Desert Flowers Vol.1 (Duna)
Pigreco zum Beispiel: Auf dem „Frequenza Statica” betitelten Stück des Produzenten aus Padua greift ein Vektor nach hinten, um dann weitere Vektoren anzustoßen. Diese bringen eine vorwärtsgerichtete Bewegung ins Rollen, eine unbeirrbare Schleifen-Mechanik ist nun im Gang und wird selbst eingerahmt von harten, metallenen Fräse-Sounds.
Die sich selbst antreibende Skulptur geht über die bloße Bewegung hinaus, da sie ihre Energie selbst erzeugt. Ist der Wind, über lange Zeiträume betrachtet, ein Perpetuum mobile? Jedenfalls nimmt sich das noch junge, bis dato nur mit einer EP in Erscheinung getretene Label Duna mit der Compilation Desert Flowers Fragen wie dieser an. Anhand der Düne, jener Wüstenblume, möchte sie untersuchen, wie sich permanente Transformation anhört. Die Überraschung besteht darin, wie fast alle Tracks einen hart-industriellen Kontrast zum zärtlichen Titel der Sammlung zeichnen.
Denn wie Pigrecos Stück geht auch der Opener „High-Pass Dissection” von Mike Parker nach einigen netten auf der Zwo und Vier betonten Handclap-Beats in die Vollen der Mechatronik und pflanzt einen Stahlkugel-Kreisel ins Zentrum der Finsternis. CONCEPTUAL schranzt gleich aus vollem Halse mittels „Dinamismo Estetico”, und auch Sciahri mit „Cosmosi” oder Ribé mit „Intervalos” liefern fauchend-schabende Warehouse-Banger ab.
Unter den bekannten Namen, die Duna für das Ding gewinnen konnte, bleibt Leria nahe an diesem Klangbild, während Retina.it ein beschleunigtes Kopfnicker-Hörspiel in die Runde werfen. Krasser, anstrengender Stoff, eher zum Zuhause-Hören. Christoph Braun
Dust Of Life (Hard Fist)
Hard Fist, das Lyoner Label von Cornelius Doctor & Tushen Raï, whatsappt sich zum Fünferjubiläum durch den Freundeskreis. Sascha Funke bekommt eine Einladung, Strapontin saves the date und Errortica kühlt schon mal Wodka ein. Denn: Fünf Finger sind eine Faust, die mit neun Tiefschlägen die Prostatü-tata in Slow Motion massiert.
Wer bei Dub und Downtempo nicht wegratzt, von Acid-Tinkturen keinen Ausschlag bekommt und sich beim Schnattern von Synthesizern nicht direkt die Räucherstaberln in die Nasenlöcher rammt, penetriert sich mit Dust Of Life selbst. Geht easy, weil: Die Compilation verkettet Freundinnen und Freunde des Labels. Das heißt, es klingt zwar nicht alles nach demselben Psylo-Punch, aber: Mitgehangen, mitgefangen.
A-Tweed und Balam goaisieren sich zum Wald-und-Wiesen-Rave. Roe Deers und Omar Joesoef bimmeln an the bells. Strapontin und MR TC pachten mit eingeschaltener Lichthupe den linken Streifen auf der Langstrecke. Wie viel Weed man braucht, um die letzten Ecken dieser Comp zu erschließen? I don’t know. Im Zweifelsfall hören wir auf Drogenheini Timothy: „You can only take too little!” Christoph Benkeser
Marcel Fengler pres. 10 Years of IMF (IMF)
Marcel Fenglers Anspruch an sein Label IMF ist heute derselbe wie vor zehn Jahren: Techno in all seinen Facetten abbilden, Newcomern wie Veteranen gleichermaßen eine Chance geben. Hier findet das etwa Ausdruck in Etapp Kyles druckvollem Breakbeat-Opener „None”, dort bedient dann Dasha Rush die stampfend-fiepende Industrial-Variante. Auch Vril lässt sich mit einem für seine Verhältnisse erstaunlich klar umrissenen Electro-Dub-Track blicken, während Fengler selbst als Teil eines Produktionsduos mit The Advent vertreten ist; gemeinsam präsentieren sie einen dröhnenden, geradlinigen Peak-Time-Track für große Dancefloors in voller Fahrt.
Den Hauptteil der Compilation machen dann aber erfreulicherweise vergleichsweise unbekannte Namen aus. Hervorzuheben wären da ONYVAA & Mattia Trani mit ihrer Nummer „Body Smile”, die mit ihrem farbenfrohen Bollern an frühe Zenker-Brothers-Platten erinnert und auf dem entsprechenden Soundsystem bestimmt ihrem Namen gerecht wird. Steya gibt mit „Prototype X” schon mal einen Ausblick auf die kommende Debüt-EP für IMF, die 2023 erscheint: lockere Maschinen-Grooves und Traxx-Style-Vocals bieten den vielleicht coolsten Track der Platte.
Bei allem Anspruch an Varianz im Genre liegt der Fokus dieser Compilation doch klar auf den härteren, Big-Room-affinen Tracks. Dub-Techno-Liebhaber:innen etwa gucken in die Röhre und können vielleicht gerade noch mit Rodiaz’ (ebenfalls in die Vollen gehender) Schlussnummer „Those Ancient Sages” etwas anfangen. Leopold Hutter
RS Produções – Saúde Em 1º Lugar (Príncipe)
Gesundheit an erster Stelle: So lässt sich Saúde Em 1º Lugar übersetzen, der Titel der zweiten Compilation der Crew RS Produções aus dem Umfeld des Labels Príncipe. Das ist nach wie vor eine der besten Adressen für avancierte Clubmusik und die zentrale Plattform der Lissabonner Batida-Szene, an deren geografischen wie stilistischen Rändern sich die Produzenten DJ Narciso und Nuno Beats sowie Neuzugang Farucox bewegen.
Von drei gemeinsamen Tracks von DJ Narciso und Nuno Beats abgesehen wechseln sie sich ab. Narcisos vier Stücke sind von Melancholie und ahnungsvollen Klängen durchzogen, erlauben aber genauso rhythmische Volten: „Semana Chata” klingt, als hätte jemand bei der Testfahrt eines bitterbösen Bleep-Techno-Tunes die Percussion nicht richtig angeschnallt. Auch in den im Verbund mit Nuno Beats produzierten Stücken bleiben der Sound trocken und die Grooves wackelig, die Atmosphäre wird durch den Einsatz von Dub oder sogar einer Blues-Gitarre aber zusätzlich emotional aufgeladen.
Nuno Beats selbst setzt schon eher auf eine geordnete Formensprache und lässt auf dem Highlight „Tribal” kongenial einige wenige Piepstöne über einen rollenden, shufflenden Groove tänzeln. Farucox lässt seine langsamen, Percussion-betonten Tracks ein bisschen klingen wie einen Modularsynthesizer auf Hustensaft: Sehr auf den Sound der einzelnen Elemente fokussiert, rhythmisch-psychedelisch. Das steht sinnbildlich für den Ansatz von RS Produções, der viele Elemente und stilistische Referenzen in sich aufnimmt und doch ein reduziertes Understatement ausstrahlt: Eine gewisse Nacktheit im Klang trifft einen abenteuerlichen Umgang mit Rhythmuselementen. Kristoffer Cornils
Time is Away – Ballads (A Colourful Storm)
Seit Dezember 2013 bereichert das Londoner Duo Time Is Away, bestehend aus Elaine Tiemey und Jack Rollo, das Universum von NTS Radio mit der gleichnamigen Show, deren breit gefächerter musikalischer Inhalt oft über das Hörbare hinausgeht. Nicht zuletzt dank bezaubernder Specials zu Künstler:innen und Philosoph:innen wie Derek Jarman, Jonas Mekas, Walter Benjamin oder J.G. Ballard. Für das australische Label A Colourful Storm haben sie nun eine Compilation zusammengestellt, deren Titel Ballads nicht nur Balladen zusichert.
Denn von den 13 Songs, Kompositionen, Gedichten und Liedern sind nur ein paar genuine Balladen. Vielmehr pendelt die exklusive Musik von Newcomern wie dem Horvitz Morris Previte Trio, Antonietta Borgoli, Merula aus Schweden, Yuko Kono aus Tokyo, der englischen Folkband The Unthanks oder der Dichterin Christina Petrie bezaubernd zwischen romantischem Jazz, Folk, Klassik, Piano, Trip-Hop, Gesang, Ambient und Fourth-World-Music hin und her.
Auch arrivierte Künstler:innen wie die im Anti-Establishment schon lange tätigen Acts Christmas Decorations aus New York, die französischen Folkmusiker Gilles Chabenat und Frédéric Paris, der Schweizer Jazzer Tanto Pressanto, die russische Pianistin Rachel Bonch-Bruevich sowie die französische Sängerin Stella Vander oder die aus Melbourne stammende Indieband Hydroplane steuern eigenwillige Journey-Music bei, die sonst nicht unbedingt ihr musikalisches Metier sind. Hydroplane, die in den Neunzigern ätherischen Indierock veröffentlichten, sind mit dem Trip-Hop-Tune „The Love You Bring” zu hören, dessen Hit-Nuancen an „Safe From Harm” von Massive Attack erinnern.
Das epischste Arrangement heißt „Just (After Song of Songs)”, stammt vom US-amerikanischen Komponisten David Lang, dauert etwas über 13 Minuten und betört mit einem sanft-minimalen Spiel zwischen Gesang, Cello, Violine und Percussion, das wunderbar zu einem Peter-Greenaway-Film passen würde.
Eine Sammlung diverser Stile, die Time Is Away in einem mitreißenden Spannungsbogen vereinen. Dramatisch, mystisch, düster, emotional. Musik für innere Tänze, Momente des sehnsüchtigen Innehaltens und der Allgegenwärtigkeit eines nicht erklärbaren Zaubers. Michael Leuffen