Drum’n’Bass – nur neu zusammenfügt, dennoch ein Triumph in seiner Perfektion – und, ja, Spaß macht es auch. Am ehesten erinnert es in seinem träumerischen Dance-Eklektizismus an Rephlex’schen Braindance. Dieses Mitte der Neunziger von Grant Wilson-Claridge und Richard D. James aus der Taufe gehobene Genre – und von der Sorte gibt es heutzutage eh zu wenig. Und noch ein zweites mal Ja (in diesem Aspekt gehe ich mit Simon Reynolds durchaus konform): im Gegensatz zur meisten tatsächlich neuartigen Musik in letzter Zeit kann man hierzu sogar tanzen. Tim Lorenz