Sandwell District sind zurück. Mit End Beginnings veröffentlichen David Sumner alias Function und Karl O’Connor alias Regis ein Album mit einem Titel, der gleich auf mehreren Ebenen einen tieferen Sinn hat.
Anfang 2024 verstarb mit Juan Mendez alias Silent Servant nicht nur ein Drittel von Sandwell District und damit eine wichtige künstlerische Säule des kompromisslosen, idiosynkratischen Techno-Projekts, die es musikalisch und nicht zuletzt visuell prägte. Mendez wirkte auch als Kitt zwischen Sumner und O’Connor, deren turbulente Beziehung nicht nur handfeste Verletzungen, sondern auch eine knapp zehnjährige Funkstille nach sich zog, nachdem Sumner nicht zu einem gemeinsamen Auftritt auftauchte.
Es ist der beharrlichen Überzeugungsarbeit Mendez‘ zu verdanken, dass Sandwell District sich wieder zusammenrauften und in den letzten Jahren einige Comeback-Gigs spielten. Nun besteht der Act nurmehr aus Function und Regis, die ohne ihren Freund ein Album veröffentlichen, das diesen ehrt und den Sandwell-Sound erweitert, aber keineswegs als direkter Nachfolger zum ikonischen Feed Forward von 2010 verstanden werden soll.
Spricht man mit Sumner und O’Connor, versteht man schnell, wie es zu einem langwierigen Zerwürfnis zwischen den beiden kommen konnte. Noch während Sumner wohlüberlegt und teilweise etwas karg antwortet, fällt ihm O’Connor locker zweimal ins Wort und überschlägt sich in seinen Sätzen mit Gedankensprüngen und druckreifen Zitaten.
So sehr sich die beiden in ihrem Naturell unterscheiden mögen, so sehr sind beide das, was man im englischen Sprachraum euphemistisch als Prankster bezeichnen würde. Function und Regis haben einen grenzüberschreitenden Hang zum Morbiden, der eine von Geniekult, Ehrgeiz und als Zuneigung getarnter Aggression geprägte Männerfreundschaft auf eine harte Probe stellen kann. Gelebte, fruchtbare Rivalität, die groteske Ausmaße annimmt.
Anfang März schalten sich beide leicht verspätet zum für sie letzten Interview eines langen Pressetages zu. Function lümmelt aus Ermangelung eines Schreibtischs auf dem Bett, während sich Regis‘ Gesicht nah an der Kamera befindet. Beide wirken so auf ihre Weise bereit für ein langes Gespräch, das sich um ihre Beziehung zueinander, die Wiederkehr von Sandwell District, den Zustand elektronischer Musik und den Tod ihres Freundes dreht.
GROOVE: Wie geht’s euch beiden?
Regis: Gut! Wir sind beide in New York und haben ein anstrengendes Wochenende hinter uns. Und nun steht das letzte Interview an.
Function: Wir haben am Wochenende im Nowadays für eine Party von Sustain-Release gespielt, von 8 Uhr morgens bis 12 Uhr, und dann ein In-Store-Set bei Boom Service Records. Das Feedback war super.
Regis: Ich habe Dave hier 1996 kennengelernt und hier etwa zehn Jahre gelebt.
Function: Das war unser erster gemeinsamer Auftritt in New York seit 16 Jahren.
Regis: Hat das echt so lange gedauert?
Wie viele Comeback-Gigs habt ihr schon gespielt, seit ihr das Album angekündigt habt?
Function: Das war der Fünfte oder so.
Regis: Wir hatten das Comeback nicht von langer Hand geplant, deswegen freut uns das Interesse umso mehr. Und Lust drauf hatten wir ohnehin, wenn man sich die Szene gerade so ansieht. Warum also nicht?
Es gibt auch Comebacks, die nicht so gut funktionieren. Bei euch scheint es gut zu laufen.
Regis: Wir machen das in dem Glauben, das Richtige zu tun. Besonders wegen Juan. Ich wusste gar nicht, was wir einer bestimmten Generation von Ravern noch bedeuten. Als wir das Reissue von Feed Forward ankündigten (2023, d.Red.), hat mich die Resonanz überwältigt. Ich dachte nicht, dass sich nach all der Zeit wirklich noch jemand daran erinnert, vor allem weil sich so extrem viel verändert hat. Es ging dabei gar nicht darum, wieder einen Platz im Zentrum der Technoszene zu beanspruchen. Es ging darum, uns rückzuversichern, wer wir waren. Das haben wir erfolgreich geschafft.
Function: Das Comeback lief in Phasen ab. Zuerst das Feed Forward-Reissue, dann die Where Next?-Compilation und nun das neue Album. Heute kam dieser große Artikel auf Resident Advisor raus.
Regis: Wir sprechen hier nicht über andere Magazine! Wir und auch ich haben eine lange Geschichte mit der GROOVE.
Schon ok, ich habe den RA-Artikel auch gelesen.
Regis: Die deutschen Medien waren für mich sehr wichtig. Vor allem für Downwards. Die haben zuerst darüber berichtet.
Wieso, glaubst du, war das so?
Regis: Wahrscheinlich wegen der Industrial-Ästhetik. Ich komme aus Birmingham, die Deutschen haben das verstanden. Dort gab es so was wie die Einstürzenden Neubauten ja schon. Auch einer meiner ersten Gigs war in Deutschland. Und ich habe fast zwölf Jahre in Berlin gelebt. Wenn ich dort bin, fühle ich mich noch immer, als würde ich nach Hause kommen.
Function: Als ich das erste Mal nach Berlin kam, hatte ich ein Gefühl von Freiheit. In New York steht zwar die Freiheitsstatue, aber wirkliche Befreiung habe ich in Berlin erfahren. Bars mussten zu keiner bestimmten Uhrzeit schließen. In New York und den Staaten gibt es so viele Einschränkungen. Die deutsche Szene war für mich immer ein Fokuspunkt. Dort sind die Leute mit Übertragungen der Loveparade aufgewachsen, in den Staaten hatten wir so etwas nicht.
Regis: Dave zog nach Berlin, als ich schon hier wohnte, und wir beschlossen ein Label zu starten. Ohne Berlin hätte es das Projekt Sandwell District nicht gegeben.
Waren die Einstürzenden Neubauten ein großer Einfluss für dich?
Regis: Hundertprozentig. Auch jetzt noch, weil sie eine ältere Band sind, die nicht nur ihr Erbe verwaltet. Viele Bands, die ich mag, waren, so lange ich sie verfolge, länger scheiße als gut. Die gibt es seit 40 Jahren, und sie sind seit 25 Jahren kacke. Das wollten wir mit unserem Comeback auch vermeiden. Man muss eine gefestigte Idee davon haben, wie man das angeht.
Habt ihr euer Comeback richtig durchstrukturiert?
Regis: Das lief seltsam ab. Ein Freund aus der Musikindustrie ließ mich wissen, dass Mark Lanegan [Sänger der Grunge-Band Screaming Trees, d.Red.] mit mir sprechen und eventuell mit mir zusammenarbeiten will. Er mochte die Sachen, die ich für Tropic of Cancer gemacht habe.
In den Zehnerjahren?
Regis: Ich habe das Album auf Blackest Ever Black [Restless Idylls, d.Red.] produziert. Als wir ins Gespräch gekommen sind, stellte sich heraus, dass er sich mit Underground-Techno auskennt. Das hätte ich von einem Freund von Kurt Cobain und einer der wichtigsten Figuren des Grunge nicht erwartet. Er hat Basic Channel, Sandwell District, Underground Resistance verstanden. Mich hat fasziniert, dass jemand, der mit Lou Reed oder Iggy Pop…
Function: … oder Anthony Bourdain … (lacht)
Regis: … essen ging, sich mit Sandwell District auskennt. Im Zuge unserer Freundschaft hat er immer wieder versucht, mich vom Comeback zu überzeugen.
Hattest du auch Comeback-Pläne, David?
Function: Ich wusste, dass sich unsere Wege wieder kreuzen würden. Aber wir hatten seit fast zehn Jahren nicht miteinander gesprochen. Juan hat zwischen uns vermittelt. Die Rivalität zwischen Karl und mir war auch für unseren Freundeskreis schwierig. Viele fühlten sich so unwohl damit, dass Karls Kontaktversuche gar nicht erst an mich weitergegeben wurden. Manche dachten auch, sie seien ein Witz. Karl meinte nämlich, dass wir einen Major-Deal hätten und die Gruppe wieder zusammenbekommen müssten.
„Wir haben Minimal beobachtet, das Genre aber nicht angenommen”
Function
End Beginnings wird von [PIAS] vertrieben. Wie kam der Deal zustande?
Regis: Über Mark Lanegan und unseren gemeinsamen Freund, den er mir für das Projekt empfahl.
Function: Es dauerte an die eineinhalb Jahre, bis das zu mir durchdrang und die Reunion sich herauskristallisierte. Juan hat mir von dem Angebot erzählt, Feed Forward wiederzuveröffentlichen. Das fand ich faszinierend. Auch weil unsere Reichweite immer über den Dancefloor hinausging. Wir haben schon damals ein Publikum erreicht, das im Techno niemand sonst erreichte: Noise, Black Metal, Death Metal und alles dazwischen.
Wie habt ihr das geschafft?
Regis: Durch die Kombination aus uns Dreien. Es ging um mehr als Musik. Juans visuelle Identität, die einen L.A.-Punk-Einfluss einbrachte. Alles fing mit einem Blog an, in dem wir unsere Einflüsse sammelten. Dieses Nebeneinander von Sachen wie den Neubauten oder D.A.F. war nicht im herkömmlichen Sinne originell, in dem Moment hat es aber viele Reaktionen hervorgerufen. Wir haben einen Nerv getroffen.
In welchem Zustand war Techno, als ihr auf der Bildfläche erschienen seid?
Regis: Ich war damals schon 20 Jahre dabei und hatte – wie Dave auch – alles von Anfang an miterlebt. Techno war für mich zu Beginn ein Musikformat, das nicht korrumpiert werden konnte. Die Majors verstanden gar nicht, was das war. Es konnte nicht kommerzialisiert werden. Und diese repetitive, experimentelle Musik wurde auch noch von Kids produziert, war also durch und durch der Beginn von etwas Neuem. Es gab dafür ein Publikum, das traditionelle Noise- oder Experimental-Musik nie hatte. Dann kamen die späten Neunziger und die frühen Zweitausender, und etwas anderes passierte. Ich hatte nie etwas gegen Minimal, fand vieles daran sogar interessant. Ich war nur dagegen, alles davor abzulehnen, was man mit dem Namen des Genres ja tat. Viele Minimal-Producer haben Dave gegenüber übrigens gesagt, dass seine Synewave-Veröffentlichungen Mitte der Neunziger eine Art Blaupause für sie waren.
Function: Wir haben Minimal beobachtet, das Genre aber nicht angenommen.
Weil ihr eine gewisse Rohheit vermisst habt?
Regis: Weil es unterwürfig auf die Kommerzialisierung zusteuerte. Und doch brachte es viele Menschen auf Dancefloor, die zuvor marginalisiert waren – besonders Frauen. In den Neunzigern habe ich dort keine Frauen gesehen.
Ah ja?
Regis: Wirklich. Abgesehen von DJs wie Acid Maria oder Electric Indigo. In den Zweitausendern kamen viele neue Menschen in die Szene.
Wie war es für euch, sich nach zehn Jahren Pause wiederzusehen?
Function: Als Juan mich erstmals wegen des Reissues kontaktierte, war ich zögerlich. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich auf eine Gelegenheit warten solle, um persönlich zu sprechen. Im November 2022 spielte Karl eine Eros-Show im Globus, ein Showcase für die Sonnenbrillen-Marke Kuboraum. Dafür kam ein gemeinsamer Freund von uns aus Rom in die Stadt. Der schrieb mir, ich solle ihn im Globus treffen. Ich war mir nicht sicher, ob ich hingehen sollte, und war nervös. Intuitiv wusste ich aber, dass das der richtige Moment ist. Ich habe nach der Performance einen Mitarbeiter des Clubs gefragt, ob er Karl Bescheid geben könne. Nach anderthalb Stunden wollte ich gehen, als ich ihn auf der Bühne beim zusammenpacken sah. Das war ein unglaubliches Wiedersehen.
Regis: Es hat David sicher viel Mut gekostet, mich anzusprechen. Nach allem, was wir durchgemacht haben. Das war mehr als widerspenstiges Verhalten. Wir hatten körperliche Auseinandersetzungen und sind blutend auf die Bühne gegangen. Dave hatte nach einem Streit mal eine ausgekugelte Schulter.
Function: Die Schulter war gebrochen. Das war auf dem Awakenings.
Regis: Und ich hatte überall Blut. Das Problem ist: Ich würde das gerne auf unseren jugendlichen Leichtsinn schieben. Aber wir waren nicht besonders jung.
„Wir alle kennen diese unerträglichen Leute, die anderen den Tag verderben. Wir sind aber nicht so, bei uns nehmen nie Dritte Schaden.”
Regis
Jetzt seid ihr ja nochmal zehn Jahre älter. Aber auch damals wart ihr keine Teenager.
Regis: Wir haben inzwischen gelernt, mit dieser Spannung besser umzugehen. Sie ist immer im Raum, aber sie hat auch was Gutes. Es gibt auch Leute mit Managern, die das abfedern. So was hatten wir nie, wir standen immer an vorderster Front. Ich dachte mir immer: Wenn du deinen eigenen Arsch abwischen kannst, brauchst du auch keinen Manager.
Könnt ihr aus heutiger Perspektive erklären, wieso ihr damals solche…
Regis: … Idioten wart? Wir sind schlicht sehr unangenehme Menschen. Dave ist aus Brooklyn.
Das wäre die nächste Frage gewesen: Liegt es vielleicht auch an den Unterschieden zwischen Briten und Amerikanern?
Function: Klar bin ich aus Brooklyn, aber er ist aus Birmingham.
Regis: Natürlich ist das auch ein englisch-amerikanisches Problem. Dave ist allerdings auch Halb-Ire. Wir streiten wegen allem Möglichen. Zum Beispiel, welcher der beste Nintendo oder die beste PlayStation ist. Oder wir streiten uns über Lou Reed in einer Hotelrezeption. Ich weiß, das klingt fürchterlich. Wir alle kennen diese unerträglichen Leute, die anderen den Tag verderben. Wir sind aber nicht so, bei uns nehmen nie Dritte Schaden.
___
Im zweiten Teil des Interviews sprechen Function und Regis unter anderem über den Produktionsprozess von End Beginnings, den Zustand der elektronischen Musik und ihren verstorbenen Freund Silent Servant.