DJ MELL G (Sämtliche Fotos: MATJES PROJECT)
Vor der Pandemie war sie gänzlich unbekannt, diesen Sommer spielt sie auf diversen großen Festivals: DJ MELL G ist ein Phänomen und eine Vertreterin der Generation HÖR, bekannt für roughen Electro. Unsere Autorin Cristina Plett hat DJ MELL G an einem sonnigen Frühlingstag in ihrem Wohnort Hamburg getroffen.
DJ MELL G ist groß. Das fällt als Erstes auf, wenn man vor ihr steht. Vor allem im Gegensatz zu den Streams, aus denen man sie kennt, da sieht man das ja nicht. Ihre schwarzen Haare unterstreichen eine Präsenz, die im Raum spürbar ist – die man auch in den Streams spürt. Ein Macherinnen-Charakter, eine Energie, die sich im pumpenden Electro und dem Tempo ihrer Sets widerspiegelt. Und die in kurzer Zeit viele Fans gefunden hat.
Es ist ihr letztes freies Wochenende, bevor der Tourkalender nahezu Wochenende für Wochenende gefüllt ist. DJ MELL G ist eine der Newcomer*innen der deutschen DJ-Szene. Die Groove-Leser*innen wählten sie sogar zur Nummer 1 der Newcomer*innen des Jahres. Sie ist eine der wenigen DJs, die während und trotz der Pandemie bekannt wurden, vor allem über Streams und dank eines konsistent eigenen Sounds. DJ MELL G, das steht für rotzigen, energiegeladenen Electro. Immer, ohne Kompromisse. Wer ist diese Frau, die vor zwei Jahren kaum einer kannte und die jetzt überall ist?
Bei allen ist der Wille da, sich nicht unterdrücken lassen zu wollen.
In der Ukraine tobt zum Zeitpunkt des Gesprächs schon seit drei Wochen der Krieg. Man kommt um das Thema schwer herum, weniger noch mit DJ MELL G. Bis vor knapp über drei Wochen war sie noch dort, in Kyiv. Drei Monate wollte sie eigentlich dort bleiben, als sie kurz vor Silvester hinzog, ihr erstes Mal länger im Ausland und eine Flucht vor dem deutschen Winter. Die Abwechslung und die neuen Leute taten ihr gut, DJ MELL G produzierte so viel wie nie. Am Ende blieb sie zweieinhalb Monate, dann kam der Krieg. Als sie zu einem Gig bei HÖR in Berlin aufbrach, dachte sie noch, sie würde in anderthalb Wochen zurückkehren. Ihre Sachen sind noch da, sie weiß nicht mal, ob das Haus noch steht, in dem sich ihre Wohnung befand.
Dass dort noch Dinge von ihr sind, berührt sie kaum, die Situation vor Ort hingegen schon. Ein ukrainischer DJ, mit dem sie befreundet ist und regelmäßig telefoniert, ist jetzt im Militär. Viele andere sind in Berlin. Bei allen sei der Wille da, sich nicht unterdrücken lassen zu wollen. Sie klingt bestürzt, auch wenn sie darüber redet, wie lange es dauern wird, die Kyiver Szene wiederaufzubauen, bis sie an dem Punkt ist, wo sie Anfang 2022 war: “Da gibt es noch so viel zu holen, da ist so viel Potenzial – deswegen tut mir das auch so weh, dass jetzt alles zurückbricht. Weil da ja jetzt alles kaputt ist.”
Die Grundlagen fürs Produzieren zeigte ihr ein Freund, danach machte sie mit YouTube-Tutorials und einer gecrackten Version von Ableton weiter.
Jetzt ist die 24-Jährige zurück in ihrem eigentlichen Wohnort, in Hamburg. Sie ist kurz vor der Pandemie hingezogen, vorher lebte sie in Marburg, im niedersächsischen Oldenburg wuchs sie auf. Eine Anbindung an Hamburger Clubs oder Labels hatte sie also nicht. Auch sonst lässt sich DJ MELL G schwer einer Crew zuordnen: „Ich bin eine Einzelgängerin”, sagt sie. „Ich bin hier schön in meinem Dorf, keiner kennt mich, ich kenn’ niemanden. Ich hab’ meinen Freund hier, meine beste Freundin, mehr brauch’ ich nicht.” Vor allem im Kontrast zu Berlin, wo sie oft ist, sei das angenehm, sagt sie. Auch deswegen hat sie sich in Kyiv so wohl gefühlt: Sie kannte nicht viele Leute, war nicht Teil der Szene und hat den Klatsch und Tratsch nicht mitbekommen.
Geredet, das wird über DJ MELL G als junge Frau, deren DJ-Karriere sich schnell entwickelt hat, durchaus. Das weiß sie. Sie fürchtet es dennoch: „Ich hab’ einfach Angst, dass die Leute sagen, ‚Sie hat sich da so hochgezogen’, denn die Leute reden halt gerne. Ich glaube, das wird nur noch schlimmer. Da muss man sich dran gewöhnen.” Sie hatte wenig Zeit dafür, denn DJ MELL Gs DJ-Karriere hat sich selbst für die heutige, schnelllebige Gegenwart rasant entwickelt. Der Beginn liest sich noch klassisch: Das erste Mal legte sie Ende 2017 bei ihrer eigenen Party mit einem kleinen Controller auf („Ich hab mich darauf drei Wochen vorbereitet. Ich hatte einen Zettel, wo draufstand, wann welcher Übergang.”).
Die Crowd lesen
Damals spielte sie noch Trap, in Marburg, wo sie Jura studierte. Elektronische Musik hörte sie trotzdem schon. Sie nennt DJs aus der Umgebung wie den Frankfurter Toni Moralez oder DJ DR-660 als großen Einfluss und spricht noch immer mit Bewunderung über sie. Die Grundlagen fürs Produzieren zeigte ihr ein Freund, danach machte sie mit YouTube-Tutorials und Ableton weiter. Auch die Grundlagen ihres roughen Auflegestils, Cutten, Backspins, Fader rauf und runter, zeigten ihr Freund*innen in Marburg.
Dann zog DJ MELL G nach Hamburg, ihr Jurastudium hatte sie abgebrochen. Der Plan war, Eventmanagement zu studieren, um bei Veranstaltungen im Hintergrund arbeiten zu können: „Ich wollte selber nie auflegen, weil ich immer Angst hatte, im Mittelpunkt zu stehen”, sagt sie. Durch Corona kam es anders. Ihren ersten Track veröffentlichte sie im März 2020 – kurz bevor die Pandemie ihr einen Strich durch die Studiums-Rechnung machen würde. Das fiel aus, weil die Unternehmen nichts mehr zu tun hatten. Dafür hatte DJ MELL G erstmal ordentlich Zeit – sie saß zuhause und machte Musik. Sie lud ihre Musik auf Soundcloud hoch – und hatte Glück, sagt sie. „Die richtigen Leute haben’s dann einfach gehört und geteilt. Weil sie halt auch Zeit dafür hatten.”
Die Aufregung merkt man nicht. Stattdessen: Kontrolle, Präsenz, Größe.
Sie schrieb eine Email an HÖR, damals noch ein eher neues Online-Stream-Radio, und spielte dort im Juni 2020 ihr erstes richtiges Set. „Das war ein krasser Push”, sagt sie heute darüber. Die Selektion aus bouncigem und knackigem Electro mit Ghetto-Einschlag ist on point, das schnelle und vor allem aktive Mixing umso mehr. Wie unglaublich aufgeregt sie gewesen sei, merkt man nicht. Stattdessen: Alles unter Kontrolle, Präsenz, Größe. Das sollte ihr zum Durchbruch verhelfen.
Schon im gleichen Jahr bekam sie ein Artist-Management: „Ich hab’ von einer Agentur, die jetzt auch mein Management macht, einen Anruf bekommen. Die meinten: ‚Hey, hast du nicht Bock, dich mal zu treffen?’ Dann hab’ ich meine beste Freundin angerufen: ‚Boah, ich glaube, die wollen Geld von mir.” DJ MELL G traf sich trotzdem mit der Person. Es waren keine Abzocker. Stattdessen leitete ihr Artist-Manager Kollaborationen mit anderen DJs in die Wege und brachte sie bei einer Booking-Agentur unter. Und das, obwohl es wohl keinen schlechteren Zeitpunkt dafür gab als die zweite Jahreshälfte 2020. Auch das ist Teil der Erfolgsgeschichte von DJ MELL G: Sie war früh bei einem Artist-Management, das dafür sorgte, dass sie schnell an Sichtbarkeit gewann. So funktioniert das heute.
Gausmann wehrt sich gegen das Framing, sie sei eine Gewinnerin der Pandemie gewesen.
Dann lieferte sie im Sommer 2021 allerdings auch: „Ich hab’ viele komische Sachen gespielt. Viele haben gesagt ‚Krass, wir kennen sie, aber sie hat noch nirgendwo gespielt’.” Die Gagen seien sehr schlecht gewesen, aber sie brauchte die Erfahrung: „Ich hab’ gesagt: Ich nehm’ alles mit, was geht, denn ich muss es lernen”. Sie habe „sau Angst” gehabt, dass ihre Musik vor einem Publikum – statt vor einer Streamkamera – nicht mehr funktioniere. „Vor Leuten kannst du ja nicht einfach deine eine Stunde durchziehen, egal was, sondern du interagierst mit dem Publikum, du musst die Crowd lesen.” Oft habe sie da auch schon Musik spielen müssen, die sie eigentlich gar nicht so mag, einfach, weil gerade Electro in Deutschland oft nicht gut ankomme. Den Mainfloor im Hamburger PAL habe sie zur Maintime so einmal leer gespielt.
In Kyiv war das anders. Dort habe sie zwar oft auf einer schlechten Anlage gespielt, aber „solange der Vibe stimmt, ist mir egal, ob die Anlage läuft oder nicht”. Und der Vibe stimmte, das Publikum war offen für ihren Non-Viervierteltakt, es wollte sogar explizit Breakbeat und Electro. DJ MELL G war in ihrem Element. Dort bekam sie gesagt, was sie als größtes Kompliment jemals bezeichnet: „Ich spiel’ nicht Electro, kein Techno, oder irgendwas. Ich spiel’ MELL G.”
Ein lebendiges Notizbuch
Neben dem IRL-Auflegen musste sie auch die psychischen Aspekte hinter dem Touren lernen: „Das ist so energieziehend. Als ich das erste Mal getourt habe, hatte ich unter der Woche noch einen Job. Das muss man einfach mit der Psyche lernen. Nein zu sagen – denn überall, wo Party ist, ist auch Alkohol.” Bis vergangenen November jobbte sie für ihren Lebensunterhalt, zuletzt bei der Post. Sie hasste den Job und war oft pleite. Deswegen wehrt sich DJ MELL G auch gegen das Framing, sie sei eine Gewinnerin der Pandemie gewesen. Für sie hat sich das nicht so angefühlt: “Das war das Härteste, was ich bisher hatte. Permanent nur am Ackern und komplett fertig sein. Dazu dieser Druck und dieses Vergleichen, darauf kam ich überhaupt nicht klar.” Letzteres ist nicht vorbei, dafür kann sie nun in Vollzeit Musik machen. Auch wenn es nicht immer einfach ist.
Ihre Eltern haben den Schritt zum DJ sein nicht verstanden, waren enttäuscht. DJ MELL G wiederum kann das nachvollziehen: „In meiner Familie bin ich immer die Erste mit allem – es hat niemand studiert, es hat niemand Abi gemacht. Da hatten meine Eltern natürlich high hopes, ‚Oh, unsere Anwältin’.” Der Druck sei da gewesen, und weil ihre Eltern das Clubumfeld nicht kennen, verstünden sie nicht, was sie da überhaupt mache. Immer wieder müsse sie ihrer Familie erklären, dass sie einen Manager hat, eine Bookingagentur.
Für Gausmann lässt sich Musik nicht von Politik trennen: Eine Party sei ein intimer Raum, ein potenzieller safe space.
Der nächste logische Schritt auf diesem Weg ist inzwischen das eigene Label, auch wenn DJ MELL G sagt, dass sie eigentlich nie ein Label gründen wollte. Aber sie wollte ihre Musik nicht immer nur zerstückelt auf Compilations wiederfinden. Ihr Ziel ist denkbar einfach: „Ich wollte eine Vision schaffen, wo nur Musik drauf ist, die ich selber feier.” So entstand JUICY GANG RECORDS. Der Name geht zurück auf einen so gewittrigen wie pornös–smoothen Electro-Track von ihr, auf dem ein Vocalsample immer wieder „Juicy Gang” reinwirft. Die beiden Worte hat sie auf die Seite ihrer linken Hand tätowiert, ihren ganzen Körper bezeichnet sie als „lebendiges Notizbuch”.
Samples, die sind so ein Ding. Sie stehen für einen Reflexionsprozess der bei DJ Mell G in den vergangenen zwei Jahren stattgefunden hat. Früher hat sie sehr viel gesamplet, zum Beispiel einen ganzen Rap-Part plus Hook von Nicki Minaj in „Omg Look At Her Butt”, erzählt sie, ohne zu denken, dass das problematisch sein könnte: „Mittlerweile versteh’ ich das, weil Leute auch meine Songs nehmen und daraus samplen. Da fühlt man sich ein bisschen mit disrespect behandelt.” Auch über den historischen und politischen Hintergrund der Musik, die sie produziert und auflegt, hat sie nachgedacht. Ghetto House zum Beispiel spielt sie kaum noch. Einerseits, weil die Vocals oft sexistisch sind. Andererseits, weil das Genre auf Schwarze Musiker*innen zurückgeht, aber oft weiße Künstler*innen damit zu Erfolg finden. „Irgendwann hab’ ich begriffen, dass das es nicht richtig ist, sich als weiße Frau da hinzustellen und frauenfeindliche Musik zu spielen, die von POC-Leuten erschaffen wurde”, sagt sie.
Auch deswegen spiele und produziere sie inzwischen vor allem Electro, achte auf den Inhalt der Vocals und allgemein auf den Hintergrund der Musik, die sie auflegt. Denn für DJ MELL G lässt sich Musik nicht mehr von Politik trennen: Eine Party sei ein intimer Raum, ein potenzieller safe space. „Auch politisch sein ist manchmal super intim, deswegen hat es für mich die Verbindung zum Club”, sagt sie. Als DJ ginge damit Verantwortung einher: „Du hast die Reichweite. Da gibt es keinen Weg daran vorbei, sich politisch zu äußern.” Das gilt, seitdem DJ MELL G bekannt geworden ist, und in einer Zeit, in der eine Krise die nächste jagt, ganz besonders.