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Strom Festival: Raffiniert und ein wenig durchtrieben

Strömender Regen peitscht über den Potsdamer Platz. Die Berliner Schlechtwetter-Tristesse steht sogar den Tourist:innen ins Gesicht geschrieben, doch dann endlich in Sichtweite: Die terrassenartige Staffelung von Beton über dem Haupteingang unter dem goldenen Dach der Berliner Philharmonie. Das glückliche Ende der kurzen, aber intensiven Donnerwetter-Odyssee und der Beginn des zweitägigen Strom Festivals, das elektronische Musik aus dem Clubkontext in die raffinierte Architektur des Konzerthauses transportiert.

Die Künstler:innen im Line-up repräsentieren nicht nur verschiedene Stilrichtungen der elektronischen Musik, zum Teil haben sie sogar zur Entstehung ganzer Genres beigetragen. GROOVE-Autorin Celeste Lea Dittberner erkundet, wie diese Acts mit Computerschrott neuartige technologische Ansätze entwickeln, mit Alltagsgegenständen Konzertflügel drangsalieren und dabei unerwartete Brücken zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlagen.

Jeden Spalt des verwinkelten Foyers setzt eine beeindruckende Lichtinstallation in Szene. Das Farbspektakel ist ständig in Bewegung und erzeugt eine mystische Atmosphäre, die den irrgartenartigen Charakter des Raumes noch steigert. Das geheimnisvolle Ambiente spiegelt sich auch in den neugierigen Gesichtern der ersten Besucher:innen wider, die sich – eingedeckt mit Crémant, Weißwein, Bier und Brezeln – vor dem Mischpult tummeln und geduldig auf den ersten Act des Abends warten.

Das stimmungsvoll ausgeleuchtete Foyer der Philharmonie auf dem Strom-Festival (Foto: Celeste Lea Dittbirner)
Das stimmungsvoll ausgeleuchtete Foyer der Philharmonie auf dem Strom (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Den Auftakt im Foyer macht der DJ, Komponist und Kurator des Strom, Stefan Goldmann, mit einem experimentellen Mix aus Avantgarde und Minimal Techno, dessen kraftvolle Rhythmen die ersten Zuschauer:innen schon nach kurzer Zeit mitreißen. Eine weitere durchdachte Videoinstallation passt sich der immersiven Wirkung des Sets an, so werden unter anderem Aufnahmen einer rauen Meeresbrandung auf einen großen Bildschirm über dem Pult projiziert und verstärken die (be-)rauschende Wirkung des Sets.

Das Publikum beobachtet die Szene mit Begeisterung, ein monotones und kicherndes Staunen liegt über dem Saal.

Als Kurator und in seiner eigenen Arbeit beschäftigt Goldmann ein ästhetisches Verständnis elektronischer Musik im Zuge der Digitalisierung. Damit ist er die perfekte Besetzung für die Gestaltung eines Festivals, das seinen Fokus gleichermaßen auf DJ-Sets legt, die weit über den Clubkontext hinausreichen, wie auf neu interpretierte Anwendungsformen von Analogtechnik aus dem 20. Jahrhundert.

Hauschka & Angermann (Foto: Celeste Lea Dittbirner)
Hauschka & Angermann (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Es ist Punkt halb 10, der letzte Ton von Goldmanns Set verklingt. Rasch wird noch das Getränk geleert, dann schlängelt sich die Menge auch schon die Wendeltreppe hoch und strömt in den Großen Saal. Zwei durchtriebene Gäste mit britischem Akzent kippen noch schnell und heimlich den Inhalt ihres Glases in einen Thermobecher, um bei der Liveperformance von Hauschka und Kai Angermann nicht auf dem Trockenen sitzen zu müssen. Raffiniert, denn eigentlich sind Getränke im Saal strengstens untersagt.

Unerwartete Demontage

Obwohl noch nicht alle Besucher:innen ihren Platz gefunden haben, betreten die beiden Musiker die Bühne. Vom Zeitplan möchte man offenbar nicht abweichen. Das Licht wird gedimmt und der Saal in ein dunkles Violett getränkt. Das Duo harmoniert wie gewohnt – das präparierte Piano von Hauschka und Angermanns Perkussionsinstrumente formen eine makellose Einheit. Nach knapp 50 Minuten steht Hauschka unverhofft über dem offenen Piano, pflückt die Gegenstände, eine Rolle Klebeband etwa, mit denen er das Klavier präpariert hat, aus den Saiten und lässt sie über die Bühne sausen. Das Publikum beobachtet die Szene mit Begeisterung, ein monotones und kicherndes Staunen liegt über dem Saal. Nachdem Hauschka den letzten Dämpfer aus dem Korpus des Flügels entfernt hat, setzt er sich wieder hin und spielt weiter. Eine unerwartete Performance vor dem verträumten Ende des Konzertes.

Flaschen und Gläser sammeln sich auf dem Stehtischen (Foto: Celeste Lea Dittbirner)
Flaschen und Gläser sammeln sich auf dem Stehtischen (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Noch kontrastreicher wird es anschließend im Foyer. Man hat den Saal noch nicht einmal verlassen, da dröhnen einem schon laute, verworrene Beats entgegen. Die junge Künstlerin Nídia aus Lissabon vereint afro-portugiesische Polyrhythmen mit europäischem und US-amerikanischem Electro und zieht damit die ersten Tanzwütigen aufs Parkett, während die andere Hälfte des Publikums noch einige Momente länger braucht, um sich auf den abrupten Stimmungswechsel einzulassen.

Club-Manier versus Konzerthaus-Etikette

Ein kurzer Abstecher in den Hermann-Wolff-Saal zur audiovisuellen Installation The Trambling Line von Aura Satz mit Nahaufnahmen von Violinen, chladnischen Klangfiguren und Visualisierungen einzelner Schallwellen. Auf dem Weg zurück fällt etwas auf: Mittlerweile häufen sich die Flaschen und Gläser nicht nur auf den Stehtischen und auf dem Boden, sogar die Spülkästen der Toiletten wurden zu Geschirrrückgaben umfunktioniert. Urkomisch und lebendig, diese Club-Manier in den Räumlichkeiten der Philharmonie! Von der gewohnten Konzerthaus-Etikette hat man sich recht schnell verabschiedet, gleichwohl das gesamte Festival ohne unangenehme Intermezzi verläuft.

Wolfgang Voigts A/V-Act als GAS (Foto: Celeste Lea Dittbirner)
Wolfgang Voigts A/V-Act als GAS (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Die Glocke läutet – das Zeichen, sich wieder im Saal einzufinden. Wolfgang Voigt präsentiert sein Projekt GAS als audiovisuelle Performance, die den Wald als Zufluchtsort inszeniert. Repetitive Formen, durch Effekte produzierte Dekonstruktionen und eine beruhigende Videoinstallation schaffen eine entschleunigende wie düstere Stimmung als eine Art Ruhepol – just bis zu dem Zeitpunkt, an dem Marcel Dettmann zum Kontrastprogramm übergeht. Die eigene Stimmung muss sich um 180 Grad wenden, um bis 3 Uhr zu einem puristischen Set des Berghain-Residents zu raven.

Marcel Dettmann (Foto: Celeste Lea Dittbirner)
Marcel Dettmann (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Der darauffolgenden Tag, Samstag, 20 Uhr: upsammy aus Amsterdam führt mit einem ungewöhnlich dynamischen Ambient-Set in den Abend. Auch ihre Liebe zur Natur spiegelt sich in der Show wider, Pflanzen ranken sich über den viergeteilten Bildschirm hinter der Künstlerin, bis eine intendierte Signalstörung die Aufnahmen abrupt unterbricht.

upsammy (Foto: Celeste Lea Dittbirner)
upsammy (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Ein auch in diesem Zusammenhang außergewöhnlich experimentierfreudiger Auftritt folgt mit transformed acoustix im Großen Saal: Simon Stockhausen und drei Musiker der Berliner Philharmoniker nutzen ihre Instrumente äußerst vielseitig. So streicht man statt mit dem Bogen mit einem Blatt Papier über die Saiten des Kontrabasses und verfremdet und verstärkt den Klang anschließend mit elektronischen Mitteln.

transformedacoustix (Foto: Celeste Lea Dittbirner)
transformed acoustix (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Wir sind auf dem Strom, nun muss also wieder ein Act folgen, der die Menge zum Tanzen animiert. Und wer wäre dafür schon besser geeignet als Blawan? Das Foyer bebt, flackerndes Licht färbt die Menschentraube blau und rot. Eine Stunde lang kann man nun dem Bewegungsdrang freien Lauf lassen, bevor es wieder zurück in den Saal geht – wo die Sensation des Festivals wartet.

Achtziger-Ästhetik und Detroit-Godfather

Unprätentiös und charmant betritt Robert Henke die Bühne, schnappt sich das Mikrofon und gibt dem Publikum eine kleine Einführung in seine Arbeit CBM 8032 AV, bevor er sich an den „Kontroll-Computer” setzt. Er erklärt die jeweiligen Funktionen der fünf historischen Geräte, einer etwa verarbeitet Signale und Daten und projiziert sie in Form visueller Impulse auf die große Leinwand im Hintergrund.

Robert Henkes A/V-Show CBM 8032 AV (Foto: Celeste Lea Dittbirner)
Robert Henkes A/V-Show CBM 8032 AV (Foto: Celeste Lea Dittberner)

Das optische und sonische Spektakel im Stil des Futurismus der Achtziger lässt nicht weniger als ein Meisterwerk entstehen. Und so ungerecht es dem Folge-Act Juan Atkins, dem Godfather des Detroit Techno, gegenüber klingen mag, hätte das Festival nach dem Auftritt ein wunderbares Ende finden können. Was im Übrigen nicht heißen soll, dass Atkins keine gute Show abliefert. Ganz im Gegenteil. Die Achtziger-Ästhetik greift er sogar selbst auf und startet sein Set mit Synth-Koryphäen wie Kraftwerk, mündet in kristallinem Techno und beendet das Strom gewohnt virtuos.

Juan Atkins (Foto: Celeste Lea Dittbirner)
Juan Atkins (Foto: Celeste Lea Dittbirner)

Nun ist es so, dass viele Festivalbesucher:innen auf einen weiteren Foyer-Rave gar nicht mehr so richtig heiß sind, zumal der Sound dort mit dem eines Clubfloors einfach nicht mithalten kann. Viele strömen nach Henkes Auftritt Richtung Ausgang, hinein in die kalte Februarnacht – dieses Mal in wohliger Erinnerung an ein rundum gelungenes Festivalwochenende im „Zirkus Karajani”.

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