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Motherboard: Mai 2024

Für den italienischen Produzenten Lorem wird der Pop nach dem Club tendenziell von Glitch und IDM suspendiert, bleibt aber ebenfalls auf der experimentellen, ausprobierenden Reise zu etwas Neuem im Altbewährten. Mit genderfluid hoch- und vor allem runtergepitchten Vocals und nervös an den Rändern abbröckelnden, mürben Beats in hochauflösender 4K-Produktion bringt Time Coils (Krisis Publishing, 26. April) Sound-Ideen und Traditionen zusammen, die ausreichend Erinnerungspotenzial an die Neunziger anbieten und doch woanders hinwollen, nach Aufbruch und Zukunft klingen. Nach einer Zukunft allerdings, die schon immer leicht korrodiert unter dem KI-generierten Neonpanzer aufscheint. Eine Zukunft, wie sie sich Cyberpunk und Vaporwave erahnten, ohne die Mittel, sie adäquat Wirklichkeit werden zu lassen. Lorem kann das natürlich ebenso wenig, räumt aber immerhin einen neuen Pfad der Vorstellung frei, der dahin führen könnte.

Die Genauigkeit und Trennschärfe digitaler Sounds mit einem klassisch besetzten Orchester wiederzugeben, birgt so einige Stolperfallen. Dass es aber einer Künstlerin mit einer derart klaren Vorstellung von Akustik und Klang wie Aïsha Devi gelingen würde, ihre Vision mit dem BBC Concert Orchestra mit Mehrwert und auf interessante Weise umzusetzen, kam nun auch nicht gänzlich unerwartet. Aethernal Score (Houndstooth, 3. Mai) übersetzt Devis freigeistige Flummi-Elektronik in eine zusammenhängende symphonische Suite und gibt eine elektronische Variante als Vergleichsgröße gleich mit. Das ist mehr als ordentlich mit instrumentalem Pathos aufgeladen, wobei Pathos und Punch Devis Stücken ja nie fremd waren. Hier werden sie zu Werkzeug, Mittel und Zweck. Sich zu verlieren im fetten Sound, nie war es einfacher. Und doch bleiben die Lücken, diese entsetzliche, wunderschöne Leere, ohne die der ganze orchestrale Bombast nichts wäre. Überhaupt nichts.

Dass radikale Improvisation mitunter in entspanntem Dub-Funk enden kann, ist eher nicht so überraschend. Vor allem wenn man wie im Fall des Torontoer Gitarristen Craig Dunsmuir nach mehr als 20 Jahren des avancierten Soloexperimentierens anfängt, in Post- und Kraut- und Dub-Rock-Kombos zu spielen und mit Projekten wie Glissandro 70 oder Off World explizit elektronisch zu agieren. Das jüngste Artefakt dieser Art von innerer und äußerer Öffnung ist Dunsmuirs lokal-globale Dun-Dun Band, eine Art Supergroup aus Jazz- und mehr Musiker:innen aus Toronto und Umgebung. Die kommt auf Pita Parka Pt. 1 : Xam Egdub (Ansible Editions, 3.Mai) so gänzlich unverkrampft und quasi natürlich in einem relaxten, groovigen Bigband- und Rock-Sound an, der die Jazz-Funk-Fusion der Siebziger wohl verstanden hat, jede Menge Dub, Hip-Hop und wohl auch House gehört hat und mit angenehmem Understatement zu einem warmen, organischen Instrumental-Jazz gerinnt, der genauso gut zu Pop werden kann. Also ein Ansatz, wie ihn hiesig etwa die Projekte um The Notwist pflegen, zum Beispiel die Hochzeitskapelle, deren von Sängerin Enid Valu verstärkte EP We Dance (Alien Transistor, 22. März) im tollen 10-Inch-Vinylformat in diesem Zusammenhang unbedingt erwähnt werden möchte. Vier ausgesuchte Coverversionen von nur halb vergessenen Indie-Perlen.

Als nordischer Kosmopolit ist Erlend Øye wohl quasi zwangsläufig dem sonnenwarm mediterranen Leben zugetan. Seit einiger Zeit auf Sizilien wohnend, hat er das nun in seiner Musik reflektiert, wie sollte es anders sein. Mit den lokalen Musikern von La Comitiva und einigen Gästen aus seiner Berliner Zeit hat das sehr entspannte, sehr smoothe und sehr, sehr gut gemachte gleichnamige Album La Comitiva (Bubbles, 17. Mai) produziert und besungen, dessen Hauptüberraschung nicht in der mediterranen Leichtigkeit und Wärme besteht (als ob das eine Überraschung wäre), sondern darin, gerade nicht den wieder mal sehr angesagten Italo-Pop oder andere spezifisch italienische Stile oder Folklore zu zitieren, sondern eher lateinamerikanische wie Bossa Nova, Cumbia, Tropicalismo (in entspannt und weit weniger schweißtreibend) und den hiesigen Jazz der Sechziger und Siebziger. Sehr lässig.

Das paneuropäische Trio Yayoba aus den Provinz-Mittelstädten Turku, Brighton und Wiesbaden agiert analog-elektronisch und akustisch. Als Solokünstler Baldruin, Uton und F. Ampism sowie im Duo Grykë Pyje haben sich diese drei reichlich eigenwilligen Charaktere bereits eine je eigene Nische im Reich der freien Freak-Elektronik erarbeitet. Zusammen spielen – wenn auch Remote via Filesharing – bedeutet dann eben, sich zusammenzureißen und etwas Gemeinsames und Kohärentes abzuliefern – was sie mit dem üppigen A Maze Of Glass (Not Not Fun, 3. Mai) aufs Beste erreicht haben. So treffen klassische Modularsynthesizer-Hüllkurven auf klappernde Percussion und prozessierte Field Recordings auf eine imaginäre Meta-Weltmusik. Und klischeefreie Neo-Exotica in etwas zu transferieren, das in Momenten beinahe spirituell-jazzig wird, jedenfalls immer frei und einfallsreich.

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