Karnage Kills X DJ MELL G – PU$$Y GALORE (Juicy Gang)
Karnage Kills ist queer und rammt seine Kicks in London auf Beton. Das ist wichtig, denn: Die britische Grime-Szene hält es mit Homosexualität wie mit gendersensibler Sprache: Man drischt so lang darauf ein, bis toxische Testo-Typen im Glauben ihrer Männlichkeit ein mickriges Würschtel in die Höhe strecken. Kann man also abfackeln – am besten mit Techno, der in Atlanta zwei Wochen lang den Arsch zu Bassmusik gespankt hat.
DJ MELL G, straight outta Hamburg und Chefin vom Dienst bei Juicy Gang Records, klopft auf Abruf drei Banger aus dem Ghettoblaster. Karnage füllt den Frequenzraum mit Lyrics, bei denen sich Oma Hans am Bienenstich verschluckt. Eh klar, es geht ums Ficken, Blasen und kollektive Einsauen in allen vier Himmelsrichtungen der agilen Matrix. Die Basslines tropfen wie Schweiß von der Darkroom-Decke. Kicks ballern, größer als die Teller zur Peaktime. Und Karnages Chorus deepthroatet sich in deine Gehörgänge, dass das Zeug auch am nächsten Tag in Erinnerung bleibt.
Schließlich stapft PU$$Y GALORE nicht umsonst auf drei Meter hohen Stelzen über den Dancefloor, um „Give It To Me” als Vorspiel rauszubügeln. „On My Mind”, der Tesla unter den Technotracks, schnalzt nämlich als Peaktime-Material mit der gepiercten Zunge. Und „Suck My Dick” spielt den kategorischen Imperativ zur Afterhour aus. Yes! Christoph Benkeser
Negroni Nails – Slow Motion Drip (Klakson)
Seit 2019 sind Steffi und Privacy auch als gemeinsames Projekt Negroni Nails unterwegs. Als DJ-Duo und Produktionsteam teilen die beiden gekonnt und auch kreativ ihre Leidenschaft für Detroit Electro. In bester Drexciya-Manier wird hier das Erbe der Motor City fortgesponnen. Sei es als Industrial- oder Acid-Ausformung („Slow Motion Drip”), Sägezahn-Bassrutsche („Speed Scale”), perkussives Präzisionsgewittter („Vertical Slice”) oder stampfiges Techno-Electro-Hybridentum („Passive Attention”). Eine gelungene Erweiterung des Kanons. Leopold Hutter
NIKK – Paradize (Rekids)
Das Paradies – jener mythische Ort, an dem die Menschheit frei von allen Sorgen dem süßen Leben frönen konnte, bis sie schlussendlich vom Schöpfer selbst verbannt wurde. Doch während die landläufige Vorstellung des Paradieses eher einem charmanten Lustgarten gleicht, scheint NIKK aus Berlin seine ganz eigene Vision zu haben. Anstatt des Baums der Erkenntnis gedeihen hier gechoppte Vocals, housige Chords und die ein oder andere blockige Bassline.
Passend zum Thema sind die insgesamt vier Tracks mit einem episch-melancholischen Überbau versehen und wissen zu fortgeschrittener Stunde nicht nur die Herzen, sondern auch das Tanzbein in Wallung zu bringen. Der namensgebende Opener etabliert das Setting und pendelt irgendwo zwischen hochgepitchten, zuckersüßen Vocals und einem Groove, der definitiv keine Gefangenen macht. Die restlichen drei Anspielstationen folgen dem vorgezeichneten Weg konsequent bis zum Ende, und man gewinnt den Eindruck, dass das Paradies irgendwo zwischen Ibiza und einem stroboskopdurchseuchten Keller liegen muss. Till Kanis
Nite Fleit & Umwelt – Nightmare at 20,000 Feet (New Flesh / Rave Or Die)
Der Franzose Umwelt und die Australierin Nite Fleit kommen musikalisch zwar aus unterschiedlichen Ecken des musikalischen Spektrums, verbinden sich auf dieser EP jedoch mühelos zum Electro-EBM-Duo.
In der Fasson traditioneller Electronic Body Music knallen diese vier Tracks laut und in alle Richtungen. Vom Titelstück „Nightmare at 20,000 Feet” bis zum technoideren, brodelnden „Fairy Tale of Doom”. Dazwischen: jede Menge synkopierte Breaks und schroffe Basslines („The Hellgramite Method”) oder auch mal reduzierteres Acid-Filter-Geschwurbel („Tiny World of Terror”). Insgesamt schafft die EP so ein durchaus stimmiges, grimmiges und energiegeladenes Gesamtpaket. Leopold Hutter
Pugilist – Static (Banoffee Pies)
Altbekannt und doch neuartig, wie die Turnschuhe seit vier, fünf Jahren – so klingt die neue Pugilist. Mit Static schlägt der Melbourner Produzent Alex Dickinson auf dem Label mit dem so schönen Namen Banoffee Pies fünf Stücke vor, die in unterschiedlichen Konstellationen die Zeitstempelt brandnew und retro in sich tragen. Dies nur am Rand: chefkoch.de, das YouTube der deutschsprachigen Heimbackenden, bringt mindestens ein Bild eines Banoffee Pies, einer Bananen-Karamell-Torte, das wirkt wie eine Zusammenarbeit von Nike mit Marni.
Der Opener heißt folglich „Déja vu” und gleitet zwischen Nähe und Ferne durch mittelgroße Weiten, mit Rhodes-Keys, mit Toasting-Samples. „Future Retro” geht im Hardcore Continuum noch hinter Dubstep zurück, in die Übergangsphase von Downbeat zu 2-Step. Das Titelstück sucht den Zustand einer aufgeweichten Trance, mit eierndem Beat in Dauerschleife, ein paar Bleeps und Wolken-Bässen, Zen-Punks werden dazu meditieren. So bereitet Pugilist die sublimen Cumulus-Wolken von „Sky Blue” vor, Percussion-Beats in Zeitlupe, stockende Echo-Haufen. „Illumination” am Ende zeigt nochmal den Pugilist, wie wir ihn kennen: Beats auf halber Strecke aus gerade und offbeat und ein zwischen rauschend und clean oszillierendes Sounddesign. Christoph Braun