Sherard Ingram ist eine Klasse für sich. Seit Jahrzehnten als Electro-Pionier im Geschäft, hat der hünenhafte Detroiter mit der sanften Natur den viel kopierten Stil seiner Heimat hochgehalten und fortentwickelt. Obwohl ewig im Game, kam die internationale Anerkennung erst innerhalb der letzten zehn Jahre. Was nicht etwa daran läge, dass er seinen Sound an den Geschmack der Zeit angepasst hätte – ganz im Gegenteil. Als anfänglicher Mitstreiter von Drexciya und Co spinnen seine Tracks immer noch den Mythos der Atlantisbewohner und die subaquatische Electro-Soundpalette weiter. Das Electro-Revival ist nicht zuletzt auch auf DJs wie Stingray und seine kontinuierliche Präsenz sowie Fähigkeit, dieses Genre eindrucksvoll und partytauglich zu präsentieren, zurückzuführen. Seine oft noch mit Vinyl ausgetragenen Sets, in denen die Tracks nur wenige Minuten laufen, sind der Stoff, aus dem schweißgebadete Legenden sind.
Das ursprünglich 2012 veröffentlichte Album F.T.N.W.O. basiert auf einem Konzept rund um Verschwörungstheorien, Wissenschaft und die Vorbereitung auf den Weltuntergang. In zahlreichen Vocalschnipseln sowie einem ausführlichen Intro werden diese Ideen konstant weitergesponnen. Erstaunlich, wie gut die Platte damit heutzutage den Zahn der Zeit trifft, während Cyberwarfare und tägliche Datenflut allgegenwärtig sind.
Fast jeder der Tracks versucht so, die Atmosphäre zu verdichten, es wird also kontinuierlich eine Story weitergesponnen. Musikalisch sind diese Statements eingebettet in gewohnt synkopierte Electrobeats, die von Acid-Basslines und analogen Computersounds umspielt werden. Wer DJ Stingray 313 bislang lediglich von seinen EPs kennt, wird hier unverkennbar die gleiche Handschrift vermuten, jedoch bieten die Tracks auf F.T.N.W.O. deutlich mehr Raum zum Atmen als viele seiner Club-Banger. Die manchmal mehr in die Techno-Richtung deutenden Stücke seiner Karriere in den letzten Jahren sind in diesem Albumrahmen übrigens auch nicht vertreten.
Alles in allem also ein gelungenes Konzeptalbum mit Zuhause-Hör-Charakter, das 2022 noch relevanter erscheint als in seinem ursprünglichen Erscheinungsjahr. Leopold Hutter
Gábor Lázár – Boundary Object (Planet Mu)
Der ungarische Produzent Gábor Lázár widmet sich auf seinem aktuellen Album den Grenzobjekten, einem eher abstrakten Konzept aus der Soziologie, das auf Begriffe oder Dinge verweist, die lokal mitunter sehr spezifisch verwendet werden, aber allgemein genug gehalten sind, um global von den unterschiedlichsten Personen verstanden werden zu können, was sie zu etwas Plastischem macht. Die Beispiele für so ein Boundary Object reichen von Museumsexponaten bis zu Monstern.
Musikalisch verarbeitet Lázár diese Idee zu kristallin-dichten Einheiten, die so etwas wie Groove haben, zugleich allerdings eher artifiziell wirken in ihrer instabilen – oder plastischen? – rhythmischen Entwicklung. Die Klänge und Beat-Zerhackstückelungstechniken, die Lázar verwendet, erinnern an die Musik des britischen Glitch-Duos SND. Mit dessen einer Hälfte Mark Fell veröffentlichte Lázar 2015 auch ein gemeinsames Album. Die aktuelle Platte nahm Lázár jetzt in Echtzeit auf und verwendete ein selbstentwickeltes Kompositions-Interface. Ästhetisch entfernt er sich dabei nicht allzu weit vom Ansatz seiner Kollegen aus England. Doch im Vergleich zu der vielen müden Gemütlichkeit, der man in der elektronischen Musik dieser Tage oft begegnet, ist dies so vitalisierend wie, nun, Eisbaden. Tim Caspar Boehme
Kittin Hacker – Third Album (Nobody’s Bizzness)
Um den Jahrtausendwechsel war das Duo von Caroline Hervé alias Miss Kittin und Michel Amato a.k.a. The Hacker einer der prominentesten Acts der Electroclash-Welle. Eine Dekade später – während der die plakative Clash-Soundästhetik als Aufeinaderprall von Glamour und (White-)Trash, Glitter und Schmutz weitgehend im Technovokabular assimiliert wurde – wirken Miss Kittin & The Hacker mit „Two“, ihrem zweiten Album, komplett auf der zeitgenössischen Tanzfläche angekommen. Für ihr Third Album haben sie sich wiederum ein gutes Dezennium Zeit gelassen. „Wir sind zurückgegangen zum Kern dessen, was uns ausmacht“, lassen Hervé und Amato wissen: „Electro Storytelling. Keine Kompromisse, keine Zensur, nur der Kontrast von Poesie und Ironie.“ Tatsächlich strahlen die acht neuen Tracks unter Beibehaltung der Grundkoordinaten – waviger Electro-Tech mit Hang zum EBM – große Souveränität aus: Kittin und Hacker bewegen sich durch eine ganze Palette von (Sub-)Genres, ohne jemals in den Bereich der Behauptung zu geraten.
„Soyuz“ ist eine respektvolle Verbeugung vor Drexciya, „Homme à la Mode“ schließt Liaisons Dangereuses mit Acid kurz. Noch immer gebietet Hervé über eine der interessantesten Stimmen des Genres, wodurch auch ein recht redundanter Track wie der Minimal-Wave-Hybrid „Ostbahnhof“ Profil erhält. Ihr DJ-Wissen im grandiosen „Retrovision“, nonchalant präsentiert: „Selected Ambient always works“. Ebenfalls toll geraten die slicke Italo-Disco-Nummer „19“ und die Wave-Hymne „Purist“. Harry Schmidt
John Tejada – Sleepwalker (Palette)
Anfang der Nullerjahre kam kein europäischer Techno-DJ an John Tejada vorbei. Egal, ob er auf Poker Flat, Playhouse, Cocoon, Daniel Bells 7th City oder seinem eigenen Label Palette veröffentlichte, seine Produktionen waren der cleane und fette State-of-the-Art-Missing-Link zwischen klickendem Tech-House und Minimal. Spannend verwob er aber auch Four-To-The-Floor-NuDisco-Bezüge, sneaky Funk-Elemente und Acid in seinen Tracks. Das war sicherlich ein Grund, dass er 2002 auf der wegweisenden Tigersushi-Compilation More G.D.M. erschien. Ende der Zehnerjahre mixte er die Nummer 44 der renommierte Compilation-Serie Fabric Live. Dann wurde es stiller, bis er auf Flying Lotus’ Label Brainfeeder im Jahr 2020 zusammen mit Reggie Watts sein Album Don’t Let Get You Down als poppiger Elektronik-Live-Act vorlegte.
Auf dem neuen Album Sleepwalker vermischt er Deep House, Techno-Klarheit, Synthlayer-Nu-Disco, sleazy New-York-Garage-Beats und das, was man um die Jahrtausendwende Microsampling nannte: das Hintereinanderstellen von kurzen, harmonischen Sampleversatzstücken, aus dem der Minimal-Sound entstand („Excursion”, „When We Dead Awaken”). Wie damals funkt Tejada mit loosen, völlig freigestellten und eiskalt-metrischen Grooves weltvergessen vor sich hin, bis der elektronische Dreck in der Aufnahme zum Stilelement wird („Over The Wires”). Hätte er nicht diese ultraentspannten, rund hängenden und brutal von hinten schiebenden Drummachine-Loops in der Machart des Frankfurter-Grüne-Soße-House-Stils von C/Rock in seinen Produktionen, könnte man glatt glauben, sein Sound wäre zu 100 Prozent digital gebaut („Whip Hand”). In seinem spezifischen Fall macht das tatsächlich Sinn. Schlafwandelt der Laurie-Anderson-Zugschranken-Verweis durch geisterhafte William-Burroughs-Schatten und zeigt „Unafraid” im klassischen 20-Jahres-Dekaden-Loop furchtlos den Weg zum nächsten Nu-Disco-Deep-House-Revival? Mirko Hecktor
Panta Rex – LP1 (Noorden)
Das Debütalbum des Kölner Produzenten Panta Rex beginnt mit einem Coup. Ein zunächst eher zurückhaltender, spacig-experimenteller Track mit reduziertem Breakbeat bremst zur Hälfte der Laufzeit ab, um einer triolisch rhythmisierten Synthiefläche Raum zu geben, die diesen nutzt, um in einem spannenden Breakdown das bis dato ruhige Stück zu einem Überraschungsclubtrack umzukrempeln. Eine ähnliche Kraft besitzt auch der folgende Track „Sonett”, der bei oberflächlichem ersten Hören wieder eher in die Listening-Ecke einsortiert werden würde, laut gehört aber ebenfalls erahnen lässt, dass er gut positioniert auch in einem zeitgemäßen trancy Technoset eine gute Figur machen dürfte.
Ähnliches gilt für weitere Stücke des Albums: Sie fundieren auf Breakbeats, die aber die gerade Bassdrum mitfühlen, mitpulsieren lassen, wirken vordergründig ruhig, um in ihrem Verlauf aber eine ganz eigentümlich-mitreißende Energie zu entwickeln. Oder aber sie besitzen auf anderen Ebenen diese Art von Mehrschichtigkeit. In einen hintergründigen Downtempotrack schleicht sich eine schelmische Synthesizer-Figur, wie von einem Kind im selbstvergessenen Spiel vor sich hingepfiffen, ein. Ein skelettierter Bass-Music-Track mündet in einen perfekt auf der Kitschgrenze tänzelnden Trancebreak, und beide Song-Teile denken sich die fette Beatbasis einfach hinzu – oder geben diese Aufgabe eben an den Hörer oder die Hörerin weiter. Das Prinzip, viel Raum für Assoziationen und musikalisches Kopfkino zu lassen, call it Rave ohne Rummel, zieht sich durch das ganze Album – gut für experimentierfreudige DJs und fantasievolle Hörer*innen. Mathias Schaffhäuser
<p><center><iframe style=”border: 0; width: 350px; height: 470px;” src=”https://bandcamp.com/EmbeddedPlayer/album=4121210115/size=large/bgcol=ffffff/linkcol=0687f5/tracklist=false/transparent=true/” seamless><a href=”https://noorden.bandcamp.com/album/lp1″>LP1 by Panta Rex</a></iframe></center></p>
Passarani – The Wildlife of the Quieter Ones (Aus Music/!K7)
Marco Passarani, der Grandseigneur des italienischen Techno, lässt sich als Produzent heute nur noch beim Nachnamen nennen. Wie man das als Künstler, der bereits auf eine drei Jahrzehnte währende Karriere zurückblickt, eben so macht. Ganz am Anfang, in den frühen Neunzigern, nannte sich der Römer eine zeitlang Passarani 2099. Die weit in die Zukunft weisende Jahreszahl hat er nicht wieder aufgegriffen.
Sein sechstes Album The Wildlife of the Quieter Ones, dem ersten auf Will Sauls Label Aus Music, ist so etwas wie die Quintessenz aus Passaranis bisherigem musikalischen Lebensweg, an dessen Beginn eine EP namens Detroit Meets Roma stand. Detroit trifft auf Rom, wenn man es plakativ mag, dann kann man die Musik des Italieners tatsächlich auf diese Formel bringen, wobei Detroit hier als mythologisierte Sound-Chiffre zu verstehen ist, während Roma für Italiens Liebe zu großen Gefühlen und überbordender Melodik steht.
The Wildlife of the Quieter Ones ist ein Album, das keiner Genre-Vorgabe folgt. Den Auftakt macht mit „Albuquerque Arcade Retreat” ein schwereloser Ambient-Track. „Theme From FFOM” greift die Atmosphäre des Openers auf und überführt sie in ein weltumarmendes Stück Musik mit Referenzen an Proto-Trance, ohne sich dabei in puncto Klangbild an irgendein zurückliegendes Jahrzehnt zu klammern. So geht die Geschichte, die Marco Passarani in 17 Tracks erzählt, über eine Spieldauer von 70 Minuten weiter. „Dial 101” oder „Gravitational Lane” sind ein Ergebnis der Electro-Leidenschaft des Römers. „Equation” erinnert zunächst ein bisschen an ganz alte Suburban-Knight-Platten, biegt dann aber ganz scharf wieder in Richtung Rom ab. Immer wieder tauchen verschachtelte, IDM-mäßige Beats auf. Immer wieder lässt der Römer Beats aber auch mal ganz beiseite, so etwa auf „Red Flying Kites”, wo das Thema Ambient so ein bisschen kammermusikhaft interpretiert wird. Fotos aus dem Studio von Marco Passarani zeigen eine beeindruckende Sammlung von Synthesizern. The Wildlife of the Quieter Ones ist der Beweis dafür, dass der Italiener die Geräte auch tatsächlich nutzt. Holger Klein