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[REWIND2023]: TikTok-Techno 2.0: Ist die Blase geplatzt?

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Dieser Beitrag ist Teil unseres Jahresrückblicks REWIND2023. Alle Texte findet ihr hier.

Das GROOVE-Heftcover vom Anfang des Jahres verkündete eine neue Epoche der Clubmusik, die 2022 von Acts wie Domiziana, DJ Heartstring, Ski Aggu oder Southstar eingeleitet beziehungsweise weitergeführt wurde. In diesem Roundtable für den REWIND2023 versuchen wir nun herauszufinden, wie es mit diesen Hybriden von Techno, Deutschrap und Mainstreampop in diesem Jahr weiterging. Hat das von TikTok befeuerte Phänomen neue Peaks erklommen oder ist es implodiert?

Spätestens, nachdem Ski Aggus Gabber-Adaption von Otto Waalkes „Friesenjung” in Deutschland Platz eins der Single-Charts erreichte, wurden die Streaming-Kanäle von wilden Mashups überflutet. GROOVE-Autor:innen Ben-Robin König und Cristina Plett sowie die GROOVE-Redakteure Max Fritz und Alexis Waltz untersuchen anhand von zwölf Nummern, was hier genau verwurstet wird und welcher Dancefloor eigentlich gemeint ist.

Paula Carolina –  „Schreien! (Turbo TikTok)”

Cristina: Ich frag’ mich, ob das wirklich irgendwo in einem Club läuft oder online-only ist.

Alexis: Ich weiß gar nicht, ob es eine längere Version davon gibt. Ich fand interessant, dass der Track als einer der wenigen in diesem Jahr den punkigen, NDW-lastigen Faden von Brutalismus 3000 aufnahm.

Max: Mich erinnert das stark an irgendwelche NDW-Tracks, nur dass der Beat Leuten jenseits der 25 auf die Eier gehen soll.

Ben-Robin: NDW trifft das, was Eltern früher für bösen Techno gehalten haben

Cristina: Es ist auf jeden Fall perfekt zum Lipsyncen und Wippen! 

Ben-Robin: Immerhin holt der Text eine hübsch-szenige Schablone ein: Wie Clubgänger:innen wohl so ausschauen und eben?

Max: Viel mehr kann ich zu diesem 13-sekündigen Amuse-Gueule nicht sagen.

Ben-Robin: Fachtermini!

Alexis: Und auch eine der wenigen TikTok-Techno-Nummern, die wie die initialisierenden #TikTokTechno beziehungsweise #RaveToks von 2021 und 2022 von Vocal und Bassline zehren. Und Pepsi Light im Sechserträger ist ja tatsächlich eine interessante Beverage Choice.

RAF Camora & Ski Aggu – „Liebe Grüße”

Ben-Robin: Kanns kaum erwarten – wo ist das Pflaster für meine Wange?

Alexis: Mit der Dr.-Alban-Bearbeitung und der RAF-Camora-Collab scheint Ski Aggu am Ende angekommen zu sein. Was kann noch kommen?

Max: Das ist jetzt der zweite von zwei Tracks, der das Berghain als Hort der Kredibilität identifiziert. Steht das symptomatisch für die Zitierfreudigkeit des Subgenres?

Alexis: Stimmt, es ist Popmusik, die von Techno als Sehnsuchtsort handelt, deren Sprache aber Deutschrap- und Eurodance-Zitate sind. 

Cristina: Ja, alles verwurstet, was gerade irgendwie funktioniert.

Ben-Robin: Das Sampling lässt einem warm ums Herz werden

Cristina: Im Vergleich zum Song davor regelrecht langsam und trotzdem bei 130 BPM. Finde es interessant, wie der Song zeigt, wie die Selfmade-TikTok-Techno-Edits von letztem Jahr – zum Beispiel von DJ Yarak – in den Mainstream gewandert sind. Die Melodie von „What Is Love” plus Deutschrap, das wohl größte Genre aktuell.

Max: Jetzt die gute alte Roundtable-Frage: Wo läuft das? Auf dem Splash?

Cristina: Im Radio?

Alexis: Klar – und wie!

Cristina: Und auf Spotify-Playlists. Ist in den Charts sofort auf Platz eins gegangen.

Ben-Robin: Ich seh’ den Track auf jeden Fall auf diversen Stadtfesten. Auch hohe Autoscooter-Tendenz.

Max Fritz: Klar! Kann gut sein, dass ich den auf dem Autoscooter des Havelberger Pferdemarkts gehört habe.

Cristina Plett: Oh ja! Das kann ich mir gut vorstellen, mit so blinkenden Lichtern.

Ben-Robin Der Typ, der bereits sein Karriereende verkündet hat, recycelt alte Texte aus 187-Zeiten. Ein wenig stellt sich die Frage, wer sich hier an wem hochziehen will: Einer, der nur für TikTok-Klicks rappt oder ein reaktivierter, mittelalter Rapper, der noch eine Drittkarriere möchte?

Cristina Plett: Beide? Klassische Win-Win-Situation.

Alexis Waltz: RAF hat gesagt, dass er die Social-Media-Skills von Aggu einfach zu geil findet.

Alexis Waltz: Die übersteuerte 909-Bassdrum am Schluss ist dann noch ein Techno-Zitat.

Nina Kraviz & David Löhlein – „Bailando”

Alexis: Nina Kraviz und David Löhlein kommen spät um die Ecke mit ihrer „Bailando”-Version, es gibt ja schon diverse, zum Beispiel von X-Coast.

Max: Haha. Wohingegen der Beat eine praktische Brücke zwischen den Generationen schlägt.

Ben-Robin: Die Ironie ist, dass der Text komplett in den Hintergrund rückt, Musik zum Kopfnicken und irgendwo auch Reminiszieren. Das Schöfferhofer-Grapefruit muss aber noch spürbar sein.

Alexis: Auf dem Stadtfest vom Berghain träumen, das ist vielleicht der kulturelle Status Quo.

Ben-Robin: Hier wird er zum Wachtraum

Max Fritz: Mit Herrn Löhlein habe ich mal ein Interview auf YouTube gesehen, in dem er sich über Samims „Heater” lustig macht, weil die Nummer sinngemäß kein echter Techno sei.

Ben-Robin: In diesem Sinne ist das jetzt auch stringent umgesetzt.

Cristina: Das ist einer der Tracks dieser Playlist, den ich am meisten im Club und auf Festivals sehe. Den trancigen Flächen und dem Gesang kann ich durchaus was abgewinnen.

Ben-Robin: Ich sag ganz schambefreit: Ich mag’s.

Max: Den Track assoziiere ich zudem mit Kraviz’ Auftritt in der TikTok-Booth, der im Sommer auf sämtlichen Meme-Accounts verarbeitet wurde. Aber ja, schon was zum Abhotten.

Alexis: Voll. Ist der zum Track geronnene Insta-Mitschnitt vom Kraviz-Set in einem Insta-Kanal wie Techno Fraternity, in dem Techno sehr heteronormativ, sehr weiß und sehr mittelständig ist. Finde den Track ok, das Vocal läuft viel zu lang für meinen Geschmack.

Cristina: Same! Ich frage mich aber, ob Kraviz in der Technoszene wegen ihrer fehlenden Positionierung zum Ukraine-Krieg so unten durch ist, dass viele den Track deswegen gar nicht spielen.

Max: Gut möglich, oft gehört habe ich ihn dieses Jahr nämlich nicht. Kann aber auch an den Partys liegen, die ich besucht habe.

Alexis: Sie spielt fast nur noch auf großen, eher trashigen Festivals und hat daher den Szene-Anschluss verloren. Das passiert aber bei DJs in dem Alter meistens so oder so, siehe Adam Beyer.

Ben-Robin: Irgendwie gibt mir der Track mehr das Gefühl, dass er sowohl in TikToks, in DJ-Gigola-Sets und auch während der Peaktime des Nachtis auftauchen könnte. Zumindest theoretisch schulterschließender Sound.

Jonas Paul & Apollon – „Kettendynastie”

Ben-Robin: Wir kommen im ZDF-Fernsehgarten an.

Cristina: Auf TikTok war der, glaube ich, nicht allzu groß.

Max: Ja, gesanglich trifft da Laith Al-Deen auf Ich+Ich.

Ben-Robin: Als ob Adel Tawil ins RSO möchte.

Cristina: Bei dem Song ist mir aufgefallen, dass das Ketten-Emoji inzwischen für Techno steht. ⛓️ Damit kommen wir zur Fetisch-inspirierten Mode, die von TikTok-Techno ihren Weg in die Clubs Deutschlands gefunden hat.

Max: Auch die Adressierung der Eltern amüsiert sehr, wenn man sich die Videos aus dem Gleisdreieckpark während der Pandemie vor Augen führt.

Cristina Plett: Stimmt, von daher passt es zur Generation, die seit rund eineinhalb Jahren endlich Techno leben kann.

Alexis: Ich finde die Nummer auch sehr lustig. Handelt von Techno als Initiationsgeschichte, aus ganz naiver Perspektive, die Deutschrap, Schlager, 80s-Pop in Gigolo-Interpretation und Trash-Techno verwurstet.

Max Fritz: Ist eine möglichst plakative Versammlung von Techno-Allgemeinplätzen. Der Tanz als Allheilmittel.

Ben-Robin König: Eine seltsame Verschränkung von maximalem Hedonismus, Techno- und Ravekultur als bloßer Referenz, Schlager und irgendwie mitgenommener Fetisch-Ästhetik.

Cristina Plett: Damit ist alles gesagt.

Alexis Waltz: Ja, Techno ist final im Mainstream angekommen, man kann’s Mama einfach nicht mehr verheimlichen.

Fisher – „Losing It”

Alexis Waltz: Diesen Song von Fisher von 2018 haben wir in die Liste aufgenommen, weil ihn Skrillex zum Beispiel auf dem Draaimolen gespielt hat und die Nummer die gegenseitige Anziehung von Tech-House beziehungsweise Minimal à la Dubfire und EDM gut auf den Punkt bringt. Die Dialektik von konzentriertem Groove und dramatischen Breakdown.

Ben-Robin König: Kennt man den aus der Autowerbung? Jedenfalls ganz, ganz üble Erinnerungen an so circa 2005er-Tech-House, als MadeToPlay freitags noch eine Residency in der Panorama Bar hatten – ein richtiger „Belter”.

Max Fritz: Genau, ich hab den Track auf dem diesjährigen Draaimolen vernommen, Blawan und Skrillex sei Dank. Allerdings ist der natürlich diverse Jahre alt. Quasi-visionär. Da war an das derzeitige Ausmaß der Karnevalisierung von Techno noch nicht zu denken. Und die Drops kommen von ganz, ganz oben.

Cristina Plett: Oha, Skrillex! Überraschend erwartbar! Weil es nicht zu seinem Rebrand als „hipper” DJ passt.

Cristina Plett: Der Drop ist fies. Hier sind wir bei EDM, und da kommt der doch auch her? 2018 releast, als es TikTok noch nicht mal gab.

Ben-Robin König: Wenn Menschen sich beim Drop nicht auf den Boden setzen, haben sie die Kultur nicht verstanden.

Alexis Waltz: Haha!

Max Fritz: Auch tolle Autofahrmusik, dieser debile Schunkelrhythmus.

Ben-Robin König: Umsetzung ist auf jeden Fall konsequent. Ich liebe das Trompeten-Sample.

Alexis Waltz: Interessant finde ich, wie clean und geil das produziert ist im Gegensatz zu den anderen Stücken aus Deutschland. Hier hört man das 128-Kanal-Soundboard, die anderen Nummern klingen halt doch nach Ableton auf dem Laptop.

Creeds – „Push Up (Main Edit)”

Max Fritz: Jetzt sind wir in der Bigroom-Tech-House-Ecke angekommen. Obwohl das auch noch wie Die Antwoord klingt.

Cristina Plett: Das assoziiere ich so krass mit TikTok-Techno und Videos von zum Beispiel Charlotte de Witte, wie sie das auf einer von riesigen LED-Screens flankierten Bühne spielt. Der Song hat es ja wirklich ins Real Life geschafft. Mehr als den Anfang habe ich aber noch nie gehört. Was passiert denn da mit dieser wilden Braindance-Melodie?

Ben-Robin König: Liege ich richtig in der Annahme, dass dieser Track es allein wegen seines Internet-Hypes und Tanzvideos mit Strobo-Effekt überhaupt in Sets von sogennanten Hochkarätern geschafft hat?

Cristina Plett: Ich glaube, ja.

Ben-Robin König: Die Stimme sucht einen definitiv im Schlaf heim.

Max Fritz: Nicht die DJs diktieren, was läuft, sondern der Algorithmus diktiert, was sie spielen. Ich muss allerdings zugeben, dass ich das Lied nicht kenne.

Cristina Plett: Voll! Ich glaube, Kristoffer hat es auch in einem seiner Texte zu dem Thema erwähnt.

Ben-Robin König: Damit wäre ja immerhin die These gegeben, dass es auch dieses Mal so was wie einen großen TikTok-Hit gab.

Alexis Waltz: Ich hab die Nummer ausgewählt, weil sie mit der psychedelischen Techno-Hook, dem Domiziana-Vocal und dem prolligen Slap-Bass ein Stück ist, das tatsächlich im Club laufen kann – zumindest bei Charlotte de Witte.

Ben-Robin König: Fragt sich allerdings: in welchem Club?

Max Fritz: Bootshaus, oder?

Cristina Plett: Zum Beispiel in einem mit so einem LED-Screen als DJ-Tisch, in Mannheim oder so.

Max Fritz: Oder auf Unreal-Events.

Cristina Plett: Mir ist der Song bei der Techno-TikTok-Recherche letztes Jahr sehr oft begegnet.

Cassö x Raye x D-Block Europe – „Prada (Official Video)”

Cristina Plett: GEIL!

Ben-Robin König: Ehrlich? Welche Sprache ist das?

Cristina Plett: English.

Cristina Plett: Dieser Remix von RAYE (selbst über einen viralen TikTok-Hit bekannt geworden) war zuerst als Soundcloud-Edit viral gegangen, bis er danach offiziell releast wurde. Er hat wohl einige Leute an das Genre rangeführt. Hab damals einige TikToks gesehen à la „What kind of music is this, I want more of this.”

Alexis Waltz: Das ist ein Pick von Cristina, finde ich sehr interessant, da schwer einzuordnen. Erinnert mich an Pop aus dem Nahen Osten, der sich vage an westlichen Vorbildern orientiert.

Ben-Robin König: Das ist abseits vom Genuschel auch sonst eher so kulturell rapmäßig behaftet?

Max Fritz: Ohrwurmig, wie das Vocal sich in die Länge zieht. Moderne Cher.

Ben-Robin König: Cher find ich passend.

Max Fritz: Obwohl ich es mit Musik aus dem Nahen Osten auch assoziiere.

Cristina Plett: 250.000-mal auf TikTok genutzt. Aber nicht so sehr in der #ravetok-Bubble, sondern eher im Mainstream. Für mich knüpft es irgendwie an Trance an, weil es dieses schwebende, euphorische Gefühl hat.

Max Fritz: Na ja, es kommt alles wieder. Teilweise erinnert es mich auch an Indie-Dance-Acts der frühen Zehnerjahre, so was wie London Grammar oder Disclosure.

Ben-Robin König: Da passiert extrem viel, das ist stilistischer Overkill im besten Sinne

Alexis Waltz: Stimmt, an Cher erinnert es auch. Den Autotune-Einsatz finde ich auch interessant, und diese aufgelöste Songstruktur.

Teleshop – „Nochmal” (produziert von DJ Hearstring)

Ben-Robin König: Die Pipeline der GROOVE-Redaktion zu Warner Music steht also?

Cristina Plett: Erinnert mich irgendwie an dieses benebelt-melancholische Gefühl, das Yung Hurn viel hatte.

Max Fritz: Teleshop werden als Elektro-Duo geführt, dann als Dancefloor-Trap-Duo, machen laut dem Text aber auch technoiden Sound. Wer soll sich da noch auskennen?

Ben-Robin König: Eventuell ein weniger sexistisches Update des Herrn Hurn. Bisschen Stickle ist da auch drin.

Max Fritz: Klingt auch ziemlich haargenau wie die GIFT EP, die sie ebenfalls zusammen mit DJ Heartstring gemacht haben.

Alexis Waltz: Es gefällt mir besser als die DJ-Heartstring-Collab mit Southstar und ihr Track für Ski Aggu. Der reduzierte, melancholische Groove kommuniziert sehr schön mit dem nachdenklichen Vocal, das sich von angeberischen Deutschrap-Standards absetzt.

Ben-Robin König: Kommen Artists heute eigentlich noch mit weniger als drei Genres aus?

Cristina Plett: Eklektizismus ist KEY. ⛓️

Max Fritz: Dieses Unentschiedene verwirrt mich als engstirnigen Scheuklappen-Hardliner. Zu schnell für Rap, zu viele Lyrics für einen funktionierenden Dance-Track.

Domiziana feat. Blümchen – „SOS”

Max Fritz: Die Unschuld Blümchens mit schändlichem Drogen-Talk besudelt.

Ben-Robin König: Blümchen, bist du es? Wieder wird uns die Unschuld einer Erinnerung genommen

Cristina Plett: Domiziana hat es halt echt geschafft, ihren Internetphänomen-Hype zu halten!

Max Fritz: Ja, von Stunde Null an dabei.

Alexis Waltz: Mit dem Blümchen-Feature bei Domiziana wird Neunziger-Sehnsucht real, was man natürlich überhaupt nicht will. 

Cristina Plett: Die Zielgruppe des Songs war da überwiegend noch gar nicht geboren. Wobei, mit Blümchen ist die Zielgruppe auch älter. Irgendwie krass, dass „Ohne Benzin” nicht nur ein One-Hit-Wonder war, sondern Domiziana mit so einer Collabo einige Monate später nachlegt – und sie noch nicht wieder komplett verschwunden ist. Also sie hat aus dem TikTok-Hit „Ohne Benzin” eine Karriere gemacht. Das schaffen nicht alle.

Alexis Waltz: Das ist ja für die Neunziger-Nostalgie meist konstitutiv, dass man die Neunziger verpasst hat.

Alexis Waltz: Sie hat sich stärker positioniert als Southstar. 

Ben-Robin König: Die Art Revival, die kalten Schweiß auf die Stirn treibt – alles klingt wie Blümchen und Bravo-Hits, nur der oversexte Text ist das, was der Gegenwart entspricht.

Max Fritz: Das ist ganz klassische Zielgruppenerschließung durch Abglanz. Obwohl Blümchen ironischerweise ein Act ist, den selbst seine damalige Zielgruppe heute abgestoßen haben dürfte.

Alexis Waltz: Guter Punkt, ja.

Lyente, Quinten Circle, ZANA – „Dance For Me (1, 2, 3) Stutter Techno”

Ben-Robin König: Das ist so was, wo dann „Wait for the drop” drinsteht, oder? Boah, das hat Skepta nicht verdient

Max Fritz: Erschließt sich mir so gar nicht. Also noch weniger als der Rest der Auswahl.

Cristina Plett: Hier wieder ein ähnlicher Fall wie bei RAF Camora, Hip-Hop-Referenz meets Pop meets Techno.

Ben-Robin König: Der Gesang ist auch völlig erratisch, hat der Track überhaupt ein Konzept? Oder sind es nur aneinander gereihte Happenings?

Alexis Waltz: Mit Creeds die einzige Nummer im Roundtable, die auf einem Rave funktioniert.

Max Fritz: Aktionspotenziale.

Ben-Robin König: Und wieder stellt sich die Frage, welche Art Rave?

Max Fritz: Es passiert in voneinander getrennten Bereichen irgendwas, was Aufmerksamkeit erregt. Stringent ist das aber nicht.

Alexis Waltz: Ich find es interessant, dass die Elemente so willkürlich nacheinander kommen, dass die Flöten-Melodie, die eigentlich total balla ist, dann genau passt.

Ben-Robin König: Das Flöten-Sample passt hier auch überhaupt nicht zum Beat, man merkt förmlich, dass es nur ob des Wiedererkennungswerts reingeschoben wurde.

Cristina Plett: Ein Rave, den wir in den großen Berliner Clubs nicht finden werden, vermute ich.

Alexis Waltz: Natürlich nicht, eher bei ein Techno-EDM-Hybrid-Raves wie Open Beatz oder Kappa Futur. Das ist ja auch ein Rezessions-Phänomen, dass von Techno und House auf EDM umgeschwenkt wird bei Veranstaltungen dieses Kalibers.

Amaru & Gringo Bamba – „Blonde Chaya (Sped Up)”

Cristina Plett: Damit kommen wir wieder zum NDW-Vibe.

Ben-Robin König: Kernkraft 400 trifft Toktok vs. Soffy O.

Max Fritz: Oder I-Fs „Space Invaders Are Smoking Grass”, das ich da auch erkenne.

Cristina Plett: Stimmt! Deswegen mag ich den wohl auch.

Max Fritz: Es ist schon faszinierend, wie diese Musik abstumpfen lässt.

Ben-Robin König: Inwiefern? Dass dem hier plötzlich was abzugewinnen ist?

Max Fritz: Ne, mir fällt einfach nicht mehr viel dazu ein. Die Nummer war gefühlt schon dran. Auch wenn der Techno-Sehnsuchtsort dieses Mal der illegale Rave ist.

Alexis Waltz: Eine starke Nummer, die einen kurzen Loop aus der Bassline von Fischerspooners „Emerge” mit einem vielsprachigen Rap-Stück verbindet.

Max Fritz: FYI.

Cristina Plett: Der Song hat es auf TikTok auch schon recht weit gebracht und wurde in über 33.000 Videos benutzt.

Ben-Robin König: Die Kombination aus 0815-Deutschrap-Llyrics und einer NDW-Ästhetik kommt lustig. Das sorgt für Irritation

Cristina Plett: Es ist halt High-Energy-Pumpen und macht irgendwie Spaß.

Alexis Waltz: Der Track ist clubby gemixt, die Vocals sind leise, Beats und Bass sehr laut.

No_4mat – „1992 Sped Up Mix”

Max Fritz: Jetzt noch ein Anflug von Lo-Fi-House.

Ben-Robin König: Der wirkt ziemlich jammy.

Cristina Plett: Wir hatten jetzt übrigens zwei Sped-Up-Mixe, was klares Resultat von TikTok ist. Inzwischen sind die ja überall. Je schneller alles untergebracht ist, desto besser.

Alexis Waltz: An der Nummer finde ich stark, dass sie die Neunziger-Nostalgie direkt adressiert, aber zugleich sehr schön mit detroitigen und, ja, Lo-Fi-House-Sounds arbeitet.

Cristina Plett: Das Original war auch, wie die anderen Lo-Fi-House-Hits, ein Favorit des YouTube-Algorithmus. Da ist er mir schon vor ein paar Jahren über den Feed gelaufen.

Max Fritz: Stimmt, könnte in Ansätzen auch John Beltran sein.

Ben-Robin König: Der Track wirkt insgesamt so, als würde er länger als nur eineinhalb Minuten dauern. Und sehr stringent umgesetzt. Vielleicht ist mein Hirn inzwischen auch weichgehüpft, aber das hier hat was von einem dankbaren cCoser, der etwas geschmackvoller daherkommt.

Cristina Plett: Finde ich auch.

Alexis Waltz: Mich erinnert das an Detroit-Producer aus der zweiten Reihe wie Claude Young, Dan Curtin, Enhanced oder DJ Tone.

Max Fritz: Gehe mit und erfreue mich daran, dass mal nicht alle paar Sekunden ein Komplettumschwung kommt.

Cristina Plett: Stellenweise ist das Sped-Up aber etwas zu schnell und es klingt hektisch, wie zum Beispiel bei den Claps.

Ben-Robin König: Die Kombination ist doch recht gelungen, da verschränken sich verschiedene Genres und Epochen zu einem guten Zitat. Die Kirmes-Trance-Synthesizer kommen in der nicht hochgepitchten Variante wahrscheinlich weniger kitschig.

Alexis Waltz: Interessant ist, dass No_4mat – im Gegensatz zu den anderen Stücken – ernsthaft mit dem Material umgeht, aber sich dennoch zur Nostalgie bekennt.

Cristina Plett: Nostalgie ist ja nichts Neues in der elektronischen Musik. Bin für ein Revival von Lo-Fi-House! Nostalgie 4 ever!

Alexis Waltz: Unabhängig von dem Track: Was ist das Verdikt? 

Ben-Robin König: Lo-Fi war schon besser als sein Ruf.

Max Fritz: Aus heutiger Sicht ein logischer Schluss. Mein Verdikt: Den Zenit hatte diese Entwicklung letztes Jahr erreicht, ich kann mir nicht wirklich ausmalen, wie eine neue Eskalationsstufe des Trashs erreicht werden soll. Otto, Dr. Alban und so weiter waren ja alle schon da.

Ben-Robin König: Der Fundus an ohnehin schaurigen Samples, die nochmal revitalisiert werden können, ist gewissermaßen endlos. Edit-Kultur hatte sicherlich bereits ihren Peak. Die Hoffnung ist, dass es vielleicht einfach abebbt. Die Befürchtung ist, dass Rap und Schlager die Kuh noch etwas melken.

Alexis Waltz: Das Phänomen ist bei Deutschrap-Größen wie RAF Camora und auf Stadtfest- und Fernsehgarten-Niveau angekommen. Man kann sich nicht so recht vorstellen, was noch kommen soll. Dazu passt, dass DJ Heartstring, Malugi und Marlon Hoffstadt in diesem Jahr recht puristische Sets gespielt haben, sich also auf ihre Techno- und Trance-Roots besinnen.

Max Fritz: Malugi hat doch kürzlich einen Edit von One Republics „Apologize” veröffentlicht, das ist das Gegenteil von Rückbesinnung und die absolute Til-Schweigerisierung.

Cristina Plett: TikTok-Techno ist verwässert und aufgegangen in Mainstream-Kultur und echte Clubkultur. Das sieht man an Styles, Tanzstilen und populären DJs. Es ist somit kein Ding mehr für sich. Und: Als TikTok-Raver bezeichnet man ja inzwischen auch fast jeden, der einem im Club unsympathisch ist und ein NAKT-Outfit anhat. Der Begriff ist auch verwässert.

Alexis Waltz: Sad!

Cristina Plett: Ich denke aber, es kann noch weitergehen, indem DJ Heartstring im ZDF Fernsehgarten spielen und Ski Aggu auf den ESC fährt, was in den YouTube-Comments einige fordern.

Alexis Waltz: MancherTikTok-Raver:innen sind nicht mehr aktiv, andere sind den Weg zur:m „normalen” Influencer:in gegangen.

Ben-Robin König: Die werden ja alle auch älter, man kann nicht ewig in der Kettendynastie tanzen.

Max Fritz: Die Frage ist auch, wo man die Grenze zu Dance Music zieht – muss man vielleicht auch gar nicht.

Cristina Plett: Eben, die Grenze ist doch schon länger löchrig.

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