Anetha – Mothearth (Mama told ya)
Es gibt einiges zu feiern im Hause Mama told ya. Den fünften Labelgeburtstag, neun sehr starke Releases für die Diskotheken dieser Welt und das zum Doppeljubiläum erscheinende Debütalbum der Hausherrin persönlich. Dabei verdingt sich Anetha längst nicht mehr nur als bemerkenswerte DJ und Produzentin, sondern avancierte in den letzten Jahren zunehmend zum inszenatorischen Gesamtkunstwerk. So greifen Musik, Performance, Outfits und Design perfekt ineinander und lassen die Französin nicht nur musikalisch, sondern auch visuell aus der Masse herausstechen.
Nun sind Debütalben von Club-Musiker:innen immer eine spannende Sache: Gelingt es, das altbewährte musikalische Konzept auf Albumlänge zu übertragen und obendrein vielleicht noch mit konzeptueller Bedeutung aufzuladen, oder verabschiedet man sich von den tanzbaren Gefilden und verschreibt sich vermeintlich künstlerisch wertvolleren Erzeugnissen? In diesem Fall kann Entwarnung gegeben werden, denn Anetha bleibt sich treu und liefert eine LP über zehn Tracks, die nicht nur durchweg clubtauglich sind, sondern obendrein auch noch innovativ und abwechslungsreich. Von Trance beeinflusster Techno auf höchstem Niveau driftet dabei mitunter ins Psychedelische ab und unternimmt hier und da einen Ausflug auf die groovigere Seite des Spektrums. Inhaltlich wird versucht, das ganze auf Themen zu münzen, die die Künstlerin bewegen und beschäftigen. So sollen sich die Tracks mit Aspekten wie Nachhaltigkeit, toxischer Männlichkeit oder Selbstakzeptanz auseinandersetzen. Dies geschieht vor allem durch Vocalfetzen von Anetha selbst, die immer wieder eingestreut werden. Ansonsten bleiben die thematischen Bezüge oftmals ein wenig nebulös. Das ist allerdings nicht weiter schlimm, denn musikalisch überzeugt Mothearth auf ganzer Linie. Till Kanis
As One – Reflections (30th Anniversary Edition) (Lapsus Perennial Series) [Reissue]
An dieser Stelle muss ich ein Geständnis machen – ich komme vom Jazz, Soul und Funk. Im Jahr 1993 hatte ich mich tief in die Plattenkisten der Black Music gegraben und entdeckte neben Alice Coltrane und Pharoah Sanders auch die nicht so prominenten Artists wie Stanley Cowell, Doug & Jean Carne oder Kellee Patterson auf kleinen Indie-Labels wie Black Jazz, Strata East und vielen mehr. Die überragende Deepness dieser afroamerikanischen Jazz-Musik begeisterte mich und tut es bis heute. Gleichzeitig war ich an elektronischer Musik interessiert und von Anfang an von Kirk Degiorgio und seinem Alter Ego As One ergriffen. Ob Stücke wie „Meridian”, „Dance of the Uighures” oder „Moon Over the Moab” – die Musik von Kirk Degiorgio berührte mich so wie die Musik der vorgenannten Jazz-Helden.
Wie die Zeit vergeht. 30 Jahre ist es her, dass Kirk Degiorgio in Waterloo, London, mit wenig Equipment wie Mixer und dem Synthesizer Oberheim OB-8 das aus heutiger Sicht legendäre Album Reflections komponierte. Der Brückenschlag zwischen der amerikanischen und der britischen Technoszene war erfolgt, doch am Anfang waren in England nicht alle Kids gleich begeistert. Vielen war das Album eben zu soulful, zu jazzy, es fehlten Schnelligkeit und Härte. Das anfängliche Fremdeln sollte sich verlaufen, und Kirk Degiorgio erreichte mit seiner Musik eine immer größere Fangemeinde.
Ebenfalls auf der 30th Anniversary Edition sind mit „The Priestess” (erstmalig auf Vinyl) und „Forgotten Memory” (bislang unveröffentlicht) zwei weitere musikalische Perlen, die 1992 im Rahmen der Reflections-Aufnahmen entstanden sind. Alleine wegen diesen beiden Stücken lohnt sich ein Check der Neuveröffentlichung. Liron Klangwart
Azari – Aqatetra (Omnidisc)
Dinamo Azari gelingt mit Aqatetra das seltene Kunststück, ein gleichzeitig typisches und die Genre-Gesetze unterlaufendes Techno-Album zu präsentieren. Vertraut sind vor allem das Sounddesign, das Azari auf hohem Niveau liefert, und die klare Erkennbarkeit diverser Techno-Stile. Allerdings wirken etliche Tracks wie Medleys aus zwei oder mehreren Stücken, als hätte der Kanadier zu viele Ideen gehabt, um alle auf üblicher Albumlänge zu verarbeiten. Also finden häufig mehr Elemente als von der Stiltreue-Polizei als artgerecht empfunden in einem Stück statt. Das kann zu viel sein, und eine solche puristische Haltung muss auch nicht gleich als stur abgetan werden – die Bandbreite von Detroit-geprägtem Techno bis hin zu noisigen, ziemlich harten Passagen ist definitiv eigen. Aber man kann auch dem Label zustimmen, das von „lebendigem Sounddesign mit schrägen Arrangements, die eine vorwärts denkende, sich wandelnde musikalische Chemie schaffen”, schwärmt. Und vielleicht erinnert das Album den einen oder anderen Puristen auch daran, was Techno einmal für einen kurzen Moment war: Ein Versprechen auf eine bessere Zukunft, ein, natürlich, zu großen Teilen naives Hoffnungs-Konstrukt aus abgefahrenem Technik-Glauben, freakigen Friedensvisionen und wilden Partys. Was danach kam, wissen wir: Kommerzialisierung, Retro hier, Trash da – und jedes zweite Jahr ein Acid-Revival. Mathias Schaffhäuser
DJ Swagger – Chemistry Forever (Kommerz)
Aus der kurzzeitigen LoFi-House-Hysteria auftauchend (2016, ihr erinnert Euch?), verdiente sich der 25-jährige Bielefelder DJ Swagger seine bisherigen Sporen hauptsächlich im Bass-Music Umfeld. Und zwar nicht zu knapp, 40 Vinyl-Veröffentlichungen inklusive zweier Alben sprechen da eine deutliche Sprache. Den ersten Release feuerte er bereits mit 16 Jahren ab, um sich in der folgenden fast zehnjährigen Karriere einen Namen, den man kennt, zu erarbeiten.
Nun also das dritte Album der selbst so betitelten One-Man-Band DJ Swagger. Und das bedeutet einen deutlichen Richtungswechsel – ab jetzt wird nämlich gerappt. Auf Englisch, Französisch und, einmal, Deutsch. Und Swagger muss sich dabei nicht verstecken. Unterstützt von einigen Features von TripSixVivo aus London, Vitus04 aus Bielefeld, dem Pariser Kaba und dem New Yorker Dainell Aiken, entwickelt sich so ein musikalisches Narrativ, das beim Durchhören des Albums Spaß macht wie auch Sinn ergibt. Weiterer Support kommt vom Jonas Gersema Trio und dem Pudel-Produkte-Wunderkind Speckman.So entsteht eine Reise, die den sanft und elegant von Electro und Bassfrequenz-Wellen über 2Step, House und Hip-Hop schließlich zu R’n’B, Indie-Pop und Bebop führt. Nicht schlecht, Herr Specht. Tim Lorenz
Gudrun Gut – Gut Soundtrack (Moabit Music)
Latzhose an, raus aufs Land! Da Gudrun Gut Gudrun Gut ist, hat sie soeben Folgendes geschafft: den Sender Rundfunk Berlin-Brandenburg dazu zu überreden, eine dreiteilige Serie zu produzieren. Sie wartet bereits in der bundesweiten ARD-Mediathek. Eine dreiteilige Fernsehserie irgendwo unterzubringen, ist schonmal nicht schlecht. Jetzt kommt jedoch das Irre.
Die Serie handelt davon, wie die Musikerin und Labelbetreiberin auf ihrem Landsitz in der Uckermark einen Soundtrack aufnimmt. Nämlich den für die Serie. In GUT ist Gudrun Gut also Porträtiererin und Porträtierte. Zumal sie neben Regisseur Heiko Lange auch noch als Creative Director auftaucht. Der Soundtrack fängt auf, was die Bilder erzählen oder eher vermitteln möchten, denn die drei Filme haben keine lineare Form: sich ausbreitende Klangflächen, Kratzen und Surren, Flüsterstimmen und Dub-Effekte. In „Garten” gibt es sogar mal eine Hook-Line.
Neben „Garten” haben auch „Brot”, „Wäsche” oder „Katzengeschenk” einen direkten visuellen Gegenpart. Andere nicht, die komplettieren dann Gudrun Guts Welt draußen in der Uckermark, die sie sich mit ihrem Mann Thomas Fehlmann (wird vorgestellt in einer zum Schreien komischen Homestory-Sequenz) teilt. Alles in allem aber zeigen sich diese Stücke wie die Künstlerin selbst: freigeistig, neugierig, ein bisschen merkwürdig. Gudrun Gut kündigt bereits eine zweite Staffel an. Da diese in der Stadt spielen soll, also Berlin, möchte sie statt einer Latzhose einen Anzug tragen. Christoph Braun