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Thomas Melchior: Der Sprung ins warme Wasser

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Thomas Melchior (Sämtliche Fotos: Presse)

Zumindest in einschlägigen Feierkreisen ist das Berlin der 2000er nach wie vor sagenumwoben, es gilt als das Nonplusultra der hauptstädtischen Feierkultur. Clubs wie die Bar25, die längst Geschichte sind, Outfits, auf die die Leute in Friedrichshain heute stolz wären, und eine Musik, die durch ihre minimalistische Beschaffenheit zum stunden- bis tagelangen Mitwippen einlädt.

Auf dem Zenit dieser Form des Ausgehens kam auch Thomas Melchior nach Berlin und avancierte durch diverse Gigs im Club der Visionäre oder bei Get Perlonized! in der Panorama Bar und mit Veröffentlichungen auf dem namensgebenden Label Perlon zur Koryphäe der minimalen Musik.

Sein minimaler Entwurf von House-Musik ist stilprägend für den angesagten Sound jener Zeit und findet bis heute weltweit Anklang. 14 Jahre nach seinem letzten Album veröffentlichte Melchior im Februar dieses Jahres sein drittes Album Vulnerabilites – über Perlon. Unser Autor Till Kanis hat ihn zum Interview in seinem Berliner Studio besucht, um mit ihm über seinen musikalischen Werdegang, seine Faszination für reduzierte Musik und natürlich das aktuelle Album zu sprechen.


Es ist ein frühlingshafter Märznachmittag, und die Sonne schickt sich bereits an, in den endlosen Straßenzügen der Hauptstadt zu versinken. Irgendwo im Berliner Osten befindet sich ein unscheinbarer Bungalow, in dem Thomas Melchior, Ricardo Villalobos und Perlon-Macher Zip ihre Studioräumlichkeiten untergebracht haben. Ein langer Gang, gesäumt von unzähligen Plattenregalen, Pfandflaschen und mit Tüchern abgedeckten Synthesizern, führt in ein verhältnismäßig kleines, dafür aber vollgestelltes Zimmer. Auch hier türmt sich Vinyl über Vinyl, und diverse Synths und Maschinen stehen überall im Raum verteilt. An der Wand hängt eine kleine Brasilien-Flagge, und der Hausherr macht es sich mit einem Joint hinter seinem Schreibtisch gemütlich.

Im Vorgespräch berichtet Melchior mit einem sanften Lächeln von seinen Gigs der letzten Wochen und einem damit verbundenen Aufenthalt in Tunesien. Seine Sprache ist durchzogen von Anglizismen, die keinesfalls aufgesetzt wirken, sondern dem weitgereisten Musiker einen glaubhaften kosmopolitischen Habitus verleihen. Nach dem Austausch einiger Nettigkeiten entscheiden wir uns dazu, das Interview nicht mit dem aktuellen Album zu beginnen, sondern mit einem ausgiebigen Rückblick in die verschiedenen Schaffens- und Lebensphasen Melchiors einzutauchen.

Dieser wuchs vorwiegend in England auf und schloss seine schulische Laufbahn in den Achtzigern auf einer Waldorfschule in Sussex ab. Mit dem anschließenden Umzug nach London finden sich ab 1988 auch die ersten ernstzunehmenden musikalischen Lebenszeichen des jungen Musikers. So gründete er gemeinsam mit seinem Schulfreund Fergus Anderson die fünfköpfige Jazzfunk-Band The Blipvert Bigtop, die 1988 das Album North Pole über das ebenfalls selbst gegründete Label Earworm Records veröffentlichte. „Wir standen auf alles, was die anderen Scheiße fanden, und haben eher dadaistische Musik à la The Residents gemacht. Allgemein hatten wir eine ziemliche Anti-Einstellung.”

Zur gleichen Zeit begann Melchior mit besagtem Anderson im gemeinsamen Studio andere „schräge” Bands aufzunehmen, die sie per Anzeige im Melody Maker und weiteren britischen Musikzeitschriften casteten. Doch bald darauf zerfiel The Blipvert Bigtop, und die ersten Ausläufer elektronischer Musik schwappten wie eine Welle über das Vereinigte Königreich. „Das war eine ganz klassische Geschichte. Die Band hat genervt, da waren zu viele Leute, und deshalb haben wir alle rausgeschmissen. 1988 kam dann Acid House über die Piratensender zu uns – das hat mich begeistert. Wobei man sagen muss, dass es nicht unser primäres Ziel war, Tanzmusik zu machen, wir fanden einfach das Geräusch der 303 geil.”

Mitten im Second Summer of Love besuchte Melchior legale und illegale Raves und sammelte dabei musikalische Inspirationen für sein eigenes Schaffen. Das daran anschließenden Projekt Ohm, das er abermals gemeinsam mit Anderson umsetzte, lässt sich durchaus als Fusion des alten Jazz-Funk-Sounds und der neuen Acid-House-Einflüsse verstehen. „Acid House war wie eine Freikarte – wenn sich die Leute so was anhören, kann man ab jetzt alles machen.”

Gleichwohl war auch das Ohm-Projekt nur von begrenzter Dauer, und 1993 gründete Melchior gemeinsam mit Tim Hutton das Acid-Jazz Duo Vulva beziehungsweise Yoni. Dessen Debüt From The Cockpit erschien 1994 über Rephlex, dem Label von Aphex Twin. „Rephlex und ich und auch Perlon hatten Grundeinstellungen, die zueinander gepasst haben: Fuck the System, fuck Commercial, kein Bock auf Cheese und kein Bock auf irgendwelche Slimer. Das war richtig punkmäßig! Wobei der Sound von Vulva für uns eine Mischung aus Ambient und Abstraktion war – trippige Musik halt. Da hat sich bis heute eigentlich nicht viel dran geändert, meine Musik muss funky und trippy sein.”

Parallel dazu lernte Melchior in London seinen langjährigen musikalischen Partner und Weggefährten Peter „Baby” Ford kennen. „Das war ein echter DJ, so was kannte ich davor gar nicht. Also natürlich hatte ich schon Leute gesehen, die mit Platten auflegen, aber dass jemand hauptberuflich Produzent und DJ ist, das war eine völlig neue Mentalität für mich.”


„Ich habe mir die Challenge gesetzt, gute Musik ohne große Effekte zu produzieren – das ist quasi meine Philosophie.”


Ebenfalls gemeinsam mit Tim Hutton stieg Melchior zwei Jahre später in die Liveband der ehemaligen Deee-Lite-Sängerin Lady Miss Kier ein, um sie den Sommer über auf Tour durch die USA zu begleiten. Die Band teilte sich die Bühne mit Acts wie LTJ Bukem oder dem Sun Ra Arkestra, und nach Abschluss der Tour beschlossen Thomas Melchior und die Sängerin kurzerhand, für einige Zeit ihre Wohnungen zu tauschen. So verbrachte Melchior ein Jahr in New York und setzte sich mit der dortigen House-Szene auseinander.

Nach einem erneuten einjährigen Intermezzo im brasilianischen Bahia zog es ihn 2003 endgültig nach Berlin, um sich dort voll und ganz dem Auflegen zu widmen. „In Berlin bin ich eigentlich ins warme Wasser geschmissen worden – alle haben mir geholfen, das hat sich richtig gut angefühlt. Kurz bevor ich ankam, habe ich Zip von der Autobahn aus angerufen und ihn gefragt, wo ich wohnen kann. Nachdem ich dann ein paar Tage in seiner Wohnung verbracht hatte, konnte ich zu Ricardo [Villalobos, d.Red.] ins Haus ziehen. Kurz danach hatte ich auch schon eine DJ-Agentur. Das ging alles ohne Probleme.” In seinen Ausführungen über seine Ankunft in Berlin zeichnet Melchior das Bild einer regelrechten Goldgräberstimmung bei ihm und seinem Umfeld. Er erzählt von Verhandlungen über Gagen, deren Beträge ihn zunächst selbst überraschten und von einer stetig wachsenden Anzahl an Gigs, die ihn langsam, aber sicher zum Vollzeit-DJ machten.

Ein kleine Crowd, die coole Musik versteht

Auf die obligatorische Frage nach der Stimmung in der Stadt zu Anfang der 2000er beschreibt er eine für ihn omnipräsente Multikulturalität, die sich besonders in seinem Umfeld äußerte. „Ich war viel mit Ricardo und seinem chilenischen Freundeskreis unterwegs, außerdem war ich zu der Zeit mit einer Frau zusammen, die ich in Brasilien kennengelernt hatte. Auch die Leute bei Perlon sind eher globale Spieler, wenn man das so sagen kann. Und natürlich war Berlin damals richtig billig, das fand ich schön. Auch beeindruckt hat mich, dass es keine richtige Mode gab – also keine Geschäfte oder Boutiquen. Alles war eher schwarz und punk.”

Insgesamt zeigt sich im Gespräch, dass sich Melchiors Vision von seiner Musik durch das viele Auflegen in Berlin noch klarer herauskristallisierte und festigte. „In meiner Welt habe ich die ultimative Lösung für elektronische Tanzmusik gefunden. Mit dem, was ich zur Verfügung habe, mache ich das, was ich mag, und versuche, diesen Entwurf zu perfektionieren. Dafür habe ich mir die Challenge gesetzt, gute Musik ohne große Effekte zu produzieren – das ist quasi meine Philosophie. Peter Ford hat mich dahingehend sehr beeinflusst, der ist eine minimalistische Legende. Natürlich wollte ich nicht von vornherein Minimal machen, ich stand halt auf diesen trockenen Sound. Trotzdem war es schön, einen Namen oder ein Tag zu finden, das zu einem selbst passt. Wobei das am Ende des Tages natürlich auch limitiert.”


„Zu einem gewissen Grad kann das DJing einen Produzenten auch verderben.”


Besagte Limitierung kommt im Verlauf des Nachmittags noch öfter zur Sprache. Gelegentlich erwähnt Melchior, dass ihm der ganz große Wurf nie gelungen sei und er den Eindruck hat, dass seine Platten oft erst Jahre nach ihrem Release die angemessene Beachtung erfahren. „Es war nie so, dass ich den Riesenerfolg hatte, aber über die Zeit hinweg hat sich die Musik zum Glück so entwickelt, dass es mir zugespielt hat. Ich hatte sozusagen das Pech, der Zeit voraus zu sein – das hat mich genervt.”

Doch trotz der gelegentlichen Frustration hat sich der DJ nie beirren lassen und hielt über all die Jahre an seinem angestrebten Soundentwurf fest. Dass ihm damit mitunter die ganz großen Bühnen verwehrt bleiben, scheint ihn heute nicht mehr zu stören: „Ich war nie jemand für die big Crowd – viele Leute haben mich nicht interessiert. Lieber wollte ich ein kleines Publikum, das coole Musik versteht.”

Diese kleine Crowd hat sich Melchior nach über 40 Jahren im Geschäft hart erarbeitet. So kommt es, dass auch sein aktuelles Album in besagten Hörer*innen-Kreisen immer noch Anklang findet und nach wie vor relevant ist. Deshalb wenden wir uns zum Ende unserer Unterhaltung besagter Platte zu. Es drängt sich die Frage auf, warum die Fans 14 Jahre lang auf die neue LP Vulnerabilities warten mussten. Als Antwort entgegnet Melchior, dass es für ihn nach seinem letzten Album No Disco Future aus dem Jahr 2007 einen spürbaren Zuwachs an Bookings gab. Die Gigs häuften sich, und er begann unter der Woche nur noch für das nächste Wochenende zu produzieren. „Zu einem gewissen Grad kann das DJing einen Produzenten auch verderben, das war bei mir wahrscheinlich auch so. Mir ist aufgefallen, dass ich die ganzen Tracks, die ich auf ein Album packen würde, eigentlich auch einzeln rausbringen könnte. Da kriegt man ein viel schnelleres Feedback. Letztendlich kam das dritte Album nur zustande, weil Zip mir vorschlug, nochmal eins zu machen. Das war 2020, da hatte man auf einmal die Zeit für so was. Dann haben wir uns hingesetzt und alte Skizzen rausgesucht, die zusammen ein Album darstellen könnten.” In der Illustration seines Arbeitsprozesses verdeutlicht Melchior, dass er nicht in fertigen Songs zu denken scheint, sondern meistens an seinen Maschinen und Synthesizern jammt, um den Arbeitsprozess mitzuschneiden. Daraus ergeben sich dann diverse Skizzen, die wieder aufgenommen und ausgearbeitet werden. 

Denn am Ende des Tages wirkt Thomas Melchior eben nicht nur wie ein bloßer Selekteur, der seine Vorliebe für trockene Grooves und grade Drumpatterns hegt und pflegt, sondern vor allem wie ein Musiker, der sich über all die Jahre eine klare Vision seines Schaffens beibehalten hat. Zwar stimmt es, dass sein Sound oftmals nicht sofort den Anklang fand, den er wahrscheinlich verdient hätte, allerdings ist es ein mindestens ebenso großes Kunststück, auch nach 14 LP-losen Jahren immer noch relevant und im Gespräch zu sein.

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