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Nachtiville 2024: Alles nur eine Frage der Perspektive

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Bei der Premiere des Nachtiville am Weissenhäuser Strand im vergangenen Jahr klappte nicht alles so, wie es sich Organisator:innen und Publikum vorgestellt hatten. Im zweiten Anlauf sollte alles besser werden – zwar mit weniger Besucher:innen, aber einem überarbeiteten Konzept und der gewohnten Intensität. Wie die zweite Ausgabe an der Ostsee lief, lest ihr im Reisebericht von Redakteur Maximilian Fritz.

Schon das leicht ramponierte Auto mit gelbem Kennzeichen sieht verdächtig aus. Seine Insassen, vier Niederländer:innen mit überdimensionierten flauschigen Kopfbedeckungen, erhärten das Verdachtsmoment nochmals und lassen der Polizei kaum eine andere Wahl, als eine Kontrolle vorzunehmen. Kurz vorm Ziel, an der Schranke zum Subtropischen Badeparadies am Weissenhäuser Strand, heißt es nun: Umkehren und sich im schlimmsten Fall das Auto auf links drehen lassen – beileibe kein Einzelschicksal an diesem Wochenende.

Ohne Möwen nicht vorstellbar: Der Weissenhäuser Strand

Schließlich ist Nachtiville, und wie nach dem chaotischen Erstversuch in Schleswig-Holstein im letzten Jahr legen die Gesetzeshüter:innen ein Engagement an den Tag wie Möwen bei der Jagd auf Fischbrötchen in den Händen unachtsamer Tourist:innen. Ein Bus voller Raver:innen sei mit Hunden durchsucht worden, lässt mich der Shuttlefahrer wissen, auch kleinere Reisegruppen verbrachten kurz vorm Ziel noch über zwei Stunden am Straßenrand.

Die Polizei bestätigte diese und ähnliche Schilderungen noch am Tag unserer Anfrage: Bei der Anreise seien zwischen 14 und 19 Uhr 76 Kräfte und zwei Rauschgiftspürhunde im Einsatz gewesen. Das Resultat: 24 Strafverfahren wegen des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz und drei Ordnungswidrigkeiten wegen des Verdachts des Fahrens unter Drogeneinfluss. Auch der Abreiseverkehr wurde penibel unter die Lupe genommen, dazu aber später.

Nachtiville 2024 The Hall by Christian Rothe
Auch in diesem Jahr ein optisches Highlight: The Hall

Denn wer es nach strapaziöser Anreise aufs Privatgelände und damit in den sicheren Hafen schafft, wird mit der gewohnten und doch jedesmal auf Neue liebenswürdigen Mixtur aus Absurditäten und Ambition belohnt. Von Bungalows oder Hotelzimmern aus begibt man sich auf die zahlreichen Floors, darunter Relikte aus dem letzten Jahr wie The View, The Hall und natürlich die WaveCave im Wellenbad. Aber auch The Tangle, im normalen Leben ein Dschungelrestaurant mit Plasktiblätterdecke und allerlei subtropischer Fauna, für die es zum Glück keiner taxidermistischen Arbeit bedurfte. Oder das Chalet, eine weitere Ausgeburt des Nachti-Humors. Wo sonst spielt Neel um 21 Uhr Berghain-Techno in Après-Ski-Ambiente?

Die signifikanteste Veränderung hat jedoch der Ambient-Floor namens OFF hinter sich. Wo man sich im letzten Jahr noch in einem etwas unausgegorenen Matratzenlager wiederfand, lümmeln die Gäst:innen dieses Mal in einer goldblauen – welches Vokabular ist beim Nachtiville schon cringe? – Wohlfühloase vor sich hin, lassen die Nacht ausklingen oder leiten sie ein. Auf dem einzigen Floor mit 24-Stunden-Laufzeit prallen menschgewordene Festival-Abläufe und nicht eingehaltene Exit-Strategien aufeinander. Praktisch zu jeder Tages- und Nachtzeit steht eine kichernde Menschentraube rauchend vor der Eingangstür und mustert die Passant:innen mit leicht strabistischen Augen. Doch auch zur Musik später Genaueres.

Wer sich an die letztjährige Ausgabe erinnert, weiß, dass das das erste Nachtiville am Weissenhäuser Strand zwei Kernprobleme hatte: Das Zusammentreffen von Raver:innen und ganz normalen Gäst:innen des Ferienresorts sowie das Missverhältnis von Besucher:innenanzahl und Floorkapazität und dessen ungenügende Kommunikation. Beides bekamen die Organisatoren in diesem Jahr in den Griff. Das lag einerseits an einer klügeren Aufteilung der Meute auf mehrere Floors, tatsächlich rücksichtsvolleren Besucher:innen und einer so deeskalierenden wie eindringlichen Kommunikation des Teams im Vorfeld: Man sei zu Gast im Badeparadies, wer sich nicht benehmen könne, fliegt, so in etwa die zugespitzte Version der Fassung aus dem Nachti-Newsletter.

In selbigem gaben die Organisatoren im Dezember bekannt, dass nicht so viele Tickets verkauft wurden wie erwartet. Man sei bei etwa 60 Prozent Auslastung. Und auch wenn sich bis zum Festivalbeginn noch was tat: ausverkauft war das Nachtiville in diesem Jahr definitiv nicht. Das machte sich das eine oder andere Mal auf den Floors bemerkbar, hatte aber auch seine positiven Seiten: Genug Platz, bekannte Gesichter und, wir wären wieder bei den Kernproblemen der letzten Ausgabe angekommen, keine nervigen Schlangen, in denen man die Lust verlor.

Wirkliche Befürchtungen, dass es zu leer werden könnte, stellen sich nur am ersten Abend ein. Der geräumige Floor The Hall mit seinen LED-Stalaktiten wirkt trotz eines tollen Sets von Efdemin und Polygonias Auftritt im Anschluss zumindest von außen betrachtet etwas verwaist. Ein ähnliches Bild ergibt sich in The Tangle, wo vor Livwutang nur ein paar verlorene Seelen durchs künstliche Unterholz schwofen. Vielleicht alles nur eine Frage der Perspektive, die noch geeicht werden muss.

Brachte die Menge in der ersten Nacht auf Kurs: Efdemin

Betriebsamkeit herrscht derweil auf The View: Hitmaschine Young Marco spielt hier einen Remix von LCD Soundsystems „Tribulations” und kurz darauf seinen unvermeidlichen Edit von Imogen Heaps „Hide and Seek”. Rührseligkeit, in Pop-Gestus getüncht, und das schon am ersten Abend. Unter Szenenapplaus klatscht sich der Holländer nach seinem Set mit Interplanetary Criminal ab, der mit schwabbligen Garage-Basslines für ein Kontrastprogramm sorgt. Wieder ab zu Efdemin, wo das Publikum kaum heterogener sein könnte. Am Ende der wogenden Menge stehen Personen mit Jacke und Schal, offenbar Opfer ihrer Entscheidungsschwäche. Ganz anders vier unternehmungslustige Jungraver mit kurzer Hose und knöchelhohen Socken, die nach einer eilig eingenommenen Stärkung mit einer Polonaise ins Zentrum des Floors vorstoßen. Inzwischen hat Polygonia übernommen, deren marianengrabentiefer Techno sich die Brutalität von Stadion-Tech-House zueigen macht und vom Fleck weg überzeugt.

Nachtivlle 2024 The View by Christian Rothe
Stets die Spielwiese einer dicht gedrängten Crowd – The View

Das Chalet schrubbt am nächsten Tag der bereits erwähnte Neel, der, hinter einem Lampenschirm in Biedermeier-Optik versteckt, vom frühen Abend an mit Bangern wie Talismanns „Matam” bis Mitternacht durch die Bretterbude in Kater-Blau-Optik pflügt. Gewöhnungsbedürftig, aber nichtsdestotrotz ein tolles Set und eine Schutzzone für alle, die vom überbordenden Partyhouse eine Auszeit brauchen. Ebendiesem meiden danach, wenig überraschend, auch Rhyw und Helena Hauff: Ersterer spielt ein schlicht absurdes Liveset, bei dem sich in The Hall Konzertatmosphäre einstellt. Bis zur letzten Nummer, dem „Engine Track” von der aktuellen EP Mister Melt, bleibt die Stimmung manisch. Anschließend füllt sich das Podest hinter der Booth, und der Floor bekommt merklich Zuwachs, Mit Helena Hauff tritt nun ein Inventar-Act des Nachti-Kosmos auf, und die Hamburgerin absolviert ihr Vinyl-Set noch eine Spur härter als gewohnt. Nach ein paar Electro-Tracks zum Aufwärmen schlägt das Pendel in Richtung Industrial-Techno aus, der mit seinen Rave-Signalen auch auf dem Bang Face nicht Fehl am Platz wäre. Anschließend steht noch ein kurzer Abstecher in den Dschungel zu Sally Cs und Crombys Vocal-lastigem House-Set auf dem Programm, in das die Brit:innen Rap-Passagen und Xylophone einweben. Nun, morgen ist auch noch ein Tag.

Bot ein irres Liveset: Rhyw

Und der bietet sich aufgrund des schlechten Wetters hervorragend zum Lungern vor dem Fernseher an. Auf dem Hauskanal des Hotels läuft ein alter Boiler Room, oder doch nicht? Was ist das für ein Sender? Das Animadiso-Logo am linken oberen Bildschirmrand verrät: Es handelt sich um eine Produktion des gleichnamigen Kollektivs, auf dem Outdoor-Nachti oft verantwortlich für das Tagesprogramm am Samstag, und nicht um einen Boiler Room, sondern einen Broiler Room. Der hält alle performativen Dummheiten des Originalformats ein, nur dass ein Huhn gekocht sowie ein oberkörperfreier Gast zu geschmackssicherem House mit Bratöl eingerieben und eben nicht aufgelegt wird. Großer Klamauk, der den immerwährenden Drahtseilakt des Festivals zwischen Trash-Tropen und Geschmackssicherheit verkörpert.

Durfte nicht fehlen: Helena Hauff

Auf den Floors läuft die Musik am letzten Abend nur bis 1 Uhr. Eigentlich ganz praktisch, weil das Publikum die Abreise am Montagmorgen so halbwegs ausgeruht angehen kann. So zumindest die Theorie, der in der Praxis zahlreiche Afterhours gegenüberstehen. Musikalisch warten neben dem Spaßprogramm von Gerd Janson in The Hall und Job Jobse in The View im Dschungel spannende Alternativen. .Vril (ja, den schreibt man inzwischen so) spielt von 21 Uhr bis 22 Uhr ein Liveset, das mit Floorplan-artigen House-Vocals und den üblichen makellosen Dub-Techno-Tracks aufwartet.

Inzwischen mit Punkt vor dem V: .Vril

Im Anschluss legt Aurora Halal ein Closing hin, das als Set des Festivals durchgeht. Nach 40 Minuten tech-housigem Aufbau knüppelt die New Yorkerin der Menge Special Requests Breakbeat-Monster „Vortex 150” zwischen die Beine. Und auch nach dieser Zäsur passt jeder Track, ob Techno oder House. Die Künstlerin spielt aus einem Verständnis für den Groove heraus, aus dem sie kaum bis gar nicht ausschert. Das goutiert das Publikum, das sich dem Fluss fügt und an den richtigen Stellen mit forderndem Gejohle reagiert.

Aurora Halal Nachtiville 2024 by Christian Rothe
Spielte ein fantastisches Closing in The Tangle: Aurora Halal

Die Floors werden um 1 Uhr zügig geräumt, in der Passage des Strandbads bilden sich lange Schlangen für die Garderobe. Optimist:innen hängen neben ihr noch Rückfahrgesuche am schwarzen Brett auf. Seine Chancen erhöht, wer seine Fahrkünste anbietet. Denn auch am Montag wartet auf beiden Zufahrtsstraßen die Polizei: Ihre Auskunft zu dieser Kontrolle: „Die Abreise wurde durch 51 Kontrollkräfte in der Zeit von 10 bis 14 Uhr begleitet. Die Zahl der nicht fahrtüchtigen Verkehrsteilnehmer belief sich auf 15. Zum Zweck der Beweissicherung wurden Blutproben entnommen und teilweise die Weiterfahrt untersagt. Sechs Fahrzeugführer kamen aus dem europäischen Ausland – sie mussten eine Sicherheitsleistung in Höhe von je 1.300 Euro entrichten.” Die Bilanz sei besorgniserregend und verdeutliche die Notwendigkeit der Überprüfung des Fahrzeugverkehrs.

Die Bilanz der Veranstalter:innnen dürfte positiver ausfallen. Die Probleme aus dem letzten Jahr bekam man mit einem deutlich verbesserten Konzept in den Griff, das mutmaßlich auch einem größeren Besucheransturm standgehalten hätte. Bleibt zu hoffen, dass der im nächsten Jahr kommt.

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