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August 2023: Die essenziellen Alben (Teil 1)

Benedikt Frey – Fastlane (ESP Institute)

Es ist ein passender Titel, den Benedikt Frey seinem mittlerweile dritten Album verliehen hat. Doch anders als es die ersten Tracks vermuten lassen, geht die Reise entlang der zwölf Stücke nicht allein über die drexciyanische Aquabahn. Vielmehr driftet der Produzent – der sich für je einen Track die INIT-Kollegin Nadia d’Alò und Breakbeat-Buddy O-Wells mit hinters Steuer holt – durch verschiedene Randbereiche elektronischer Musik aus den Neunzigern. Obwohl Electro in seinen verschiedenen Spielarten, Rhythmen und Tempi den Ton maßgeblich angibt, stellen unterwasserweltliche Bässe, Vocoder-Vocals und knarzige Acid-Lines für diesen Trip lediglich drei von einer Vielzahl von Koordinaten dar.

Fastlane ist angereichert mit Stil- und Klangzitaten, die nie als direkte Pastiche und vielmehr als atmosphärische Paraphrasen funktionieren. Schön sind insbesondere die Momente, in denen Frey einen weiten Umweg um die Konventionen nimmt, wie beispielsweise auf „Element”, das zwischen zwei eher klassisch ausstaffierten Tracks mit Grummel-Drone-Bass und Stop-and-Go-Breaks eine umso schwindelerregendere Unwucht erzeugt. Freys Retrofuturismus ist nah an Dystopie und Depression angesiedelt, der kreative Umgang mit etablierten Klangsprachen hingegen erzeugt letztlich ein rundes und nuanciertes Stimmungsbild. Der Mann weiß eben, welcher Weg auf der Fastlane bereits hinter ihm liegt. Und er versteht sogar ohne Navi, wohin die Reise gehen sollte. Kristoffer Cornils

Brontez Purnell – No Jack Swing (Dark Entries)

Den meisten Menschen würde es freilich schon genügen, dieses eine Talent, das zum guten Leben reicht. Brontez Purnell ist derweil gleich von zweien geküsst. Der US-Amerikaner ist Schriftsteller, Gewinner des Whiting Awards 2018 für Belletristik, und Musik, die kann er auch. Und grandios geschickt ist er, wenn er beides kombiniert. So finden sie auch auf seinem neuen Album No Jack Swing gleich die beiden Seiten der einen Purnell-Medaille. Das erscheint auf Dark Entries, jener stilungebundenen Stimme des Undergrounds. Welchen curveball man auch vom Musikperlentrüffelschwein und Labelhead Josh Cheon zugeworfen bekommt, er flattert, er sitzt. Wohl deshalb ist das Label längst auch renommierter Kommerz. Vorwurfsvoll ist das nicht gemeint, die Quantität ist eine neue Form der Qualität. Man weiß nicht, was als Nächstes kommt.

Brontez Purnells lyrische Prosa über ausgewaschenem Vintage-Fuzzypop hat selbst auch viele Facetten im Gepäck, doch es gilt: Immer schön locker lassen, funky und poppig sein, trotzdem die Schürfwunden einer Gesellschaft aufreißen, we do live in a society after all, und die will untersucht werden. Der ursprünglich aus Alabama stammende, jetzt seit zehn Jahren in Kalifornien lebende Künstler grätscht in einem Spagat aus Humor und Scharfsinn ohne große Verletzungen. Trotz des Albumtitels jackt und swingt es gehörig. Und wer nicht schmunzeln muss ob der Nahbarkeit solcher Textzeilen wie „Ghosting Is a Clear Form Of Communication”, hat das bisweilen sozial deprimierende Cyber-Dystopia des Jahres 2023 noch nicht ganz durchdrungen. Doch Purnell kann auch Vergangenheitsbewältigung, wie in seinem Stück „I Got Joy”, das die Aufarbeitung seiner Erfahrungen in einer Kirchencommunity im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika verarbeitet. In der durch und durch rassistischen Welt lässt Gemeinsamkeit ein Gefühl der Stärke entstehen. Andreas Cevatli

Hyroglifics – I’ll Wait, I Guess (Critical Music)

Ich gebe zu, nach dem atmosphärischen Intro-Track war ich zunächst voreingenommen – mal wieder so ein Drum’n’Bass-Album mit durchgehendem Tech-Step-Beat? Öde. Tatsächlich kam es anders. Ganz anders.

Schon beim zweiten Tech-Stepper überrascht Matt Harris alias Hyroglifics mit UK Garage-inspirierten Vocal-Chops. Und danach wird’s komplett anders. Und zwar ständig. Hip-Hop-infizierter Grime, mit und ohne Vocals. Electronica-verwandte Ambient-Stepper mit Marianengraben-tiefen Bassdrums. Auch immer mal wieder ein Tech-Stepper zwischendurch, doch zum Beispiel aufgebrochen durch grummelnde Ambient-Breaks. R’n’B-artiger, atmosphärischer Chillout. Rasend schneller Electro’n’Bass im Stile eines Client03. Bass-Music-artiger Broken Beat trifft Reese Bass. Gegen Ende gar Four-To-The-Floor-Tracks im Bereich von Techno und House – ohne natürlich genau dem einen oder anderen Genre zuzuordnen zu sein. All das findet sich hier. Fast nach jedem Track schlägt Harris eine neue Volte. Dabei kommt ihm zugute, dass kaum einer länger als drei Minuten und ein paar Sekunden ist. Langweilig wird es also nie. Und zu einer organischen Einheit wird das Album letztlich durch Harris’ superbes Sounddesign. Sodass ich nun zugeben muss: Ich bin so überrascht wie beeindruckt. Tim Lorenz

Ian Elms – Good Night (Dark Entries)

Die kalten Schwingungen der frühen Achtziger hallen hartnäckig nach. Auch dank ausdauernder Wiederveröffentlichungsbemühungen, mit denen Minimal-Synth- und Cold-Wave-Bestände neu erschlossen werden, was in regelmäßigen Abständen Übersehenes und Vergessenes oder einfach lange Vergriffenes zutage fördert. Vorneweg das Label Dark Entries, das mit dem Album Good Night des Engländers Ian Elms jetzt ein auf den ersten Blick sprödes Juwel von 1982 noch einmal zugänglich macht.

Zurückgenommene Synthesizerpatterns, eher vorsichtig tastend als entschieden sägend, bilden entweder fast schwebende Soundpatterns übersichtlicher Dauer oder verbinden sich mit Elms’ lakonischer Prosa. Gelegentlich kommt ein Schlagzeug hinzu, das stoisch den Takt gibt. Die Bezeichnung isolationist trifft auf die Platte ziemlich perfekt zu. Elms hält seine Stücke so offen, dass die Klänge für sich zu stehen scheinen. Und anders als bei manchen Minimal-Synth-Beiträgen, die instrumentale Passagen schon mal mit ausufernden Kindermelodien zukleistern, lässt Good Night stets genügend Raum zum Denken beim Hören. Musik, bei der Alleinsein Spaß macht. Tim Caspar Boehme

Javano – Metropolis (Temple Of Sound)

In einer Zeit, in der Clubmusik bestimmt wird von einerseits superschnellem Techno mit Hang zu mal augenzwinkernder, mal unfreiwilliger Cheesiness und andererseits von ewig recycelten House-Klischees, gehört schon eine gewisse Portion Mut dazu, ein Album zu veröffentlichen, das vor allem eines ist: Relaxt.

Stilistisch setzt sich Metropolis vorwiegend aus Drum’n’Bass-, House- und Dub-Elementen zusammen, die letztlich alle nur angerissen werden. Jack Sumarno alias Javano bedient sich charakteristischer, oder besser: ihm dienlicher Aspekte des jeweiligen Stils und kleidet diese in seinen wunderbar entspannten und ästhetischen Sound ein. Der schnelle Euro ist damit vermutlich nicht zu machen in der derzeitigen Musikwelt, die auch jenseits von Clubs Tik-Tok-getrieben von schnellem Häppchen-Konsum und hohem Sensations-Potenzial dominiert wird. Was dem Londoner ziemlich egal sein dürfte; sein Selbstbewusstsein zeigt sich auch darin, dass er sich traut, in einigen Tracks recht nahe an der Grenze zum Kitsch zu segeln. Was funktioniert, weil er ein Händchen dafür hat, aus diesem Grenzbereich die unpeinlichen Elemente herauszufiltern – Sounds, Harmonien und Melodien, die in ihrer unverstellten Emotionalität besonders gut in dieser Dangerzone zu finden sind. Wenn’s dann mal etwas über die Grenze hinausgeht wie in „Wanderer”, ist das leicht zu verschmerzen, weil gut drei Viertel der Stücke auf diesem gelungenen Album von der Risikobereitschaft Javanos profitieren. Mathias Schaffhäuser

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