Wie erlebt ein Rockkritiker das weltgrößte Branchen-Event für elektronische Musik? Spex- und Rolling-Stone-Veteran Ralf Niemczyk stimmt sich an drei turbulenten Tagen im Grachtenlabyrinth in seine elektronische Ära ein.
Freitagabend vor dem altehrwürdigen Musikclub Melkweg, der seit Anfang der 1970er-Jahre das damals noch strictly Hippie-mäßige Amsterdamer Nachtleben mitgeprägt hat. Eine funky Raucher-Crowd steht vor dem ehemaligen Fabrikgebäude, dem heftigen Dauerregen trotzend. Es ist erst halb sieben, doch das dicht gepackte Programm des ADE lässt treibende Afrobeat-Partys eben direkt nach Büroschluss stattfinden. Das DJ/Producer/Rapper-Team FS Green und TxC (aus Südafrika) hat die wogende Menge im Griff, nebenan nutzen Nathan Kofi & Fifi das Mischdeck als Tanzpodest. An der Bar werden Biere und Genever in hoher Geschwindigkeit serviert. Hier scheint der Amsterdamer Feierabend bestens gelaunt unter sich. Die Rave-Touristen sind woanders.

Auch in diesem Jahr wirkte das an diesem Sonntag (26. Oktober) mit einigen Rest-Raves zu Ende gegangene Amsterdam Dance Event wie ein stark dosierter Stimmungsverstärker, der verstärkt von US-Techgiganten frequentiert wird. Bereits seit einigen Jahren trägt die als (Public-)Private-Unternehmen geführte Mega-Veranstaltung den Titel der weltgrößten Conference für elektronische Musik. Der über die ganze Stadt verteilte Mega-Aufriss hat schon in den Vorjahren missmutig gestimmte Geister in die Flucht geschlagen, denen einfach zu viel los war. Nackter, brutaler Action-Overload.
Wer allerdings positiv drauf war und gar nicht erst versuchte, sich zwischen Mittwoch und Sonntag einen (Gesamt-)Überblick zu verschaffen, der konnte trotz heftigen Dauerregens im wahrsten Sinne des Wortes in einem Wust von shiny happy people aufgehen. Bereits in der Lobby der Designer-Herberge „VolksHotel”, die sich im ehemaligen Redaktionsgebäude der Tageszeitung „De Volkskrant” befindet, schlug einem ein beswingter Vibe entgegen. Befeuert durch einen Hotel-DJ und die lustige Pop-und-Kunst-Reihe „Knits and Notes”. Eine opulente Strick-Session mit elektronischer Begleitung.
Stricken in Begleitung
„ADE ist zu einem wirklich globalen Treffpunkt für alle geworden, die die Zukunft der elektronischen Musik gestalten”, erklärt eine Mitarbeitende des ADE-Presseteams den anhaltenden Business-Run. „Für Überseemärkte in den USA, Südamerika oder Indien bedeutet dies, dass ADE ein echtes Tor zum europäischen Geschäft und zur europäischen Kultur ist. Die Tatsache, dass so viele verschiedene Märkte, sowohl entwickelte als auch aufstrebende, zusammenkommen, bietet Labels, Vertrieben, Booking-Agenturen, Veranstaltern und Künstlern sehr lukrative Geschäftsmöglichkeiten”, heißt es weiter.

Dieses Angebot benötigt Platz. Wer zum ADE fährt, merkt bald: Die Locations sind locker verteilt zwischen den Stadtvierteln Oost und dem ehemaligen Gaswerk auf dem Gelände des Westerparks. Selbst der riesige Ziggo Dome wurde in einem Mix aus House und Afrobeats mit Acts wie Black Coffee, Desiree, Philou Louzolo & Cincity oder Afrobeat-Spezialistin DJ Meera bespielt.
„In diesem Jahr haben wir eine große Beteiligung sowohl von etablierten Tech-Giganten als auch von zukunftsorientierten Start-ups erlebt”, so der ADE-Pressemensch. „Zu den anwesenden Top-Unternehmen und Plattformen gehörten Google DeepMind, Epic Games, SoundCloud, Spotify, YouTube und viele mehr. All diese Experten halten Insider-Knowledge-Vorträge im Bereich der „ADE Pro”. Man möchte den sogenannten Pro-Mitgliedern damit einen einzigartigen Einblick hinter die Kulissen dieser Vorreiter im Bereich KI und anderer technologischer Innovationen bieten. „Damit sie besser im Reich der Algorithmen klarkommen und ihrem eigenen kleinen oder mittelständischen Unternehmen womöglich einen Vorsprung verschaffen können.”
Auf 50 Hertz durch die holländische Nacht
Der in „Drei Tage Wach”-Dimensionen stattfindende Dauertanz hatte also stets einen merkantilen Hintergrund. Wie einst entlang der Kölner Popkomm oder (mit Abstrichen) bei der Loveparade in Berlin. Wo Menschen zusammenkommen, werden Geschäfte gemacht und es kommt zu erotischen Tête-à-Tête. Gerade in einer calvinistischen Metropole wie Amsterdam, die zu ihrem 750-jährigen Stadtjubiläum das Diktum „Wer hart arbeitet, darf auch feste feiern”, wird dem alle Ehre gemacht.

Die deutsche Beteiligung beim ADE war vorhanden, aber nicht übersichtlich. Der Kölner Ballett-Club Bootshaus war zu Gast. Die Kollegen vom Label Kompakt unternahmen unter Kommando des Label-Kapitäns Michael Mayer eine zünftige Schiffstour mit Schranz und Minimal. Berlins Kit-Kat-Comedienne Stella Bossi wummerte in Begleitung zweier internationaler Agenturen aus Italien und Australien mit dem „Hertz 50 Train” durch die holländische Nacht.
Der Sender Radio Sunshine aus Mannheim berichtete in seiner Funktion als größter privater deutschlandweiter Hörfunksender mit Schwerpunkt „Elektronische Tanzmusik” fleißig aus den Live-Spielorten oder dem Presse-Zentrum im Kontorhaus an der Keizersgracht. Ganz nebenbei bekam man auf diese Weise Einblicke in schicke Stadtpalais, die sonst für vorbei schlendernde Besucher verschlossen sind. Etwa im „Felix Meritis”-Gebäude. Mit dem ADE ist die elektronische Musik in neuen Dimensionen angekommen; in jeglicher Hinsicht.