Es gibt Tracks, die gleich mehrere musikalische Gesichter haben. Eigentlich ist das eine Binse, nicht nur in der elektronischen Tanzmusik: Original, Version, Edit, Remix – das produktionstechnische Potenzial einer Idee reicht von formatbedingter Verdichtung bis zum kreativen Freibrief.
Es gibt aber nur wenige Tracks, bei denen die Produzent:innen selbst, also ohne „Fremdeinwirkung” anderer, zwei Varianten einer Idee auf eine 12-Inch packen, die sich konsequent einander bedingen, um die Geschichte der Chords, Stabs, Beats und Pads wirklich auszuerzählen. „Solanus” von Vainqueur ist einer dieser Tracks.
Es ist 1996 und Techno läuft. Global. Während die undergroundige Ursuppe tapfer weiter undergroundet, heben sich die Hände bereits weltweit gen Himmel. Tradition gilt, ist aber nicht mehr die entscheidende Haltung für die kredible Weiterentwicklung des Four-to-the-Floor-Status. Der Dancefloor schlägt im Mainstream Wurzeln und provoziert Produktionen, über die der Diskurs heutzutage den Mantel des Schweigens oder zumindest ein anekdotisches Filter legt. So auch in Berlin, einem der zahlreichen Epizentren der selbst ernannten Herrschaft über den Beat. Mittendrin: die creative bubble rund um den Plattenladen Hard Wax.
Der Shop war nie ein gallisches Dorf, sondern vielmehr ein Sammelbecken für all diejenigen, die nach wie vor an die Zukunft glaubten und das bessere Morgen feierten, konsequent nach links und rechts schauten, dachten und produzierten. Zur gleichen Zeit wurde in den Medien landauf und -ab im 125-BPM-Rhythmus ein Fragezeichen nach dem nächsten hinter diese Jugendkultur gesetzt. Und die media outlets, die ein Quäntchen Verständnis für die Evolution der Tanzmusik übrig hatten, umarmten einfach alles. Wer damals kein Kabelfernsehen hatte, ist heute ein besserer Mensch.
Und im Hard Wax? Der Laden war nicht nur Anlaufstelle für Käufer:innen von Platten, sondern immer auch kreative Keimzelle: Basic Channel waren bereits Geschichte. Main Street ebenfalls, Maurizio war praktisch abgeschlossen. Burial Mix und Rhythm & Sound in den Startlöchern. Laden-Gründer Mark Ernestus hatte mit seinem musikalischen Partner Moritz von Oswald gleich mehrere Labels und Interpretations-Plattformen ins Leben gerufen, um das Erbe Detroits und Chicagos zu dokumentieren, mit Updates zu versorgen und vor allem weiterzuentwickeln. Das Label Chain Reaction öffnete diese mehr oder weniger anonyme Nomenklatur für die, die im Plattenladen nicht nur 25er-Kartons mit 12-Inches durch die Gegend schoben, sondern auch selbst Musik machten. Vainqueur – René Löwe – war einer dieser Menschen.
Vier Vainqueur-Maxis erschienen auf Chain Reaction zwischen 1996 und 1997. Dieses Kapitel von Löwes Output wurde mit der CD-Compilation Elevations abgeschlossen, einer Veröffentlichung, mit der der Potsdamer heute eher semi-zufrieden ist: „Das war schon ein Gemischtwarenladen, es passte nicht wirklich zusammen. Die 12-Inches stehen für sich, aber die albumtaugliche Sequenzierung habe ich erst mit der Reissue Reductions 1995-1997 für mich gelöst.” Das war 2018. Auf drei 12-Inches und digital.
Auch schon wieder fünf Jahre her. Darum ist es umso wichtiger, zu klären, worum es hier eigentlich geht. Vainqueur hatte bereits 1992 mit „Lyot” – der zweiten Veröffentlichung auf Maurizio – einen Slammer hingelegt, bei dem sich selbst Jeff Mills in die Hose gemacht haben dürfte. Die Releases auf Chain Reaction jedoch atmeten einen neuen Geist: reduzierter. Vier Jahre waren vergangen, es war eine andere Zeit.
Leben in Zwischenräumen
Weniger offensichtliche technoide Offensichtlichkeiten, dafür mehr Sounddesign auf der windigen Klippe zwischen zwingenden Bassdrums und künstlerischer Wirkmacht. Egal, ob „Reduce” oder „Elevation”: Vainqueur lebte und lebt in den Zwischenräumen. Das Stück „Solanus” mit seinen zwei Mixen bringt diesen Ansatz wie nichts anderes auf den Punkt. Das Original folgt der Dominanz einer clever in den Hintergrund gemischten Bassdrum, auf deren Basis sich dubbige Stabs praktisch ohne Hall mit präzise alleingelassenen Flächen und abstrahierten Vocal-Reminiszenzen kleine Bömbchen hin- und herschicken. Disco ohne Disco.
Die Euphorie, die dem Track innewohnt, ist kaschiert und wattiert und entwickelt vielleicht genau ob dieser Techniken eine unfassbare Strahlkraft. Hier kommen keine schon 1996 musealen Sounds aus Rolands Rhythmus-Abteilung zum Einsatz. Der Groove ist zickig, bollert sich selbst in den Sonnenuntergang. Und auch die Chords haben eine bis zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger unbekannte Scharfkantigkeit. Die klangliche Erzählsprache von „Solanus” setzt(e) neue Akzente. Elf Minuten und 45 Sekunden pure Forschung, jenseits jeglicher akademischer Beinstellerei.
Und mit dem „Extracted”-Mix auf der B-Seite verwandelte Löwe diesen schon epochalen Entwurf in einen der aktuell immer noch relevantesten Ambient-Tracks aller Zeiten. Beats? Raus. Vocals? Anders. Flow? Endlos. Die Maracas surren – zurren aber vor allem. Das Zischelnde steht für das Wagnis, mehr oder weniger ausdefinierte Ideen komplett umzudrehen, in eine neue Richtung zu lenken – ihnen Raum zu geben. Atmen ist auch 2023 immer noch die wunderbarste Erfindung des menschlichen Körpers.
Mit seinen Releases und seinem Ansatz auf Chain Reaction war Vainqueur nicht allein – im Gegenteil. Es gab einige Menschen im Hard Wax, die auf ähnliche Weise versuchten, Techno neu zu kontextualisieren. Scion (Vainqueurs Projekt mit Peter Kuschnereit – DJ Pete), Various Artists (Torsten Pröfrock), Monolake und Porter Ricks arbeiteten alle an einer neuen Definition der gemeinsamen Vergangenheit, die gerade ein paar Jahre alt war. Warum eigentlich?
„Mein Vater ist Ingenieur, meine Mutter Kunstlehrerin. Ich war also immer mit dem Technischen und dem Kreativen konfrontiert”, sagt Löwe. Wir treffen uns – standesgemäß – im Hard Wax. „Ich habe beide Seiten kennengelernt. Nach dem Mauerfall kaufte ich Platten und landete dabei schließlich im Hard Wax. Hier gab es von Beginn an einen Austausch mit den Produzenten aus Detroit. Mark Ernestus hatte schnell Drumcomputer am Start und experimentierte. Ich dachte: Das kann ich auch, irgendwie. Ich habe dann Equipment gekauft und vor allem mit DJ Pete gearbeitet. Irgendwann ließ er sein Equipment bei mir und ich arbeitete einfach weiter.”
„Wir haben uns ständig neue Sachen vorgespielt. Die Grenzen verschwammen, wurden immer unwichtiger. Dancefloor hier, andere Dinge dort.”
René Löwe
Die Gemengelage im wiedervereinigten Berlin war kreativ, aber auch unübersichtlich. „‚Lyot’ hörte ich zum ersten Mal zur Loveparade, auf einer Party in der Halle Weißensee. Der Track lief mehrmals am Abend – das war total irre. Etwa 1995 haben Pete und ich dann wirklich Gas gegeben.”
Genau aus diesem Spirit entstand das Label Chain Reaction.
„Wir haben uns ständig neue Sachen vorgespielt. Die Grenzen verschwammen, wurden immer unwichtiger. Dancefloor hier, andere Dinge dort. Dass das Mastering-Studio Dubplates & Mastering mittlerweile im Hard-Wax-Gebäude eingezogen war, brachte völlig neue Dinge auf den Plan. Einige der Engineers hatten einen komplett anderen Background. Als ich das Vainqueur-Projekt begann, stand eines für mich fest. Die klassischen Drum-Sounds aus House und Techno langweilten mich. Ich konnte sie nicht mehr hören. Das Studio 440 von Sequential Circuits brachte damals frischen Wind. Mit dem Sampler/Sequenzer konnte ich Drums aus anderen Sounds bauen. Ich – wir – wollten Dinge anders machen. Damit waren wir nicht allein. Die Sähkö-Platten standen hoch im Kurs, Robert Hood ging mit Minimal Nation auch neue Wege und die Releases auf Profan klangen auch anders. Das hat mich bestärkt. Ich fühlte mich nicht allein mit meinen Ideen.”
Mitte der Neunziger gehörte das Studio 440 schon fast zum alten Eisen. 1986 war die Hardware auf den Markt gekommen. Die Sample-Zeit war sehr begrenzt, die Auflösung epochentypisch gering. Gespeichert wurde auf Disketten. „Der große Vorteil war jedoch, dass das Gerät ein Filter hatte. Das war bei einigermaßen erschwinglichen Drum-Samplern damals nicht die Norm.” So entwickelte sich das Studio 440 zur go-to solution im Hard-Wax-Umfeld. Und weil Synths und Sampler eben einen eigenen Klang haben, entstand wie von selbst eine Art Label-Sound auf Chain Reaction. „Der ist schon sehr harsch. Und erst durch das EQing entstand Räumlichkeit. Das war eine immerwährende Suche. Und eine Herausforderung, den einzelnen Elementen ihren Platz zu lassen.”
„Damals war Musik mehr als Party. Sie war auch keine Kunst – sie war Forschung.”
René Löwe
Die Motivation hinter „Solanus” erinnert Löwe heute noch sehr genau: „Ich wollte einen Club-Track produzieren, der ohne Hi-Hats, Clap et cetera auskommt und trotzdem nach vorne geht. Hier ist die Bassdrum, der Rest ist Sound.” Die B-Seite – „Extracted” – entstand eher zufällig. Löwe war schon wieder an einer anderen Idee dran, besann sich dann aber auf die Struktur des Originals, fügte ein paar Chords und eine angetäuschte Fläche ein. Beide Versionen lassen sich auf unterschiedlichste Weisen hören, sprich: Die Musik bietet mehrere Einstiegspunkte als Trigger für das Gehirn. Beat, Geknurschpel oder eben die Vocal-Samples.
Was hören wir da eigentlich? „Love?” „Könnte sein”, sagt Löwe und lacht. „Das Schöne an Instrumentalmusik ist ja, dass sie offen für Interpretationen ist. Eigentlich ist dieser Sound ein Streicher-Sample, das ich bearbeitet und mehrfach neu gesampelt habe. Verwendet habe ich dann nur ein kurzes Snippet, so entstand das Chorhafte.” Von „Solanus” existieren mittlerweile mehrere Versionen. Keine Neuaufnahmen, sondern vielmehr spezifische Edits. Das ist keine Negierung des Originals, sondern einfach der damaligen Situation geschuldet. Edits waren kein einfaches Unterfangen: „Das Original war ursprünglich noch viel länger, rund 17 Minuten. Ich habe Mark Ernestus gebeten, mir zu helfen. Er hatte damals schon einen Mac mit der Sound-Designer-Software, ich saß neben ihm und habe gesagt: Bitte hier schneiden, das raus und so weiter. Bei früheren Produktionen haben wir das sogar noch an der Bandmaschine gemacht.”
Das Set-up im Vainqueur-Studio war übersichtlich. Ein paar Synths, ein paar Effektgeräte (der Yamaha SPX 900 zum Beispiel, aber auch das legendäre DP/4 von Ensoniq), ein EQ von Clark und ein nicht minder legendärer Rack-Mixer von Roland, der ebenfalls vor allem mit seinen gut klingenden EQs punktet. „Der Mixer ist fast schon ein Instrument. Ich habe ihn noch immer.”
Floppys von früher
Was Vainqueur mittlerweile wieder hat, sind die originalen Sounds und Sequenzer-Daten von damals. „Vergangenes Jahr habe ich mir ein Studio 440 geborgt. Die Floppys von damals haben alle noch funktioniert, ich konnte also alles erneut sampeln. Jetzt habe ich die gesamten Tracks unbearbeitet in Logic. Nicht nur die, die damals erschienen sind, sondern auch unveröffentlichtes Material. Das alles nochmal zu hören, ist schon krass. Ich will dieses Kapitel für mich abschließen, gerade was die ambienten Entwürfe angeht. Ich bin aktuell damit beschäftigt, sie zu editieren. Ich will sie veröffentlichen. Bei Chain Reaction gab es irgendwann eine Pause, der Sound veränderte sich, und ich hatte das Gefühl, mit meinem Studio und dem Equipment der ersten 12-Inches da nicht mehr mithalten zu können. Mittlerweile bin ich so weit, diese Fragmente sinnvoll zusammenführen zu können.”
Die Chain-Reaction-Releases brachten René Löwe damals an einen Punkt, an dem er durchaus darüber nachdachte, DJing und Produzieren zum Vollzeitjob zu machen. Umgesetzt hat er diesen Plan nie. Heute erinnert er die damalige Berliner Szene als eher übersichtlich und klein. Mit viel internem Austausch, aber vergleichsweise geringer globaler Bedeutung. „Natürlich schauten wir nach England. Detroit war in Berlin immer präsent. Aber die Musikszene war in sich verortet. Nicht so präsent, und vor allem nicht verknüpft mit Bewegtbild, wie es heute auf Social Media ganz normal ist. Musik war damals wichtiger. Alle Komponenten spielten eine Rolle. Die Beats, die Sounds, aber auch das Visuelle. Das hat sich heute verschoben. Mit der Digitalisierung und all ihren Möglichkeiten hat sich der Zugang zur Musik verändert. Sie ist nur noch ein Aspekt von vielen. Das hat auch klangliche Konsequenzen. Wer mit MP3s aufgewachsen ist, hört Musik anders. Und ist vielleicht vollkommen überwältigt von einem Besuch im Konzerthaus bei klassischer Musik. Das ist nur ein Beispiel. Die Idee von Techno, wirklich an der Zukunft zu forschen, die spielt heute keine relevante Rolle mehr. Aber es gibt immer wieder Gegenbewegungen. Damals war Musik mehr als Party. Sie war auch keine Kunst – sie war Forschung.”
Und Forschung ist selten kompatibel mit dem Mainstream. Den Hard-Wax-Akteur:innen wurde oft vorgeworfen, sich der Öffentlichkeit zu verweigern, das damals noch gar nicht existierende Gameplay der Medien nicht mitzuspielen. Faktisch ist das Quatsch. Wer fragte, bekam auch Antwort. Löwe erinnert zum Beispiel die Titel-Story in The Wire über das Label und seine Künstler aus dem Frühjahr 1998. „Als Vainqueur sprach ich damals mit Kodwo Eshun. Und war total fasziniert davon, was für Assoziationen diese Instrumentalmusik bei ihm auslöste. Ich fand das total schön. Das erinnerte mich auch an meine Kindheit, die Klassik-Konzerte, zu denen mich meine Eltern mitnahmen. Ich hörte die Musik und sah Bilder im Kopf. Das ist entscheidend, das will ich nach wie vor erreichen.”
„Ich hatte andere Pläne, wollte Informatik studieren und hatte mit meinem Vollzeitjob bei Hard Wax genug zu tun.”
René Löwe
Die Story in The Wire war laut Löwe ausschlaggebend für eine erste US-Tournee, die die Berliner mit einer bislang komplett unbekannten Szene konfrontierte. „Ich glaube, dass ich damals eine Remix-Anfrage von Skinny Puppy hatte. Das war alles ziemlich verrückt. Eine vollkommen andere Szene. Wir wurden eher als obskur wahrgenommen – und fanden im Industrial- und Noise-Umfeld statt. In UK war das schon anders. Da war Krautrock die Verbindung. Irgendwie näher dran.”
René Löwe entschied sich schließlich gegen diese Karriere. Die Beschleunigung und Kommerzialisierung der elektronischen Musik waren ihm nicht geheuer. „Das war nicht mein Ding. Jedes Wochenende auf Piste zu sein. Ich hatte andere Pläne, wollte Informatik studieren und hatte mit meinem Vollzeitjob bei Hard Wax genug zu tun. Mir war – und ist – Musik zu wichtig.”