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Dezember 2023: Album des Monats

Bruce – Not Ready for Love (Timedance)

Larry McCarthy ist musikalisch schwer zu fassen. Als Bruce machte der Musiker aus Bristol seit 2014 mit Veröffentlichungen bei Hemlock, Hessle Audio und schließlich Timedance auf sich aufmerksam. Ausgefallener UK-Techno aus der Post-Dubstep/Bass-Suppe, könnte man vielleicht sagen. Bruce ist jedenfalls einer, dessen ausgefeilte Produktionen durch ihr Sounddesign überzeugen. Eindruck wird nicht nur über Bassgewalt erzielt, sondern mit ungewöhnlichen Rhythmen, stilistischen Überraschungen und viel Liebe zum Detail – Hardcore Continuum meets IDM, sagte der Künstler mal selbst. In seinem Mix für den Groove Podcast war gleich so viel Verschiedenes los, dass wir ihn unter „#pretty much everything” verorten mussten. Im Interview dazu ließ Bruce bereits durchscheinen, dass wir ihn künftig öfter am Mikrofon erleben würden.

Das hat sich in diesem Jahr radikaler musikalischer Transformation und Weiterentwicklung für Bruce bewahrheitet: was noch mit ein paar vorsichtigen Sad-Boi-Vocals auf der Single „Invisible” (mit Lurka als XRA) begann, hat jetzt als ausgereifte LP Form angenommen. Die Tracks der beiden Vorab-EPs Not (Juni) und Ready (Oktober) sind darauf enthalten und wurden um vier neue Stücke erweitert, um die Geschichte zu komplettieren. Ein knappe Stunde unnachgiebiger, elektronischer Vocal-Pop im futuristischen Gewand – ebenso mutig wie einnehmend.

Wie ein eisig schneidender Zauber wirkt Bruce auf diesen Stücken, die gelegentlich auch ihre bassige Herkunft andeuten.

Denn Bruce’ eigene Stimme steht dabei ganz und gar im Vordergrund. So zerbrechlich und sanft sie manchmal klingt, so eindrücklich und standhaft schneidet sie gleichzeitig durch den elektronischen Unterbau — der nach wie vor mit den abstrakt-ambienten Elementen von Bruce’ Techno-Produktionen glänzt, dabei aber die wabernde Schwere(losigkeit) von Vaporwave oder Weightless besitzt. 

Auf 14 Tracks erzählt McCarthy also von altbesetzten Themen wie der Liebe und was diese so mit sich bringt. Das Songwriting bleibt dabei ebenso abstrakt und poetisch wie die instrumentale Begleitung; beide Elemente arbeiten dramaturgisch im Einklang, schwellen immer wieder zu intensiven Spitzen an, um dann gemeinsam abzufallen und Platz für die mit Effekten bestückte Stimme zu machen.

Wie ein eisig schneidender Zauber wirkt Bruce auf diesen Stücken, die gelegentlich auch ihre bassige Herkunft andeuten, etwa auf den schwergewichtigen Songs „In The Pines” oder „Zampano”. Dagegen gibt es spielerische Basslines auf Stücken wie dem humorvollen „Flakes” oder dem verträumten Closer „Moonsistent”, während „Broken” seinem Name Ehre macht und einen properen Dubstep-Rhythmus fährt. Auf den intensiveren Tracks zur Album-Mitte wie „Antler” (mit der Vokalistin Isabella Martin) oder „Complaint” lässt sich eine jazzige Beat-Science früher Drum’n’Bass-Kompositionen à la Photek heraushören, und auch auf dem frühen Highlight „Dappled Light” schieben sich neben glockenartige Grime-Synths und verschiedene Schichten an Vocals immer wieder klassische Amen-Chops.

Auch wenn Bruce also unterwegs zu neuen Ufern ist, lässt er seine Vergangenheit keinesfalls spurlos zurück, sondern verbindet sie gekonnt mit einer neuen Pop-Sensibilität. Wobei das Wort „Pop” hier vorsichtig zu gebrauchen ist, denn mit seiner abstrakt-avantgardistischen Underground-Ästhetik ist Not Ready For Love keinesfalls ready für tagtägliches Radio. Im Gegenteil, das ist immer noch Musik für die Heads, anders als vielleicht ähnlich gelagerte Projekte wie Moderat oder das Liveprojekt von Avalon Emerson. Das macht diese Platte so sympathisch und glaubwürdig: ein Künstler verändert sich radikal vor unseren Augen und steht zu seiner neuen Verwundbarkeit, die ihm ohne Zweifel abgenommen werden darf. Leopold Hutter

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