Polygonia, Popp – Candid (Squama)
Simon Popp hat eine Ausbildung in Jazz-Drums genossen und ist eng mit dem Münchner Label Squama verbandelt. Auf seinen Veröffentlichungen dominieren raffinierte, ruhige Stücke, in denen natürlich perkussive Elemente eine große Rolle spielen, die aber auch seine Neugier für synthetische Klänge reflektieren. Hinter dem Künstlernamen Polygonia wiederum steckt Lindsey Wang, die zwar aus dem clubbigen Spektrum der Musikwelt herkommt, in diesem aber zu den Acts gehört, die sich ihren eigenen Reim auf Dancefloor-Futter machen – das bewies sie zuletzt wieder auf großartige Weise mit ihrer EP Otro Mundo, die in allen Stücken dokumentiert, dass Wangs Künstlername vermutlich einiges mit ihrer Vorliebe für Polyrhythmen und ihrem breitgefächerten stilistischen Interesse zu tun hat.
Auf Candid greifen diese individuellen Sphären harmonisch ineinander, wobei die zurückhaltende Atmosphäre, die Popps Werk prägt, auch hier bestimmend ist. Doch Lindsey Wang bringt gebrochenere, uneindeutigere Stimmungslagen mit ein, oder die gemeinsame Chemie erzeugt diese. Sehr gut geht diese Formel in etwa der Hälfte der Stücke auf, im meditativen „Ysop” oder in „Nakuku”, das ein wenig klaustrophobisch beginnt, was aber wenige Takte später von Wangs Stimme konterkariert, aufgehoben und dann mit fast schon clubbigen Chords und Bleeps in eine freie, fluffige Track-Definition überführt wird. Andere Stücke wirken eher wie Zwischenspiele, denen aber der folgende Gegenpart fehlt – in diesen Momenten vermisst man ein wenig die Energie von Polygonias Produktionen. Mathias Schaffhäuser
Russell E.L. Butler – Call Me G (T4T LUV NRG)
Als vor fünf Jahren das Debütalbum von Russell E.L. Butler erschien, gab es in der Musik sowohl Trauer als auch Wut. Auslöser war der Lagerhausbrand des Clubs Ghost Ship in Oakland mit 36 Toten, dem sich die Platte widmete. Fünf Jahre später erscheint Butler ruhiger, gesammelter und fokussierter. Call Me G ist eine Liebeserklärung an traditionellen House in seiner sanften Gestalt, bei Bedarf wird er mit Dub-Anleihen in größere Räume überführt. Butler reduziert zugleich radikal, verzichtet größtenteils auf Melodien, an Harmonien nimmt er nur das Wenigste. Mitunter geht es dicht an die Grenze zur Monotonie. Vor der bewahrt aber der stoische Flow des Albums, der sogar in dem einen, stets gleichen Akkord steckt, den Butler im Titeltrack über zehn Minuten beibehält. Von Tiefe spricht sich da immer so leicht, aber wie soll man sonst nennen, was sich einstellt, wenn man meint, sich in diese Angelegenheit zu versenken? Für Dynamik sorgt übrigens nicht zuletzt der von Butler selbst beigesteuerte Vokalpart mit den Worten: „Can you call me? Will you call me? All that I want is for you to call me by my name. My name is G.” Tim Caspar Boehme
Shed – Towards East (The Final Experiment) [Reissue]
Towards East, gen Osten, heißt das aktuelle Album von Shed, das nun auch digital erscheint, nachdem es 2022 nur als Vinyl im Kulturkaufhaus Dussmann in Berlin erhältlich war. Im Allgemeinen steht Shed für die Maximierung des Drucks, der Clubmusik so unwiderstehlich macht.
Auf diesem Konzeptalbum tritt er aber aus der Unmittelbarkeit des Dancefloors heraus und verbreitet mit elegischen, symphonischen Klängen eine nachdenkliche Stimmung. Dabei scheint es auch um seine Geschichte als DDR-Bürger in den Achtzigern und als Techno-Jünger in den Neunzigern zu gehen. Zumindest legen das die Tracktitel nahe. Eine Nummer heißt „KMA – Towards East”, was sich wahrscheinlich auf die Karl-Max-Allee, die Ostberliner DDR-Prachtstraße bezieht, eine andere „Reichenberger”. Damit ist wohl die Reichenberger Straße in Kreuzberg gemeint, in der das erste Hard Wax beheimatet war, ein Geburtsort von Sheds Techno-Berlin. Dabei kann er auch hier, auf dem schreddernden, an die mittleren LFO erinnernden Breakbeat-Track „Absolute” etwa, drastisch und laut klingen. Dennoch liegt ein entrückter Schleier über dem Album, dessen Qualität unter anderem darin liegt, dass es aus dem melancholischen Abgesang auch eine optimistische, in die Zukunft weisende Kraft entwickelt. Alexis Waltz
Speedy J – Ginger (Warp) [Reissue]
Hardcore ist unser Mantra! So eingängig lässt sich die Rotterdamer Raveszene Anfang der Neunziger beschreiben. Einen wegweisenden Gegenentwurf dazu setzte 1993 ausgerechnet der Rotterdamer DJ und Musikproduzent Speedy J mit seinem Debütalbum Ginger, einem Listening-orientierten Techno-Album.
Ob das Percussion-lastige „Fill 4”, das Boogie-getränkte „Beam me Up!” oder das Ambient-Minimal-Kunststück „Pepper” – Speedy J zeigte damals, dass es nicht nur um „höher, schneller, weiter” wie im Hardcore geht. Elektronische Musik kann auf Vielfalt zwischen Minimal, Ambient und Percussion setzen. Speedy J bereitete so den Durchbruch des Techno vor nunmehr schlappen 30 Jahren vor. Darunter können Tracks firmieren, die unterschiedlichste Stimmungen ausdrücken. Übrigens: Ginger von Speedy J war der sechste Release in der nicht ohne Grund Artificial Intelligence benannten WARP-Serie. Das Album reiht sich 2023 in einen Reigen an Wiederveröffentlichungen ein, die offenbaren, dass Techno eben doch schon ein paar Lenzen alt – oder sollen wir sagen jung – ist. Liron Klangwart
Skatebård – Spektral (Digitalo Enterprises)
Der Barde des modernen Electro und Italo ist zurück, diesmal mit einer LP mit Material von 2001 bis 2005, zusammengestellt von DJ Sotofett. Was erst mal altbacken anmuten könnte, doch die lange Lagerzeit der hier vorgestellten Tracks tut dem Spaß keinen Abbruch. Es ist purer Maschinenfunk des nordischen Ausnahmetalents, mit catchigen Riffs und genügend Kernigkeit, um auch heute noch den Floor zu rocken.
Der Opener „Vaskemaskin” ist erstaunlich technoid, loopig und reduziert. Man hört den Arrangements ihren Live-Charakter an, ähnlich wie bei KiNK fliegen einem die Elemente hier mit ordentlich Punch und Spontaneität um die Ohren. Der Sotofett-Mix „Den Anarkistiske Anode” kommt verzerrt, übersteuert und gewohnt schräg daher, „Bassi” hat dafür den Charme früherer Skatebård-Produktionen mit ihren schillernden, an Italo angelehnten Synths. „Strengje” findet dagegen den Mittelweg zwischen skandinavischem, von Arpeggios getriebenem Tech-House und einen sexy Basement-House-Groove. „Spektral – Electro” wiederum beschließt die LP wohlwollend auf einer an Detroit-Klassiker erinnernden Note und macht seinem Namen dabei alle Ehre.
Insgesamt schmeckt diese acht Tracks starke Sammlung deutlich mehr nach einer Doppel-EP als nach einem wirklichen Album, aber sei’s drum. Bei Skatebårds Musik geht es eben nicht um hochtrabende Konzepte, sondern Musik, die zum Bewegen animiert. Mission erfüllt. Leopold Hutter
Tom Thiel – Album (Arjunamusic)
Tom Thiel gehört zu den zentralen Protagonisten der Berliner Elektronik-Szene der Neunziger und Zweitausender. Mit Max Loderbauer betrieb er den Electronica-Act Sun Electric, als Fischerman’s Friend entwickelte er einen experimentierfreudigen Clubsound zwischen House und Industrial, als Bus produzierte er dubbige Downbeats. Thiel treibt das Misstrauen gegenüber konventionellen Track- und Songstrukturen an. Er arbeitet behutsam mit einfachen Klangpatterns und beobachtet genau, wie sie in verschiedene Richtungen kippen, die aus Sounds Musik entstehen lassen.
Solche Anmutungen von Tracks prägen auch sein zweites Soloalbum, das stilistisch am ehesten an Sun Electric anknüpft. Am experimentellen Pol ist da etwa „Emag Ballad”, das auf überraschend sanfte Weise zwei Störgeräusche in Beziehung setzt. Ein Synth-Ton schlängelt sich durch diese Konstellation, sodass eine Ahnung von Melodie und Komposition entsteht. „Bursts” liegt am anderen Pol, es ist deutlich mehr Track: Ein metallisches Schlagholz, ein Gläserklirren und ein unerwartet zupackender Bass lassen einen Micro-Funk entstehen, Glitch-Klänge sorgen auch hier für eine poetische Note. So setzt Tom Thiel einen radikalen Anspruch auf äußerst leisen Sohlen um. Alexis Waltz