Function – Green EP (Infrastructure New York)
Tiefe und Präzision sind seit jeher die Grundfesten von David Sumners Sound. Nachdem er im Jahr 2007 nach Berlin übergesiedelt war, hinterließ er damit seine Spuren in der Hauptstadt, prägte als Resident das Berghain und eine neue DJ-Generation mit einer ebenso melancholischen wie slicken Ästhetik, die sich deutlich von der seinen beeinflusst zeigte. Seine letzte Veröffentlichung als Function liegt eine Weile zurück, die EP Green ist in doppelter Hinsicht als Comeback gemeint: Zum 25. Jubiläum reanimiert er sein Label Infrastructure New York. Reissues und Veröffentlichungen junger Artists, ebenso aber auch neues Material sollen folgen.
Green eröffnet diese erneute Offensive gleichermaßen als Rückschau, wie es in ästhetischer Hinsicht Perspektiven aufzeigt. Neben einer Live-Version des pulsierenden, bleependen Tracks „Desire and Memory” finden sich darauf Stücke, die im selben Maße stimmungs- und ahnungsvoll klingen, etablierte Function-Formeln für die Gegenwart neu ausrechnen. „Initiation” scheint der Dub-Techno-Tradition Berlins Tribut zu zollen, „New Designation” ist ein rumoriges Ambient-Stück und „Aeternum (Meridian)” öffnet sich kosmischen Anklängen. Kristoffer Cornils
Henry Greenleaf – Dog Eared (YUKU)
Menschen mit ausgeprägter Neigung zu Techno und House geben Beats ohne durchmarschierende Bassdrum oft keine Chance. Doch, bitte, hört euch diese EP an, denn sie zählt zu den allerbesten, die 2023 erschienen sind. Und sie entzieht sich einfacher Kategorisierungen. Zwar spielt der Four-to-the-Floor-Beat so gut wie keine Rolle auf Dog Eared, andererseits ist die trackübergreifende Sound-Aussage der EP näher an Techno als an den klanglichen Mustern der bekannten Breakbeat-Schulen.
Wiederum wäre es aber falsch, hier von Fusion zu reden. Henry Greenleaf vermengt nicht einfach einen Beat hiervon mit einem Bass davon und packt obendrauf eine Keyboard-Sequenz aus dem Trance-Regal. Der Londoner macht sich viel mehr seinen ganz eigenen Reim auf all die zur Verfügung stehenden Versatzstücke und Einflüsse, und vor allem tut er das couragiert und höchst geschmackssicher, nie marktorientiert, sondern erfrischend freigeistig und mit hörbar großem Spaß. Mathias Schaffhäuser
Solma – Mindless Being / Sentient Model (Virtual Forest)
Der Betreiber des Pariser Labels Virtual Forest mit einer Doppel-EP. Bei Solma und Virtual Forest kommt Ambient mit einem Plus. Die Mindless Being-Hälfte hebt an mit tropischem Futurismus: „Under The Black Lodge” vermischt Regenwald-Vögel mit Funksignalen und kosmischen Obertönen. Schon in „Encoded Dreams” werden die statischen Zustände durch rotierende Downtempo-Beats in Bewegung versetzt, loopig und lässig, um dann auf einem fast fingerschnippenden Drive wegzufliegen. „Reef (Impossible Mix)” bleibt in Tempi unter 100 und entwickelt einen durch Chorus-Effekte beinahe quadratischen, entspannten Schlag. So, dass der langsam aus den Geräuschen eines Moores bei Nacht auf „The Path They Followed” in Szene gesetzte Wankel-Breakbeat überrascht. Das Gewicht bleibt aber auch hier auf dem stehenden Klangbild, der clubtaugliche Tanz ist gleichsam Rahmen wie Grundierung der Szenerie.
Die vier Tracks auf Sentient Model klingen im Vergleich zu Mindless Being noch freier in ihrer Anlage. „Emptiness (Void Reset)” entwickelt sich hin auf einen Drone metallener Saiten, und „The Key To Killing Your Ego” setzt Wissensliebe gegen Alles-ist-gut-Weisheit: röchelnde Amphibien, Lichtspiegelungen, von der Abendsonne gefärbte Wölkchen aus Klang. Noch mehr eine Studie vorgefundenen Materials ist dann „Subglacial (m3 s)”, wo Rundgeformtes sich über eine kalte Wassergegend erhebt. Solma lässt sich für diese Atmosphäre über sieben Minuten Zeit, und es stellt sich ein glasklares Bild ein, von klärender Wirkung. Das schwirrende Drum’n’Bass-Gefährt mit Namen „C-Linopolis” sorgt für einen Schluss auf dem fliegenden Teppich. Hörenswert, und dabei mit großem Finale. Christoph Braun
Viikatory – Mystery Of The Planet (Dance Trax)
Gleich mit dem ersten Track ihrer EP für DJ Haus’ Dance Trax beweist die belarussische Produzentin Viikatory, dass sie keine Gefangenen macht. Rückhaltlos stampft die Goa-Kick nach vorn und zieht, ob man nun will oder nicht, auf den tiefdunklen, belebten Dancefloor. Auch beim Titeltrack ist das Trance-Element stark, wenn auch der Goa-Faktor zurückgeschraubt wird. Stattdessen bestimmen jetzt Ethno-Vibes das Geschehen und sorgen für, ja, nun, mysteriöse Stimmungen. Der dritte Track setzt dann einfach auf minimalistische Techno-Härte ohne Wenn und Aber – stumpf, aber gut. Tim Lorenz
youANDme – Swell / Repeat (Rotary Cocktail)
Drei Jahre nach der mit Steve Bug produzierten EP I Hear You ein neues Lebenszeichen von Martin Müller alias youANDme auf seinem nunmehr auch schon seit bald zwei Dekaden bestehenden Label Rotary Cocktail. „Swell / Repeat” ist atmosphärisch schwebend aufgehängter Deep House in hoher Luftfeuchtigkeit, mit aus der Tiefe gegen den Takt polternden Synkopen, in der Wirkung so suggestiv wie effizient; Titel und Labelgrafik beziehen sich auf das recht rare Bandechogerät Super Echo ES-5 der japanischen Firma Evans.
Der brasilianische Producer Renato Ratier verschiebt in seinem Remix die Klangbalance in Richtung Minimal Techno, fährt auch den Tropical-Vibe zurück – zurückbleibt ein zwar hinreichend funktionales, aber auch ein wenig anämisches und sprödes Tool.
Kenny Larkins Bearbeitung indes ist eine Erinnerung daran, was Detroit Techno im besten Fall vermag: Mit unerbittlicher Konsequenz marschiert die Kick übers Rückenmark ins Stammhirn ein, während die verwaschenen Claps im Stereoraum hin- und herspringen und das Arrangement sich immer dichter und dräuender zusammenzieht. Episch. Harry Schmidt