Accelerationism – I Skog og Mark (Ute.Rec)

HÖR-DJs hören weg: Trance ist … okay. Um die Schubladen zum Vier-Uhr-Wässerchen in Schwingung zu bringen, muss man nicht unbedingt zu Karl-Schranz-Gedächtnisgeballer mit 165 Beats über MDMA-Depression-Pads treiben. Techno mit fixierter Lichthupe überholt sowieso links. Dass die Freunde vom norwegischen Wald- und Wiesenlabel Ute.Rec Mensch-ärgere-dich-nicht-Melodien und Sechszehntelbässe aus dem Strandurlaub auf Ibiza mögen, ist trotzdem kein Geheimnis. Man klopft der dänischen Szene auf die angekokelte 303 und dreht die Synthesizer, Synthesizer, Synthesizer auf Ecstasy-Tränen-Presets. Accelerationism, das Ute-Duo um Ekkel und Marius Bø, haben mit I Skog og Mark einen Mix aufgenommen, zu dem Gnome, Waldelfen und andere Kräuterhexen von den richtigen Pilzen naschen. Gott wird zu einer Lichtung oder einem Ahornbaum, den sie verzweifelt zu umarmen versuchen. Stunden später pflücken gesegnete Geister noch immer Beeren von Sträuchern. Kein Wunder, Accelerationism mischen Künstler*innen wie Mikkel Rev, Kineta und Alpha Tracks – alles andere als Hobbypsychonauten in psychedelischem Tröten-Trance und Self-Care-Techno. Das funktioniert so gut, dass man nach dem Hörn über den Kauf einer Haremshose nachdenkt. So … und jetzt hören HÖR-DJs wieder hin: Trance ist echt … ganz okay! Christoph Benkeser

DJ Sprinkles & Mark Fell – Incomplete Insight (2012-2015) (Comatonse)

DJ Sprinkles, ob solo oder mit anderen, reißt stets die Zeit auf. Er dehnt sie, während er sie gleichzeitig mit minimalen Mitteln verkleinert, ohne an Unendlichkeit einzubüßen. Das alles immer so, dass jeder, der seine Kunst kennt, gleich weiß, dass er es ist, jener politisch aktive, akademisch versierte und ideologisch konsequente Produzent, der auch als Terre Thaemlitz bekannt ist, seine Deep-House-Leidenschaften als DJ Sprinkles auslebt und schon seit Ewigkeiten in Japan lebt. Mit Incomplete Insight (2012-2015) vergrößert er nun sein ohnehin sehr umfangreiches Werk mit einer Doppel-CD. Sie enthält seine Kollaborationen mit dem britischen Künstler und Produzenten Mark Fell, ebenfalls seit über zwei Dekaden bekannt für sozialpolitisch aufgeladene Tanzmusik. Ihre vor langer Zeit bereits als 12-inch veröffentlichten Tracks wie „Fresh“ aus dem Jahr 2015 werden hier durch zehn unveröffentlichte Stücke und Bearbeitungen erweitert. Besonders die zweite CD überrascht. Sie enthält unter anderem einen 19 Sekunden und einen eine Minute andauernden Track. Ungewöhnlich kurze Arrangements für beide Produzenten, die komprimiert die Magie ihrer Zusammenarbeit kurzweilig konservieren. Ansonsten überall grandiose Deep-House-Epik. Über zweieinhalb Stunden lang verzaubern sie mit wärmenden Basslines, trockenen Drum-Machine-Rhythmen, Masse aufsaugenden Dub-Atomen und soziokulturell aufgeladenen Samples etwa vom britischen Gewerkschaftler Arthur Scargill oder dem ebenfalls britischen Politiker Tony Benn. Im Verbund wirken alle Tracks ähnlich wie Rhythm & Sound in Dauerschleife: sie verwandeln den Geist, lassen die Zeit zerfallen und kreieren jene einnehmende Balance aus emotionaler Hitze und kultivierter Dancefloor-Intelligenz, die den Deep House von DJ Sprinkles & Mark Fell so essentiell „tief“ macht. Michael Leuffen

Snippets findet ihr im digitalen Plattenladen eures Vertrauens. 

Heavenly Remixes 3 & 4
Andrew Weatherall Volumes 1 & 2 (Heavenly)

Für die musikalische Entwicklung von Industrial, Punk- und Gothic-Rock zu New Wave, Synth Pop, Manchester Rave, Acid House und Ibiza-/UK-Rave steht in der Regel Tony Wilsons Label Factory aus Manchester. Ende der 1980er Jahre tauchte aus dem wilden Akai- oder Emu-SP1200-Sample-Gebräu der UK-Acid-House-Szene aber auch das Londoner Heavenly Label von Jeff Barett auf. Musikalisch baute das jedoch eher die Independent-Rock-Wurzeln von Madchester-Rave aus. 

Saint Etienne, The Doves, Manic Street Preachers, Primal Scream waren die Londoner Indie-Antwort auf die Happy Mondays, New Order, Joy Division oder Oasis. Dennoch spielten der Heavenly Social Club oder die Sunday-Social-Clubnächte des Labels, bei denen die Chemical Brothers vor ihrer Weltkarriere als Resident-DJs Platten auflegten, in dieser Indie-Rock-Kultur eine wichtige Rolle. Als Melting Pot war London in den 1990er Jahren das Mekka für die Vermischung verschiedenster Musikstile. Die „3rd Record” – der neue Track, der durch das Übereinanderlegen zweier Musikstücke entsteht – war die Basis für diese Genrevielfalt. DJs griffen in diesen Produktions-Prozess erstmalig als neue, andere Art von Musiker*innen ein. Einer der wichtigste Musikproduzenten in diesem chemisch-psychedelischen 90s-XTC-Gemisch aus Live-Bands, Acid-House-Clubnächten, Drogenexperimenten, elektronischer Musik und DJ-Culture war Andrew Weatherall. Seine Warp-Veröffentlichungen als Sabres In Paradise oder Two Lone Swordsmen bleiben unvergessen. Die neue Heavenly-Compilation versammelt mehr oder weniger vergessene, frühe und aus heutiger Sicht herrlich unkonventionelle Dance-Remix-Experimente von Weatherall, bei denen er den Output von Heavenly bearbeitete. NoWave trifft auf Acid (“Bubblegum”), elektronische Sample-Psychedelik schwebt über klopfenden 808-Kicks (“Chwyldro”), Reverbstimmen grölen über Rockbreaks (“Sugar Tastes Like Salt”), CR-78 Congas reiten auf Cowboy-Rock-Cosmic-Disco („Compulsion”), SH-101-Pophouse-Bässe untermalen Soulgesang (“The World According To Sly & Lovechild”), Gongadisco-New-Beat-Swing verspielt sich in Dub-Samples (“Only Love Can Break Your Heart”). Mirko Hecktor

RAIDERS – Vol. 1 Remixed (RAIDERS)

Schnell, funky und „auf die Fresse“ – so beschreibt die RAIDERS-Crew die Tracks ihrer neuen Compilation. Und ja, beinahe alle der elf Tracks drehen heftig auf, was Geschwindigkeit und Druck angeht. Die Intensität der Musik ist aber nicht die einzige Qualität von Vol. 1 Remixed. Die elf Stücke sind Umbauten von sieben bereits veröffentlichten Tracks, die 2020 auf der ersten Compilation von RAIDERS namens Ghettoraid Vol. 1 erschienen sind. Die Remixe klingen frisch, teilweise komplett anders als die Ausgangsmusik. Meistens erhöhen die Remixer*innen Mike Starr, Rory Kelly, Tooflez Muzik All Starz, URTE, Kumasi, Mathis Ruffing, DJFH & jpeg.love, Souci, DJ Nortside und $ombi Geschwindigkeit und Direktheit in den Kicks und kreieren aus auch vorher schon energetischen Tracks zwischen Ghetto House, Electro und Baltimore Club neue, druckvolle Dance-Tracks mit Verbindungen zu Hardcore und Breakbeats. Teilweise nehmen die Produzent*innen aber auch etwas Puls raus und heben schillernde Details hervor oder schreiben ihre eigenen ein wie bei URTES großartiger Bearbeitung von Young Lychees „Could It Be“. Sie lässt Jungle-Breaks langsam durchrollen, überhöht sie mit Rave-Piano-Akkorden und
untermauert das Ganze mit vibrierenden Reese-Bässen. Auch $ombi verlangsamt den Remix des Remix von DJ Fucks Himself des Baltimore-Club-Klassikers „Shake Ya Dik“ von DJ Technics und Mz. Thang zu schlingernd-träumerischem Zeitlupen-Electro. Damit ist die Musik der Compilation schnell, funky, „auf die Fresse“ und vor allem eins: vielseitig. Philipp Weichenrieder

Risks Issues Opportunities 2 (RiO)

Trippig, hypnotisch, immersiv: Mit Attributen wie diesen lässt sich das Profil des noch jungen Labels R.i.O. umreißen. 2019 gegründet und beheimatet im Soldiner Kiez der Bundeshauptstadt, firmieren Benedikt Frey und Markus Woernle als dessen Betreiber. Mit der siebten Katalognummer legen R.i.O. bereits die zweite Compilation voller Synth-Wave-Scoundscapes vor. Mit Nadia D’Alò, die zusammen mit Frey das Duo INIT bildet, ist lediglich ein Act vertreten, der bereits zum Label-Roster zählt – creepy mit songartigen Lyrics: „D.S.“ –, die restlichen sieben Tracks kommen von Neuzugängen. Entsprechend viel ist hier zu entdecken: Etwa „Tuerkis“, eine schleppend-dräuende Can-Hommage des Leipziger Producers Syncboy, oder „Primera“, halb Kraut, halb Industrial, von den italienischen Brüdern Simone und Michele Bornati, die sich Twoonky nennen und akustische Instrumente wie Saxofon mit analogelektrischen Klangerzeugern kombinieren. Pannonias „Wavering Limits“ organisiert Oszillationen von Brummspannungen zu einem elektronischen Mantra. Airaboi stellt mit „Resilience Transmissions“ einen spooky Downtempo-Acid-Track vor. Charlotte Simon vom Frankfurter Duo Les Trucs arbeitet sich in „User Work Hard“ durch ein Wortfeld alphabetisch sortierter Begriffe. Die eigentliche Sensation der Zusammenstellung indes besteht darin, dass sich mit Willie Burns („I Am Back“) einer der interessantesten Producer der vergangenen Dekade nach längerer Auszeit zurückmeldet. Weiteres Highlight zum Ausklang: Bocksrucker aus Wien mit der Synth-Instrumental-Ballade „Der müde Tod”. Harry Schmidt 

Tone Scientist – Basic Moves 16 (Basic Moves)

Das Vinyl-only-Label Basic Moves spezialisiert sich auf frische Kompositionen mit Vintage Sounds – so auch auf dieser Doppel-EP des in Seattle aktiven Produzenten Iz Gravning aka Tone Scientist. Der war schon lange Fan der frühen Jungle und Drum ‘n’ Bass-Produktionen aus UK und veröffentlichte in den frühen 2000ern eine Handvoll Platten, trat seit dem aber nicht mehr öffentlich in Erscheinung. Dem Basteln im Heimstudio blieb er aber bis heute treu.

Zwischen Vintage Equipment und neuer Produktionssoftware verbindet Iz nach wie vor seine Vorliebe für Tropen aus Jazz, Fusion, Hip-hop, House und Techno – was auf dieser Doppel-EP eine zeitlos klingende Mischung aus Breaks und Soul ergibt. Warme Melodien, liebevoll zusammengestückelte Chops und soulige Samples sind die Zutaten für einen Genremix, der groovt wie 1995, aber keinesfalls nostalgisch abgedroschen wirkt. Im Gegenteil, all diese Stücke haben einen frischen Atem, wirken kreativ und spielerisch zugleich und drücken all die richtigen Knöpfe für jene, die nach wie vor auf Amen Breaks und Jungle-Vibes stehen. Das Ganze in einer zurückgelehnten, aber niemals beliebig wirkenden Vortragsweise. Ein echter Geheimtipp des belgischen Labels, das sich auffallend positiv vom Einerlei des kürzlichen Jungle-Revivalisms absetzen kann! Leopold Hutter 

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