Dieser Beitrag ist Teil unseres Jahresrückblicks REWIND2024. Alle Texte findet ihr hier.
Wieder ein Jahr rum, auch auf dem Dancefloor und in der immer aufgeblähteren Podcast-Sphäre. Damit ihr zumindest ein wenig den Überblick behaltet, haben wir euch zehn erinnerungswürdige Sets aus der Unübersichtlichkeit gefischt.
Aurora Halal – Nachtiville 2024 (Nachtipod)
Schön war’s mit dir, Nachtiville! Nach nur zwei Ausgaben ist das Festival am Weissenhäuser Strand Geschichte. Eines der letzten Sets dort spielte Aurora Halal, die auf der Urwaldbühne The Tangle die Plastikflora und -fauna mit Leben füllte. Wo sonst vordergründig partytauglicher Gute-Laune-House lief, sorgten .Vril und die New Yorkerin auf der Zielgeraden des Festivals für stundenlange Selbsterkundungstrips.
Nach 40 Minuten tech-housigem Aufbau knüppelt Halal der Menge Special Requests Breakbeat-Monster „Vortex 150” zwischen die Beine. Und auch nach dieser Zäsur passt jeder Track, ob Techno oder House. Die Künstlerin spielt aus einem Verständnis für den Groove heraus, aus dem sie kaum bis gar nicht ausschert. Das goutiert das Publikum, das sich dem Fluss fügt und an den richtigen Stellen mit verlangendem Gejohle reagiert. Maximilian Fritz
Batu @ The Lot Radio 05-24-2024
Breakbeat-Gralshüter Batu startet mit meditativen Dubtracks der Basic-Channel-Schule in das Set, das vor fünf Tagen bei The Lot Radio in Brooklyn zu live hören war. Mit Dorisburg & Efraim Kent wird der Mix um einen ungewöhnlich subtilen Tech-House-Moment erweitert, der sich gleich wieder in einer ambientösen Reggae-Stimmung auflöst.
Diese Zwei-Schritte-vor-und-ein-Schritt-zurück-Dynamik zieht sich durch das gesamte Set und sorgt für viele unterhaltsame Momente: Mit Atmos Blaq legt Batu einen spacigen Amapiano-Schlenker hin, dBRn liefert angenehm unterkühlten, ungewöhnlich angstfreien Electro. Ynfynyt Scroll gibt einer an Innervisions erinnernden Dachterrassen-Laune eine aufgekratzte, trippige Note.
Beide Pole werden kongenial von Dotorado Pro aus Lissabon aufgenommen, die Ekstase des Hochsommers überfordert die Sinne und lässt sie ins Psychedelische kippen. Die wundervoll ausbalancierten Breakbeats von Arkajo sorgen für einen Moment der Ruhe, Stanislav Tolkachev für ein Aufflackern technoider Manie. Auf der Zielgeraden lässt Batu mithilfe von Convextion über detroitige Verschrobenheit stolpern, um auf der charmanten Popnote von Drum’n’Bass-Head Breakage zu enden. Alexis Waltz
Byron Yeates – Truancy Volume 324 (Truants)
Byron Yeates steigt in seinen Truants-Mix mit einem Trance-Banger von Maji Na Damu von 2001 ein. Dort fängt paradoxerweise ein ungewöhnlich nüchterner, geradliniger Ansatz eine unnachahmlich berauschte, entgrenzte Stimmung ein. Diesen puristischen Faden spinnt der Macher des Labels Radiant Love weiter, indem er aus den bisweilen recht überladenen Tracks nur kurze, bisweilen gar geloopte Elemente nutzt. Von Paramida & E-Talking kommt ein psychedelisches Stimmengewirr, von Blue Noise ein einziger pulsierender, hypnotischer Ton, von Luuk van Dijk ein slicker, zurückgelehnter Basslauf mit 70s-Rock-Vibes.
Yeates’ Mix ist nicht allein so fesselnd, weil er uns auf einen ungewöhnlich stilsicheren Trance-Trip schickt. In die so effektiven wie puristischen Grooves ist von Anfang an ein Gegengewicht eingebaut, eine housige Wärme, die unerwartet unverhohlen daherkommt und nicht mal soulige Vocals scheut. Exemplarisch für diesen Pol steht im Mix „Grace Traxx (Twilo Dub)”. Das Deep-House-Stück mit Wild-Pitch-Anmutung der Murk-Mitstreiter Krome Tracks von 1996 bildet einen ersten Höhepunkt und nimmt das Spiel mit Vocalschnipseln von Paramida & E-Talking von Anfang an auf. Einen zweiten Peak bildet die derbe Tribal-Nummer von Onionz & Tony, hymnisch geht es auf „Fading Desires” von DJ Paradiso zu und für den gänzlich gelösten, discoiden Schluss sorgt kein geringerer als Jex Opolis. Alexis Waltz
Chami – Reclaim Your City 580 (Reclaim Your City)
Wenn Chami nicht gerade seinem Partner OPH gegenübersteht und im Face 2 Face „spezielle Energien” erzeugt, die Clubs wie das Berghain oder das Bassiani in Schwingungen versetzen, spielt der französische Wahlberliner seine DJ-Sets auch mal alleine. So etwa für die Podcast-Reihe Reclaim Your City, deren 580. Ausgabe er mit zwei Stunden Techno füllt.
Und zwar mit ausgezeichnetem Techno vom Vinyl, dem der Groove nicht abhandengekommen ist. Der die kritische 140-BPM-Marke kaum überschreitet und die Kick nicht zur alles dominierenden Hauptdarstellerin macht. Denn da ist mehr: Hi-Hats, die für ein paar Takte zischeln, Claps, die die Maschinenmusik menscheln lassen, und Bleeps und Stabs, die Orientierung geben in diesem Moloch, es zugleich dynamisieren. Die zweite Stunde gerät mit schweren Strings und vereinzelten Vocals intensiver, ohne an Verspieltheit einzubüßen, quasi ein Closing ohne Konzessionen an die Zweckmäßigkeit.
Als Teil des Kollektivs Minijob veranstaltet Chami illegale Raves im Berliner Umland mit. Und auch wenn diese aufgrund der zunehmenden Nachfrage seiner DJ-Künste weniger geworden sein dürften, so klingt seine Interpretation von Techno unweigerlich informiert vom Deinstitutionalisierten: roh, entfesselt, eigenwillig. Maximilian Fritz
Chlär – S300 (Awakenings Podcast)
Als wichtigen Meilenstein seiner künstlerischen Laufbahn bezeichnet der aus der Schweiz stammende DJ und Produzent Chlär diesen groovigen Techno-Mix. Wie schon im Boiler Room Ende 2023 verarbeitet er viel unveröffentlichte Musik von sich selbst. Musik, die auch auf seinem Label Primal Instinct erscheinen wird, dessen Namen schon vermuten lässt, in welchen Registern hier die Töne angeschlagen werden.
Stets bemüht, die tribalen und archaischen Instinkte wachzurufen, schlängelt sich der einstündige Mix mit eigenständigen Grooves und knarzigen Sounds über den virtuellen Dancefloor. Doch die unverbrauchten und futuristischen Klänge der Percussions und Synthies zeigen zugleich, dass Chlär keineswegs reaktionär vorgeht, sondern ebenso die Zukunft im Blick behält. Obwohl Chlär mit drei bis vier Decks seinem Handwerk nachgeht, bekommen die Grooves ihre Zeit, sodass der organische Mix trotz des satten Sounds immer aufgeräumt wirkt. Heraus stechen in dieser Gemengelage unweigerlich die leicht kitschigen Vocals mit Call-and-Response-Momenten am Ende der Stunde. Ungewöhnlich, aber irgendwie entwaffnend. Ein schöner Schluss. Julian Fischer
Claudio PRC – Deepartment (Refuge Worldwide)
Kurz vor Erscheinen seiner neuen EP Drifting Northward gibt Claudio PRC am 15. Mai noch eine Stunde Ambient-Dub-Techno in seiner Show Deepartment auf Refuge Worldwide zum Besten. Trotz einer Stunde Spieldauer lässt sich der Italiener in diesem Set viel Zeit und baut die Dramaturgie langsam auf. Kaum merklich, in kleinen Schritten wird ein Spannungsbogen ohne viel Auf und Ab konsequent durch das ganze Set gezogen. Man braucht also anfangs ein wenig Geduld. Doch gibt man den zeitlos schwebenden Klangflächen sowie den perkussiven und experimentellen Elementen die Zeit, wird man mit einer immersiven Reise belohnt.
Dabei verschiebt sich im Verlauf der Fokus vom verträumten Zuhören zum Drang, den Körper in Bewegung zu bringen. Klarer Höhepunkt ist die ein wenig düstere und treibende Bassline in „Wild Sign” von Doctrina Natura ab Minute 40, die elegant von einer unbedrohlich-sanften Synth-Melodie kontrastiert wird. Neben weniger bekannten Künstler:innen wie Rainsoft mit „Nature Resonance” sind mit Donato Dozzys & Nuels „Aqua 8” auch die Größen der Szene vertreten. Claudio PRC beendet das Set mit dem eigenen Track „Low Tide”, der kürzlich auf seinem Label 012 erschienen ist. Julian Fischer
Eris Drew – Eris Drew’s Mystery of the Motherbeat Part 2
Das Schöne am Mix-Format ist, dass sich Künstler:innen gänzlich frei entfalten können, ohne jegliche Erwartungshaltung einer feierfreudigen Menschenmenge oder zeitliche Begrenzung der Sets, mit der sich DJs oftmals konfrontiert sehen. Wobei es bei Eris Drew eigentlich nie so etwas wie Grenzen und Regeln zu geben scheint. Die in Chicago lebende gebürtige Australierin nahm sich für die Fortsetzung ihres 2018 veröffentlichten Mix „Eris Drew’s Mystery of the Motherbeat Part 1 (formerly Her Damit)” die Zeit und Muße, in einer konzentrierten, erfahrenen und meditativen Art und Weise ihre, laut Drew, schönsten Platten zu kuratieren.
Der zweite Teil verführt zur Melancholie, zum Zu- und vor allem Hinhören. Gleitende Pads, wohlige Basslines und heilbringende Vocal-Chops bestimmen die Richtung, während man zwischen träumerischen House- und Breakbeats schwebt. Stilistisch gehen die kontemporären Tracks über den Mix hinweg ein feinfühliges Call & Response-Wechselspiel mit Musikstücken aus den Neunzigern ein. Die dadurch entstehende eigene Dynamik setzt sie in einen modernen Kontext. Mit einem Moby-Remix von Brian Enos „Fractal Zoom (Mary’s Birthday Mix)” lässt Eris Drew die erste Stunde auslaufen, um mit einem dubbigen Paukenschlag die zweite und gleichzeitig schnellere Sektion einzuleiten.
Tanzbar, durchdacht und ein Zeugnis von Drews Fähigkeiten hinter den Decks. Schlussendlich ist der Mix wie ein köstliches Aufatmen, der die Sonne durch die tiefhängende Wolkendecke unserer Gemüter brechen lässt. Leon Schuck
J.A.Z. – H.A.N.D. MIX 060 : J.A.Z. Part 2 (Sound Metaphors)
Es ist noch unklar, ob es sich beim gegenwärtigen Italo-Disco-Revival um eine Erfindung der arte-Redaktion handelt oder ein echtes Phänomen. Wem aktueller Techno, House, Trance oder Breakbeat zu hektisch, zu puristisch und zu spaßbefreit daherkommen, der ist in jedem Fall hier richtig. Der DJ aus dem Umfeld des Berliner Plattenladens Sound Metaphors versammelt einen irrwitzigen Mix obskurer Fundstücke, das von einem „Miami Swing”-Cover von Vanilla Ices „Ice Ice Baby” zu einem obskuren Reggae-Nebenprojekt des deutschen Eurodance-Acts RealMcCoy reicht. J.A.Z.’ Genialität liegt nun darin, dass kein Digger-Gruselkabinett entsteht, sondern ein konsistenter Mix, der ebenso mellow wie humorvoll ist und sich über drei Stunden hinweg behutsam von 95bpm auf 115bpm steigert. Alexis Waltz
Ryan Elliott – Have Faith (Faith Beat)
„Have Faith ist ganz anders als ein typischer Club-Mix”, erklärt Ryan Elliott im GROOVE-Interview. „Es ist in erster Linie eine Compilation. Ich habe Musik von verschiedenen Leuten gesammelt und musste aus den Tracks einen sinnvollen Mix machen. Wenn der Song sechs oder sieben Minuten lang war, musste ich ihn auf zwei bis drei Minuten kürzen, ohne die Essenz zu verlieren. Das war schwer. Jetzt ist der Mix circa 75 Minuten lang – ohne die Edits wären es vier Stunden gewesen.” Viktor Meier, Alexis Waltz
Konduku RA.967 (Resident Advisor)
„I wanted to have a coherent mix that I’ll still enjoy listening to in five years”, sagt Konduku über seine anderthalb Stunden für Resident Advisor. Zwar erschien das Set erst im Dezember, den Zeittest dürfte es aber trotzdem bestehen. Während vielerorts Tech-House- und Minimal-Revivals verzweifelt herbeigeschrieben und also auch -gewünscht werden, legt Ruben Üvez einfach mal los. Und zeigt einmal mehr, was den Nous’klaer-Künstler als Producer und DJ auszeichnet: Geduld, Tiefsinnigkeit und ein Hang zur Psychedelik, der auf der Tanzfläche keine Klischees bemühen muss. Mit ausladenden Übergängen frönt der Niederländer seiner Interpretation von Techno, die sich nicht durch unerbittliches Kick-Geballer, sondern durch einen immer intensiver werdenden, vom Bass bestimmten Groove auszeichnet. Maximilian Fritz