Zu den Mixen des Monats aus dem Dezember 2025 kommt ihr hier, zu Teil 1 der Alben hier.
Ikonika – SAD (Hyperdub)
Man kann sagen, was man möchte, doch das hier ist Pop. Und zwar von der Sorte, wie er mitunter am meisten Spaß macht: als hybride Angelegenheit zwischen Clubmusik unterschiedlichster Spielarten und R’n’B. Ikonika hat im vergangenen Jahrzehnt drei Alben auf Hyperdub mit Clubmusik weitgehend aus dem Hardcore Continuum veröffentlicht. Dieses, mit einigen Jahren Abstand dazwischen, ist das erste, auf dem die eigene Stimme eine entscheidende Rolle spielt. Leiser Gesang, selbstbewusst, aber ohne Emphase, setzt in diesen Nummern, die keine Tracks mehr sind, sondern sehr tanzbare Songs, einen Kontrast zu den Polyrhythmen der Beats und Synthesizer, mit unaufdringlich getragenen, ruhig gehaltenen Melodien. In manchen Stücken wie „Activate” verlegt sich Ikonika auch auf geflüsterten Sprechgesang, vorangetrieben von einem nervös aufgelockerten Rhythmus und Bass-Sounds, die an die energischeren elektronischen Aspekte der Achtziger erinnern. Bloß dass es damals Clubstile wie Gqom noch nicht gab. Auch wenn SAD ein mit vorbildlichem britischen Understatement produziertes und vorgetragenes Album ist: Die Sache schreit nach Klassiker. Tim Caspar Boehme

Mathilde Nobel – Guadirikiri (Nous’klaer Audio)
Mathilde Nobel hat schon immer Musik gemacht, als würde sie nicht komponieren, sondern ein Medium anzapfen. Auf Guadirikiri setzt sie diesen Eindruck fast wörtlich um: Ein Album, das klingt, als hätte jemand das akustische Perzeptionssystem einer Fledermaus in einen Synthesizer implantiert. Keine Stimme mehr, kaum Text, kein klassischer narrativer Halt – stattdessen eine akustische Topografie, die sich an Orten abarbeitet, die für Menschen eigentlich nicht vorgesehen sind. Nobel verbringt ihre Nächte mit Ultraschalldetektoren, Wärmebildkameras, Feldaufnahmen – und man hört es: Guadirikiri ist kein Natur-Sample-Projekt, sondern eine radikal subjektive Übersetzung. Die Fledermäuse sind keine Field-Recording-Kulisse, sondern Ko-Autorinnen, die Frequenzen liefern, die Nobel in organische, schimmernd-biegsame Formen überführt.
„The Founding of B” tastet den Raum ab wie ein Sondensignal. Es geht ab die Nacht. „Chimaera” pulsiert im Zwischenbereich von Club-Sounds und Ambient – ja, das ist möglich. „B Only Lives in the Imagination of Others” ist ein Schwebezustand, der sich immer wieder entzieht. Selbst die melodischeren Stücke wie „I Thought I Lost You” oder „How to Go Under” behalten diesen körperlosen Sog, der eher aus Orientierung als aus Intention entsteht. Wenn Ambient oft in dekorative Weichzeichnung kippt, dann ist Guadirikiri das Gegenteil: eine Musik, die Präzision über Wärme stellt und gerade dadurch berührt. Guadirikiri ist ein Album wie ein Echo-Ortungssystem: unheimlich, schön, hyperpräzise. Ein Werk, das zeigt, wie sich Klang anfühlt, wenn man die eigene Perspektive verlässt – und endlich hört, was sonst nur die Nacht wahrnimmt. Dieses Album ist etwas Besonderes, nicht nur für Klang-Forscher:innen. Liron Klangwart

Robert Leiner – Visions Of The Past (Apollo) [Reissue]
Rückblende ins Jahr 1994: Einerseits war Techno dabei, erwachsen zu werden, das Genre suchte seine kreative Freiheit. Man begann, von „Listening Techno” zu sprechen. Auf der anderen Seite begann der Sellout immer groteskere Blüten zu treiben. Es ist die Zeit stilprägender Alben wie Surfing on Sine Waves von Polygon Window oder 76:14 von Global Communication. Nicht ganz so bekannt ist Visions Of The Past von Robert Leiner, das im Februar 1994 auf dem R&S-Unterlabel Apollo erschienen ist.
Robert Leiner, heute ist er 59 Jahre alt, wuchs im schwedischen Göteborg auf. Dort war er DJ und hatte sich bereits ein Heimstudio aufgebaut. Zu Beginn der Neunziger zog er nach Belgien. Der Anlass war ein Stellenangebot als Studiomanager bei R&S, dem damals vermutlich größten Technolabel weltweit. Man darf wohl annehmen, dass Leiner mit dem neuen Job die Hoffnung verband, selbst auf R&S veröffentlichen zu können. So kam es jedenfalls. Es erschienen eine Reihe erfolgreicher Maxis unter dem Namen The Source Experience. Unter dem Pseudonym Source produzierte er 1993 sein erstes Album mit dem Titel Organized Noise, das Elemente aus Hardcore, Breakbeat, Trance oder Acid mit komplexen Soundscapes verband.
Und dann erschuf Leiner mit Visions Of The Past sein Opus magnum. Heute steht diese Platte in einer Reihe mit klassischen Techno-Alben der frühen bis mittleren Neunziger. Der Opener „Out Of Control” beginnt mit einem Sample aus der US-Science-Fiction-Hörspielreihe X Minus One: „These are stories of the future, adventures in which you’ll live in a million could-be years on a thousand may-be worlds.” Die Stücke der Platte tragen Titel wie „Visions Of The Past”, „To Places You’ve Never Been”, „Dream Or Reality” oder „From Beyond And Back”. Musikalisch unternimmt Robert Leiner eine Reise ins Unbekannte. Ob Vergangenheit oder Zukunft, Traum oder Realität – es verschwimmt. Ein klassisches Ambient-Album ist Visions Of The Past nicht. Dieser rund 70-minütige Trip wirkt umso soghafter, weil sich seine Klangpartikel wie in Zeitlupe bewegen. Dazwischen immer wieder ein fast körperlos wirkender Widerhall jener Sounds, die in der damaligen Clubmusik eine prominente Rolle spielten: Techno, Acid, Trance, Progressive House, was auch immer. Hört euch unbedingt „To Places You’ve Never Been” an. Wie wunderschön ist bitteschön dieser Track? Knapp 32 Jahre später hat er nichts von seiner Faszination eingebüßt.
Und was wurde aus Robert Leiner? Er verschwand erst einmal aus dem Rampenlicht und arbeitete viele Jahre nur noch hinter den Kulissen als Toningenieur. Holger Klein

The Bug vs Ghost Dubs – Implosion (Pressure)
Herzlich willkommen in jenem wüsten Land, wo „tief” nicht „deep” meint, sondern mit „low” übersetzt wird. Der in Stuttgart arbeitende Michael Fiedler, in Bass-Kreisen zuvor bekannt als Jah Schulz und ebenso unterwegs als Teil des Duos Annagemina, hatte bereits im Jahr 2024 unter dem Pseudonym Ghost Dubs das vielbeachtete Ambient Dub-Album Damaged veröffentlicht. Die ebenso hochkonzentrierten wie frei fließenden Rhythmen hatten das Interesse von Kevin Martin alias The Bug geweckt, der sie auf seinem Label Pressure veröffentlichte.
Mit Implosion stoßen nun die Entwürfe von The Bug und Ghost Dubs aufeinander: die durch kaum zählbare Schichten aus Sound kreisförmig rotierenden Dystopien von The Bug reiben sich mit den lebensverlangsamenden, genießerischen, breiten Echokammern von Ghost Dubs. Und weil sie einander entgegenkommen, geht das voll auf.
The Bug eröffnet die als Split-Album kategorisierte LP, doch bereits das Intro-Stück „Hooked (Hyams Gym, Leytonstone)” zeigt, dass sich die beiden vorab auf etwas verständigt haben. Die Anordnung tiefster Frequenzen inmitten von Knuspern und Rauschen klingt für Bug-Verhältnisse reduziert, während Ghost-Dubs-Stücke wie etwa „Hope” oder „Into The Mystic” mit zukunftsskeptischen Spuren angereichert sind, die klingen wie aus dem Mischpult Kevin Martins. Dub geht weiter, und mit diesem dialogischen und spielfreudigen Album müssen wir uns weiter damit beschäftigen. Christoph Braun
