2022 feierte der µ-Ziq-Klassiker Lunatic Harness sein 25-jähriges Jubiläum. Fast zeitgleich zum luxuriös gestalteten Reissue und beeinflusst von den darauf hörbaren Jungle-Einflüssen präsentierte der mittlerweile 51-jährige Mike Paradinas 2022 mit Magic Pony Ride gleich auch ein neues µ-Ziq-Album, das ebenfalls um Jungle-Sounds kreist.
In den Neunzigerjahren begleiteten Producer wie Luke Vibert, Squarepusher oder Global Communication den Weg von Paradinas. Die ersten beiden µ-Ziq-Platten kamen 1993 und 1994 noch auf dem Aphex-Twin-Label Rephlex heraus. Und tatsächlich: Musikalisch wesensverwandt waren Mike Paradinas und Richard D. James damals durchaus. Beide waren geprägt von der britischen Rave-Szene der frühen Neunzigerjahre und dem Techno-Sound aus Detroit. Beide scherten sich nicht um Konventionen, beide hatten Spaß daran, musikalisch auch mal bis zum Äußersten zu gehen. Für sein viertes Album, den erwähnten Klassiker, unterschrieb Paradinas dann bei einem Major Label: Virgin.
Das war 1997, Drum’n’Bass war in dieser Zeit schon groß. Doch auf dem auf Virgin erschienenen Album Lunatic Harness schlugen Jungle- und Breakcore-Sounds nochmal wildere Purzelbäume als zuvor. Konterkariert wurde der Wahnsinn wieder und wieder von Momenten betörender Schönheit. Mike Paradinas hatte schon immer eine Schwäche für Melodien zwischen Bildhaftigkeit, Melancholie und überschwänglichem Gummizellen-Irrsinn.
Nach 2007 war µ-Ziq dann einfach verschwunden, für eine gar nicht mal so kurze Zeit. Nicht so Mike Paradinas in seiner Funktion als Labelmacher. Planet Mu, das er 1995 gründete, war niemals weg. Inzwischen kann es auf eine 27-jährige Geschichte zurückblicken. Labels wie Warp sind heute vielleicht Wagemut und Abenteuerlust abhandengekommen, Planet Mu hingegen lotet das Machbare und manchmal auch das Hörbare immer wieder neu aus. Begeisterungsfähig wie eh und je sucht Mike Paradinas nach spannender Musik. Zur Seite steht ihm dabei seit etwa zehn Jahren Ehefrau Lara Rix-Martin, mit der er auch das Duo Heterotic gegründet hat.
In den Nullerjahren brachte Paradinas auf Planet Mu Wiederveröffentlichungen seiner liebsten Jungle-Produzenten heraus, so etwa von Bizzy B oder DJ Remarc. Dann begeisterte er sich für Dubstep und nicht zuletzt Footwork. Auf Planet Mu fand die Chicago-Szene um Leute wie RP Boo, DJ Nate, DJ Manny oder DJ Rashad erstmals ein weltweites Publikum. Pflügt man sich heute durch die niemals langweilige Diskografie des Labels, stößt man auf Namen wie Venetian Snares, Mary Ann Hobbs, Neil Landstrumm, Jlin, Mrs Jynx, Machinedrum, FaltyDL, Ital oder Traxman.
Im Rahmen unserer Reihe Zeitgeschichten sprach GROOVE-Autor Holger Klein mit Mike Paradinas über seine Teenager-Zeit in einer Rock- und Pop-Band und die Entstehung des einzigartigen Planet-Mu-Katalogs. Außerdem verriet der Brite, warum er auf dem Meilenstein Lunatic Harness als, wie er sagt, „unverbesserlicher Melodiendieb” agierte.
GROOVE: Aphex Twin, Luke Vibert oder Squarepusher, um jetzt mal drei deiner Weggefährten von einst zu nennen, sind auf dem Land aufgewachsen. Du hingegen bist aus London, oder?
Mike Paradinas: Ja, ich komme aber eher aus der Peripherie des Londoner Südens, aus Raynes Park, das liegt in der Nähe von Wimbledon, also letztlich im Nirgendwo. Man muss sich Raynes Park als typischen Suburb vorstellen. Dort gibt es außer einer High Street und einer Bank nichts. Also musst du täglich in den Bus steigen, oder du fährst mit dem Zug ins Zentrum von London. Um Platten zu kaufen, fuhr ich meistens nach Kingston, das war nicht so weit wie die Reise ins Zentrum.
Was machte man in Raynes Park als Teenager?
Ich hatte zusammen mit Freunden aus der Schule eine Band gegründet. Wir waren 13 oder 14 Jahre alt und coverten anfangs Rock’n’Roll-Songs, so was wie „Tutti Frutti” von Little Richard oder „Since You’ve Been Gone” von Rainbow. Aber schon bald schrieben wir, also unser Sänger und ich, auch eigene Songs. Unser Line-up änderte sich über die Jahre ständig, irgendwie kam oder ging immer einer. Ab 1989 pendelte sich das dann bei einer fünfköpfigen Besetzung ein. Zusammen blieben wir bis 1993 oder 1994, da war ich 21 oder 22.
Damals hast du auch schon elektronische Musik produziert.
Das war die Zeit, in der ich [das erste Rephlex-Album, Anm.] Tango N’ Vectif herausbrachte. Für mich ergab die Band keinen Sinn mehr. Vor einiger Zeit habe ich ein paar meiner einstigen Bandkollegen wiedergesehen. Das war ziemlich witzig. Unser damaliger Drummer brachte Aufnahmen unserer Songs mit, neben älteren auch neuere von 1992. Lustigerweise war das gar nicht so weit von dem entfernt, was ich solo auf Tango N’ Vectif gemacht habe, nur eben mit Vocals und Gitarren. Da bin ich glatt ein bisschen nostalgisch geworden.
Warum ist aus der Band nichts geworden?
Die Band, Blue Innocence hieß sie, bedeutete mir damals viel, in sie steckte ich fast all meine Energie. Wir hatten ziemlich viele Auftritte und etwa 150 Fans, die immer zu unseren Gigs in Süd-London, Ost-London, West Ealing und Bristol kamen. Einmal spielten wir sogar in Manchester. Für eine Plattenveröffentlichung reichte es aber nicht.
„Ich hätte uns nie im Leben gesignt.”
Deine musikalischen Vorstellungen hatten sich also von denen der Band immer stärker entfernt?
Ja, ich war immer derjenige, der etwas sonderbar war. Ich mochte in den frühen Neunzigern sowas wie Tomita oder Sachen auf R&S, außerdem Industrial-Platten von Meat Beat Manifesto, Throbbing Gristle oder Chris & Cosey, während die anderen [Pop-Rock-, d.Red.]Bands wie Deacon Blue hörten. Als die Rave-Szene groß wurde, bauten wir Dance-Elemente in unsere Musik ein. Ich glaube, wir klangen dabei ein bisschen wie EMF oder die Soup Dragons, also diese Kack-Variante von Indie Dance. Okay, ein paar gute Songs hatten wir schon, doch die Stimme unseres Sängers war letztlich nicht gut genug, außerdem war unser Songwriting etwas plump. Ich hätte uns nie im Leben gesignt. Spaß machte mir die Sache aber dennoch.
Hat diese Zeit in der Band heute noch einen Einfluss auf dich?
Mit den meisten aus der Band bin ich heute auch noch befreundet. Neben der Band nahm ich aber bereits meine eigenen Tracks auf, auf einem Vierspur-Rekorder. Außerdem besaß ich ein Roland-D-50-Keyboard und einen Alesis-HR-16-Drumcomputer. Einen brauchbaren Computer hatte ich noch nicht, daher musste ich mir den Atari ST meines Freundes, Francis Naughton, dem jüngeren Bruder des Bassisten der Band, ausleihen. Mein erstes Album Tango N’ Vectif nahm ich teilweise noch zusammen mit Francis auf. Als ich im Sommer 1991 die ersten Tracks fertigstellte, war ich 19 Jahre alt. Nach den Sommerferien ging’s an die Uni.
Was hast du studiert?
Architektur. An der Kingston University lernte ich über einen gemeinsamen Freund Aphex Twin kennen. Dieser Freund war übrigens Hal Udell, einer der Gründer von Clear Records. Das war eine gute Zeit, wir legten auch zusammen auf. Jeden Donnerstag veranstalteten wir eine Party. In der Mensa hatte das Studierendenwerk eine Bar eingerichtet. Wir ließen dann die Rollläden runter und machten aus dieser Bar einen Club. Wir spielten Techno, dort lief viel Detroit-Kram von Plus 8 oder Jeff Mills, die Pitchregler schön nach oben gezogen. Ich durfte auf diesen Partys nur den Anfang machen und spielte daher etwas entspanntere Sachen, aber auch ein bisschen Hip Hop und frühe Hardcore-Sachen wie Shut Up & Dance oder The Prodigy. Zu dieser Zeit, also 1991/1992, stand ich extrem auf Breakbeats. Die erste Aphex-Twin-Maxi Analogue Bubblebath, ich erinnere mich noch genau daran, wie sie im September 1991 herauskam, war in unserem Club ein großer Hit. Zwei Monate später kam „Digeridoo”.
Waren diese frühen Aphex-Twin-Stücke eine entscheidende Inspiration für deine eigene Musik?
Auf jeden Fall. Aber ich hatte schon vor der ersten Aphex-Twin-Platte meine eigenen Tracks geschrieben. Als ich dann Aphex Twin erstmals hörte, dachte ich: Das klingt ja ein bisschen wie das, was ich mache! Auch bei ihm klangen die Drums beschissen, so wie eigentlich die gesamte Produktion nicht gut war. Später erfuhr ich, dass Richard seine Tracks auf Kassette aufgenommen hatte. Ich arbeitete ganz ähnlich, ich nahm alles mit meinem Vierspurrekorder auf. Meine Drumsounds waren sehr verzerrt, er arbeitete mit verzerrten Drums aus Videospielen. Und so fühlte ich mich der Musik von Aphex Twin sehr verbunden, lange bevor ich ihn kennenlernte.
Was hast du in seiner Musik gesehen?
Eine sehr britische Version von Techno, eben keine Kopie des US-Sounds. Es gab zu der Zeit aber auch noch andere Leute, die einen ähnlichen Ansatz verfolgten, so zum Beispiel The Black Dog, aus denen später Plaid hervorgingen.
Damals gab es in Großbritannien schon einige Leute, die bei allen Unterschieden im Detail einen gemeinsamen Weg gingen und eine Vielzahl von Einflüssen miteinander verwoben. Ich denke da zum Beispiel auch an Global Communication. Neue, bisher ungehörte Sounds und eine Entwicklung, die scheinbar rasend schnell voranschritt.
Da ist was dran. Tom und Mark von Global Communication lernte ich auch schon früh persönlich kennen. Am Anfang veröffentlichten sie ihre Musik noch unter dem Namen Reload. Ich erinnere mich noch daran, wie ich nach Somerset hochfuhr, um Mark Pritchard in Crowcombe zu besuchen. Dort hatte er damals sein Studio. Für mich war das toll, ich lernte Leute kennen, die auf meiner Wellenlänge waren und bereits Platten veröffentlicht hatten. Tom und Mark hatten Interesse signalisiert, Musik von mir auf ihrem Label Evolution herauszubringen, das war der Grund für meinen Besuch.
„Meine Melodien sind alle geklaut. Große Gedanken machte ich mir dabei nicht. ”
Ist die Platte erschienen?
Am Ende wurde daraus nichts, ihr damaliger Vertrieb ging Pleite. Ich muss zugeben, dass ich schon ein bisschen nostalgisch werde, wenn ich an all das zurückdenke. 30 Jahre ist das schon her! Verrückterweise sind wir alle immer noch im Musikgeschäft, Tom, Mark, Autechre, Richard. Irgendwie alle, mit denen ich damals zu tun hatte – außer meine Freunde aus der Band. Lunatic Harness kam nur ein paar Jahre später heraus, mir kam das aber wie ein anderes Zeitalter vor. In dieser Zeit wohnte ich zur Miete, ich zog alle sechs Monate um. Ich teile die Zeit gerne in die Häuser ein, in denen ich lebte. Als ich Tango N’ Vectif und Bluff Limbo aufnahm, wohnte ich noch bei meiner Mutter. 1994 zog ich mit Jega, einem Freund von der Kingston University, der später auch auf Planet Mu veröffentlichte, nach East London. 1996 zog ich mit meiner damaligen Freundin nach Worcester. Ihre Familie lebte dort und meine Freundin war schwanger. Lunatic Harness ist zu dieser Zeit entstanden. Als ich die Arbeit an dem Album abgeschlossen hatte, war unser Sohn bereits auf der Welt. Heute ist er 25 Jahre alt, das ist irre.
Was hat dich in dieser Zeit musikalisch beschäftigt?
Jungle war für das Album eine entscheidende Inspiration. Ich muss gestehen, dass die ersten Squarepusher-Platten auf Lunatic Harness einen großen Einfluss hatten, speziell sein erstes Album. Ich glaube, ich habe auf einigen Tracks ganz dreist von ihm geklaut. Beim ersten Album von D’Cruze, das auf Suburban Base herauskam, habe ich mich ebenfalls bedient. Ein großer Einfluss waren außerdem Maxis von Remarc oder DJ SS. In jener Zeit kaufte ich ziemlich viele Jungle-Platten. „Approaching Menace” war übrigens mein Tribut an den deutschen Produzenten Panacea und das Label Position Chrome. Wo wir gerade bei deutschen Platten sind: Die Riot Beats-Releases von Alec Empire fand ich auch extrem gut. „The King of the Street”war ein Top-Tune. Alles, was mir gefiel, fand auf die ein oder andere Weise seinen Weg in mein Album. Sogar Blur dienten mir als Inspiration. Meine Melodien sind alle geklaut. Große Gedanken machte ich mir dabei nicht.
Was auffällt: Drum’n’Bass spielte bei dir nie eine Rolle, ganz im Gegensatz zu der früheren Breakbeat-Ära zwischen Hardcore, Breakcore und Jungle. Diese Stile fand ihren Weg schon in deine frühen Tracks.
Stimmt. Wobei ich auf meinen ersten drei Platten noch keinen Sampler verwendete, ganz einfach deshalb, weil ich keinen besaß. Also versuchte ich, mit meiner Drum Machine Breakbeats zu machen. Auf In Pine Effect waren auf ein paar Tracks erstmals mehr oder weniger echte Breakbeats zu hören. Einen Hardcore-Track streng nach Definition habe ich aber nie gemacht. Ich bewegte mich ja außerhalb der Szene. Damals musstest du in der Szene sein, alleine um die richtigen Platten zu bekommen. Normalerweise ging ich gerne zu Beggars Banquet, da bekam man aber keine Hardcore-Platten. Die kaufte ich bei Troublesome Records in Kingston, wo immer wieder aus dem Lieferwagen heraus die neuesten Hardcore-Platten verkauft wurden. Als dann Jungle aufkam, wurde es schwierig.
Wieso?
Du hast die Tracks auf den Piratensendern gehört, aber die sagten nur ganz selten an, was gerade lief. Also musstest du in einen Laden gehen und fragen. Doch dort bekamst du fast nie die richtigen Platten in die Hand gedrückt. Die verkauften dir das, was sie unbedingt loshaben wollten, und behielten den guten Kram für die DJs unter dem Tresen. Das war wirklich frustrierend. Als einige Jahre später eBay an den Start ging, arbeitete ich meinen Nachholbedarf ab und kaufte mir all die Platten, die ich damals nicht bekommen konnte. Noch immer habe ich nicht alles, da gab es so viel. In Worcester war es dann eh fast unmöglich, Jungle-Platten zu bekommen. Die Piratensender konnte ich nach meinem Umzug auch nicht mehr empfangen. Dort gab es dennoch einen ganz brauchbaren Plattenladen, wo ich mir ab und zu mal eine Drum’n’Bass-Platte holte. Ab 1996 war Jungle ja eigentlich eh tot, da gab es nur noch Drum’n’Bass. Und Drill’n’Bass, was so etwas wie der beschissene Nachfolger von Jungle war.
Der Begriff an sich ist doch schon beschissen, oder?
Ich hätte diesen Begriff nie verwendet, mir wäre aber auch nie eine Genrebezeichnung wie IDM in den Sinn gekommen. Intelligent Dance Music, ich bitte dich! Als ich jung war, nannten wir alles Techno. Es gab Techno und es gab House. Das war’s. Doch Journalisten benötigen wohl Kategorien wie diese. Keiner von uns sprach jemals von IDM. Dann kam ich nach Amerika und jeder fragte mich nach IDM. Ich hab’ zuerst gar nicht verstanden, wovon die redeten. Allerdings gebe ich zu, dass wir den Begriff Electronica verwendeten. Doch in Amerika bedeutete Electronica etwas anderes, ich glaube, die meinten damit so etwas wie Big Beat, Chemical Brothers oder die späteren Prodigy.
Lunatic Harness hast du in Zusammenarbeit mit Virgin Records veröffentlicht. Vom Aphex-Twin-Label Rephlex kommend war das ein ganz guter Sprung. Wie kam es dazu? Deine Musik hatte ja nur bedingt kommerzielles Potenzial. Von heute aus betrachtet erscheint es ziemlich merkwürdig, dass Virgin mit dir zusammen das Label Planet Mu machen wollte.
Aus heutiger Sicht kann man sich das gar nicht mehr vorstellen. Doch damals nahm Virgin zum Beispiel auch Photek, Source Direct oder Luke Vibert unter Vertrag. So ungewöhnlich war das also gar nicht. Natürlich hätte ich bei Rephlex bleiben können, doch die haben mich nicht bezahlt. Wie du dir aber sicher vorstellen kannst, wollte ich mit meiner Musik Geld verdienen. Jeder möchte ja etwas von seiner Arbeit haben. Die Verbindung zu Virgin entstand, als ich einen Remix für die Band The Auteurs machen sollte. Erst habe ich einen Mix gemacht, da wusste ich noch nicht so recht, was ich von dem halten sollte. Also hab’ ich einen weiteren aufgenommen, mit dem war ich aber immer noch nicht so richtig zufrieden. Beim dritten Remix passte es dann.
Welchen haben sie gepickt?
Am Ende wurde daraus ein Mini-Album mit sechs Remixen. Der Titel: The Auteurs vs. µ-Ziq. Ich bekam richtig viel Geld dafür, 3.000 Pfund. So viel Geld hatte ich noch nie in meinem Leben, ich wohnte ja damals noch bei meiner Mutter. Danach zog ich mit meinen Freunden aus der Uni zusammen. Die Platte verkaufte sich ziemlich gut, also kam irgendwann das Angebot von Virgin: Willst du nicht einen Deal über mehrere Alben bei uns unterschreiben und eine Menge Geld verdienen? Ich sagte: Klar doch. Für Virgin hatte ich gewisse Sympathien, etwa wegen The Human League oder Heaven 17. Ich hatte dort auch mit wirklich netten Leuten zu tun, die mir sehr viel Freiheit ließen, zumindest bei den ersten Veröffentlichungen. Als mein Album Royal Astronomy anstand, machten sie mir aber klare Vorgaben. Die Platten vorher verkauften sich nicht so gut wie erhofft. Ich sagte: Okay, ich richte mich danach, hoffen wir mal, dass sich Royal Astronomy besser verkaufen wird. Es kam aber leider anders, sodass mich Virgin rausschmiss.
„Jetzt kann ich nur hoffen, dass wir die 50.000 Pfund, die das Projekt verschlungen hat, wieder einspielen. Wenn wir die 2.000 LPs nicht alle verkaufen, dann können wir Konkurs anmelden.”
Welche Vorgaben machte dir Virgin denn für Royal Astronomy?
Sie wollten, dass ich ein poppigeres Album abliefere, mehr mit Vocals arbeite und Strings verwende.
Und so wurde das Ergebnis ziemlich orchestral.
Genau. Außerdem war Virgin an der Auswahl der Tracks beteiligt. Das letzte Wort überließen sie jedoch mir. Das Ziel war, ein anderes Publikum zu erreichen. Ich war beim Virgin-Label Hut Recordings gesignt, das von David Boyd geleitet wurde. Boyd wurde später Chef-A&R bei Virgin. Hut Recordings wurde mehr oder weniger wie ein Indie betrieben, das Label hatte auch sein eigenes Büro. Es war eine gute Zusammenarbeit in freundschaftlicher Atmosphäre. Es wurde nie über Anwälte kommuniziert. Außerdem fand ich es sehr nett, dass sie mich für andere Labels arbeiten ließen. So durfte ich zum Beispiel mit dem Jake-Slazenger-Projekt bei Clear bzw. Warp Platten veröffentlichen, außerdem machte ich mit Aphex Twin das Album Expert Knob Twiddlers für Rephlex.
Nun hast du die Rechte für eine Wiederveröffentlichung von Lunatic Harness bekommen, pünktlich zum 25-jährigen Jubiläum. Als Bonus hast du die Tracks der EPs Brace Yourself und My Little Beautiful dazugepackt, außerdem noch unveröffentlichtes Material. Die Sache ist also ein ziemlich dickes Paket aus vier Platten geworden. Wieso hast du dieses Projekt in Angriff genommen?
Ganz einfache Antwort: Ständig kommen Leute auf mich zu und bitten mich darum. Du hast es schon gesagt: Wir besitzen nicht die Rechte an diesem Album, also mussten wir uns an Universal wenden. Universal besitzt jetzt den Virgin-Katalog. Ich wollte nicht einfach das Album wiederveröffentlichen, wie es war. Dieser Prozess zog sich vor allem wegen der Lizenzen ewig in die Länge. Mit der Zusammenstellung begann ich bereits vor über fünf Jahren, geplant war eine Neuauflage zum 20. Jubiläum. Am Ende war ich überrascht, wie viel Geld das alles kostet – angefangen bei den Lizenzgebühren bis hin zu den Produktionskosten der Vinylversion. Die Kosten für die Vinylherstellung sind zuletzt durch die Decke gegangen, das war wirklich ein Schock. Ich hoffe, dass wir bei Null rauskommen.
Wie hast du entschieden, welche Musik dazukam?
Die Zusammenstellung der Tracks war zeitaufwendig. Nicht alle Aufnahmen befinden sich auf einem Tape. „Hasty Boom Alert” zum Beispiel setzt sich aus drei verschiedenen Takes zusammen. Die habe ich dann bei Townhouse, das ist das Mastering-Studio von Virgin, zusammengefügt. Zwei Minuten von diesem Take, zwei Minuten von jenem, auf dem dieser Hall-Effekt, auf den Drums ein ganz anderer. Auf dem Album waren also extrem viele Edits, die ich dann in mühseliger Kleinarbeit wieder nachbildete. Es war echt nicht leicht, den Sound wieder so hinzubekommen, wie er ursprünglich war. Identisch ist er aber nicht, das soll er auch nicht in jedem Detail sein. Das neue Master ist außerdem in 24 Bit und nicht mehr in 16 Bit. Alle DATs waren zum Glück noch in gutem Zustand. Ich hatte von den Tracks meistens auch andere Versionen, aber ich sehe keinen Sinn darin, verschiedene Versionen eines Tracks, die sich nur in Details unterscheiden, auf das Album zu packen.
Mein Ziel war es, das Album so wiederzuveröffentlichen, dass man es von Anfang bis Ende durchhören kann. Jetzt kann ich nur hoffen, dass wir die 50.000 Pfund, die das Projekt verschlungen hat, wieder einspielen. Wenn wir die 2.000 LPs nicht alle verkaufen, dann können wir Konkurs anmelden. Orientiert haben wir uns an den Squarepusher-Zahlen aus dem letzten Jahr. Warp hatte ja nach 25 Jahren Feed Me Weird Things wiederveröffentlicht, mit Erfolg. Allerdings war das Album sehr viel günstiger. Vielleicht hätten wir die Sache nicht ganz so aufwendig angehen sollen.
„2022 habe ich mir den Löwenanteil unseres Schedules für meine eigene Musik gekrallt.”
Lass’ uns über dein Label Planet Mu sprechen. Gegründet hast du es in Zusammenarbeit mit Virgin. Ab wann stand es auf eigenen Beinen? Erst nachdem der Virgin-Deal beendet war?
Schon vorher. Nach Lunatic Harness hatten wir noch die Compilation Mealtime über Virgin veröffentlicht. Die war aber kein Erfolg für Virgin. Also einigten wir uns darauf, dass ich das Label alleine weiterführe. Als Künstler war ich bis 2001 bei Hut Recordings unter Vertrag. Planet Mu ist aber seit 1998 unabhängig. Der erste Release auf Planet Mu stammte von meinem früheren Kommilitonen und Mitbewohner Jega. Mit ihm bin ich immer noch in Kontakt. Inzwischen lebt er in L.A. und macht dort Grafikdesign und 3D-Modelle für Filmstudios. Mit den Jahren fand ich immer mehr Gefallen daran, das Label zu betreiben, obwohl es auch immer schwieriger wurde.
Euer Output ist stets groß geblieben.
Inzwischen sind wir bei Katalognummer 450 angelangt, wenn man die geplanten Releases mitrechnet. Jlins nächstes Album bekommt die Nummer 450. Ich freue mich schon auf das, was wir für nächstes Jahr geplant haben. Zum Beispiel kommt eine Platte von Mun Sing. Das ist Harry Wright, die eine Hälfte von Giant Swan. Außerdem ist ein Album von Speaker Music in der Pipeline, ein paar gute neue Signings haben wir ebenfalls. 2022 habe ich mir jedoch den Löwenanteil unseres Schedules für meine eigene Musik gekrallt.
Wie bewahrst du dir nach 25 Jahren Labelarbeit den Enthusiasmus?
Ganz einfach: Ich finde es großartig, ständig mit Musik zu tun zu haben. So gesehen befördert mich meine Arbeit immer wieder zurück in meine Teenagerzeit, in der ich ständig neue Musik entdeckte.
Über die Jahre hinweg hast du das Label immer wieder neu ausgerichtet. Dubstep spielte mal eine große Rolle, Footwork hat noch immer sein Plätzchen auf Planet Mu.
Ja klar. Von DJ Manny haben wir eine neue Platte geplant, wir sprechen außerdem mit DJ Clent. Ich bin mir nicht sicher, ob man Jlin unter Footwork einsortieren kann, aber auf ihrem neuen Album finden sich auf jeden Fall Footwork-Elemente. Meiner Meinung nach hat Footwork nichts von seiner Relevanz eingebüßt.
In den letzten zehn Jahren hat sich die Musikbranche rasend schnell verändert. Wenn du zurückblickst, hat es dir früher mehr Spaß gemacht als heute oder ist es umgekehrt?
Ich mache es heute genauso gerne wie früher. Ich liebe es, Musik zu hören, und ich habe Spaß daran, mit Künstler:innen zusammenzuarbeiten. Klar, frustrierende Momente gehören dazu. Manche Aufgaben, die früher von den Vertrieben übernommen wurden, werden inzwischen auf die Labels abgewälzt. Wegen der Digitalisierung landet heute immer mehr administrative Arbeit bei uns. Es ist aber nicht so, dass ich ein grundsätzliches Problem mit dem administrativen Teil hätte.
Mehr und mehr Details sind zu beachten.
Das hat vor allem mit dem Streaming zu tun, das kann manchmal brutal nervig sein. Andererseits muss ich sagen, dass Apple Music uns schon des Öfteren unterstützt hat. Die subventionieren Videos, finanzieren Mixe oder geben unseren Künstlern einen Produktionskostenzuschuss. Dafür bin ich wirklich dankbar. Es ist ein bisschen wie mit der Red Bull Music Academy damals, ein Konzern stand dahinter, aber der Laden wurde von Leuten aus der Musikwelt geschmissen. Bei Apple Music merkt man, dass sie mittlerweile mehr und mehr Leute aus den einzelnen Szenen eingestellt haben. Ich habe das Gefühl, dass Apple erkannt hat, dass es vielen Labels einfach an Geld für Marketing, Videos und so weiter fehlt.
Können so die fallenden Umsätze aufgefangen werden?
Natürlich es ist es so, dass sich Platten inzwischen sehr viel schlechter verkaufen als vor 25 Jahren. Andererseits würde ich sagen, dass man heute wesentlich mehr Geld mit Dingen wie dem Publishing verdienen kann als damals. Heute ist das ein Drahtseilakt: Die Wahrscheinlichkeit, mit einer Platte einen Verlust einzufahren, ist deutlich höher.
Und wie bist du mit Planet Mu durch die Nullerjahre gekommen? Das Jahrzehnt war geprägt durch stetig sinkende CD-Verkäufe, Piraterie und Vertriebspleiten.
Es ist inzwischen wieder etwas einfacher geworden, den Kopf über Wasser zu halten. Die Vinylverkäufe gehen nun schon eine ganze Weile wieder nach oben. Gerade in der Pandemiezeit haben die Leute offenbar nach Möglichkeiten gesucht, ihr Geld auszugeben. Das wird aber vermutlich nicht so weitergehen. Die Kehrseite dieses Booms ist, dass die Herstellungspreise durch die Decke gegangen sind, wie auch die Vorlaufzeiten. Abhängig vom Presswerk und dem Auftragsdatum muss man ein halbes Jahr oder länger warten. Ich weiß jetzt schon, was wir nächstes Jahr veröffentlichen werden – weil wir die Herstellung bereits in Auftrag gegeben haben. Dass alles, was heute erscheint, bereits ein Jahr alt ist, finde ich schon frustrierend. Doch zum Glück verändert sich die Musik heute nicht so schnell wie in den Neunzigerjahren. Zumindest kommt es mir so vor, vielleicht liegt es aber nur daran, dass ich alt geworden bin. Aber wenn ich 1993 mit 1996 vergleiche – das erscheint mir wie eine völlig andere Ära.
„Ich habe immer mit so wenig wie möglich gearbeitet.”
Es gab eine Zeit, die dürfte etwa 15 Jahre her sein, in der du dich ausschließlich auf das Label konzentriert und keine eigene Musik mehr veröffentlicht hast. Auch in den folgenden Jahren hast du dich rar gemacht. Warum?
Ich bin einfach nicht mehr reingekommen. Irgendwann, es war 2020, merkte ich, wie es plötzlich wieder aus mir heraussprudelte.
Hatte das mit der Pandemie und dem Lockdown zu tun?
Nein, es hatte damit zu tun, dass unsere Kinder inzwischen größer sind, heute sind sie sechs und acht, und meine Frau wieder ins Arbeitsleben zurückkehren konnte. So hatte ich mehr Zeit und Ruhe. Das Selbstvertrauen, das ich verloren hatte, kehrte wieder zurück. Außerdem fühlte ich mich endlich mit der Software wohl, die ich nutze. Ich war nie ein Tech-Head und Equipment-Freak. Ich habe immer mit so wenig wie möglich gearbeitet. Heute sind das in erster Linie mein Laptop und ein Controller. Natürlich habe ich auch eine Drum Machine und ein paar andere nette Dinge. Es läuft einfach wieder. Mittlerweile habe ich vier Releases fertig, die dann auf die Wiederveröffentlichung von Lunatic Harness folgen werden.
Dein aktuelles Album Magic Pony Ride ist eine Rückkehr zu Jungle.
Fast alles, was ich zuletzt gemacht habe, ist eine Rückkehr zu Jungle-Sounds. Als ich mit Lunatic Harness beschäftigt war, bekam ich Lust, wieder etwas mit Breaks zu machen. Daraus wurde Magic Pony Ride.
Warum reizen dich die Jungle-Sounds zur Zeit so sehr?
Irgendwie ist Konx-om-Pax an allem schuld. Er schickte mir in einer Facebook-Nachricht einen Ordner voller Breaks, den hab’ ich direkt heruntergeladen. Ich muss aber sagen, dass ein großer Teil davon Happy Hardcore war. Aber auch da waren durchaus brauchbare Sachen dabei, ich musste sie halt runterpitchen. Irgendwann dieses Jahr wird auch noch ein Ambient-Album von mir kommen, allerdings nicht auf Planet Mu. Wo, kann ich leider noch nicht verraten.