Rival Consoles – Overflow (Erased Tapes)
„Making sense of it all”: Rival Consoles alias Ryan Lee West hat sich einiges vorgenommen. Und beginnt damit in London. Für das Tanzstück Overflow des britischen Choreographen Alexander Whitley am renommierten Sadler’s Wells Theatre komponierte er 2019 eine Art Soundscape: Irgendwo zwischen Hans Zimmers epischen Monumental-Ambient („Hands”), granular-synthetischen Field Recordings von Tänzer*innen („I Like”), Trance-Hallraum-Techno („Pulses Of Information”) und der Minimal Music von Philip Glass („The Cloud Oracle”).
Nachdem das Tanzstück die Uraufführung im Dance East in Ipswich und kurz darauf die Deutschlandpremiere im ZKM: Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe feierte, legte die Covid-Pandemie das Kulturleben lahm („Tension In The Cloud”). Deshalb tourt das Stück erst nächstes Jahr durch Europa; im März 2022 zeigt es das Schrittmacher-Tanzfestival in Aachen.
Wests Album Overflow untersucht wie Whitleys gleichnamiges Tanzstück das Leben im Zeitalter von Big Data („Touches Everything”). Ein Zentralmotiv ist dabei die Frage, wie sich das Bestreben, alles in Daten und Informationen umzuwandeln, auf die menschliche Subjektivität auswirkt („Flow State”, „Monster”). Düster transponierte und klischeehafte Flächen unterstreichen die populäre These, dass das Internet zu einem Massenüberwachungsprojekt geworden sei, in dessen Zuge der zwanghafte Erfahrungsaustausch eine freiwillige Beteiligung an unserer eigenen Ausbeutung bedeutet. Für West ist Overflow ein Sichtbarmachen dessen, was „in der Big-Data-Welt der sozialen Medien und Cookies normalerweise unsichtbar (…) bleibt, hinter ansprechenden und verführerischen Oberflächen” („Scanning”).
Als wichtige Inspirationsquelle diente ihm dafür das Buch Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken des koreanisch-deutschen Philosophen Byung-Chul Han. Die assoziativen Titelverweis-Schubladen von Overflow stehen folglich zwischen Tiqqun, Agamben, Hardt/Negri, McLuhan oder sogar Serres, kreuz und quer durch den Poststrukturalismus sperrangelweit offen. Das Album verheddert sich, statt mit konstruktiven, frischen, ästhetischen Lösungsvorschlägen zu glänzen, in der totalen „neoliberalen Informationsredundanz”, also dem Teil der Verwertungslogik-Norm, den man getrost weglassen kann. Jetzt macht alles Sinn. Mirko Hecktor
Sansibar – Sans Musique (Kalahari Oyster Cult)
Sans Musique, das zweite Album des finnischen Künstlers Sansibar, erscheint dieser Tage auf Kalahari Oyster Cult. Das Label mit selbsterteiltem Auftrag zur Nachwuchsförderung hat seit seiner Gründung im Jahr 2017 einen ziemlich ordentlichen Katalog vielseitiger Produktionen zusammengestellt. Als eine Stärke des Hauses hat sich dabei die derzeit beliebte Schnittstelle von House und Trance (ist das jetzt schon Prog?) herausgestellt. Die Zusammenarbeit mit Sansibar als Vertreter ebendieses Sounds ergibt deshalb schon vor Anhören der Platte Sinn. Als passendes Entrée zu Sans Musique sei an dieser Stelle die 2020 erschienene EP Game Over empfohlen.
In der Tat beendet Sansibar das Jahr hier mit einem sehr schönen Album, das zwar Lust auf den Dancefloor macht, aber dennoch sehr gut ohne funktioniert. Dieser Umstand ist nicht nur den zwei eher andächtigen letzten Tracks zu verdanken, sondern einer Grundstimmung, die sich durch das gesamte Album zieht. Im spielenden Wechsel zwischen Melancholie und Optimismus wird hier ein angenehmes Schwebegefühl ausgelöst, weil die Tracks sich mit Geduld entfalten und ihren Peak stets erreichen, ohne ihn jedoch zu forcieren. Der stimmungsvolle rote Faden der Platte ist auch nicht als Mangel an Abwechslung zu verstehen, dafür ist die Vielfalt hier zu groß.
Schon die ersten beiden Tracks des Albums, das tief wabernde „Scully” und das geradlinige „Force of Equilibrium” verdeutlichen ebenjene Vielfalt. Zwar handelt es sich hier um die vermeintlich härtesten Tracks des Albums, unterschiedlicher könnten diese jedoch kaum sein. Erstmals auf große Reise geht es dann direkt im Anschluss. „Energy, Energy”, haucht das weibliche Sample auf dem dritten Track „NRJ”, dessen Aufbau sich anfühlt wie der Übergang vom Nachmittag in den Abend. Die Stimmung bewegt sich immer wieder zwischen der breit ausgerollten Bassline und luftigen Synthies, geteilt wird der Track durch einen stark konstruierten Breakdown.
Besonders hervorzuheben ist zudem das schnell-breakige „Send It”, auf dem das Sample aus dem Off „High Energy” verkündet und nicht enttäuscht. Die wie erwähnt ruhigeren letzten beiden Stücke fahren anschließend deutlich runter und bilden gewissermaßen das Gegenstück zum energischen Auftaktprogramm. Zum Abschluss zelebriert „Aurora Eclipse” schließlich vollumfänglich die sinnliche Seite des Albums, hier zerfließen die Acidlines wie psychoaktiver Honig, man hört die Pilze wachsen und die Vögel zwitschern. Erholsam in diesen Tagen. Ruben Drückler
Sascha Dive – Back 2 Life (Bondage Music)
Huch, was ist denn da passiert? Man kannte Sascha Dive zu Beginn doch noch für im Zeitgeist stehenden US-Deep-House mit europäisch-minimalistischer Note? Das hier vorliegende neue 3×12-Inch-Album mit stattlichen 15 Stücken wirft eine Menge Fragen auf: Wo fängt das eine Stück an und wann hört es eigentlich (endlich) wieder auf?
Der immergleiche Beat scheint bei Stück eins anzufangen, um im Grunde so bis zum letzten Stück durchgezogen zu werden, dass man es kaum glauben kann. Nur gelegentlich hingehauchte Vocals geben einen schwachen Hinweis darauf, dass es sich um den nächsten Track handeln könnte. Dubbige Chords wabern und mäandern ziellos vor sich hin, der Beat – na ja, wie gesagt. Überhaupt, Spannungsbögen vermisst man gänzlich, wenn dann sind sie stringent flach.
Leider will sich aber auch keine hypnotische Wirkung in dem Sinne aufbauen, dass man sich zum Schluss die Frage stellen würde: Wie spät ist eigentlich gerade? In dem Zusammenhang scheint der Albumtitel vielleicht hoch gegriffen. Es gibt auch für diese Art von Musik den richtigen Fahrstuhl, in dem die Stücke vielleicht doch noch zu leuchten beginnen, aber da lauf’ ich persönlich lieber die Treppe. Nichts für ungut. Robert Gobler
Seven Davis Jr. – I See The Future (Secret Angels)
Seven Davis Jr. weiß einfach, wie man einen Schlurf-Groove mit maximalem Funk zimmert. Dessen ist er sich auf seinem zweiten Album seit Universes (2015) durchgehend bewusst. Allzu sauber darf die Sache eben nicht gearbeitet sein, Schrammen tun not, damit der schmutzige Schmierfilm die kritische Masse bildet. War sein Debütalbum mit großen Hymnen neben einigen sperrigeren Stücken ausgestattet, achtet der US-amerikanische Produzent diesmal auf Durchfeierbarkeit bei konstant rumpelndem Beat und schepperigen Hi-Hats.
Damit wirkt I See The Future zunächst runder und homogener als sein LP-Einstand. Was ein bisschen überrascht, als Seven Davis Jr. zu Protokoll gegeben hat, dass die neue Platte aus Material besteht, das er über einen langen Zeitraum gesammelt und zum Teil jahrelang hat ruhen lassen. Dieser einheitliche Ansatz mag andererseits aber dafür verantwortlich sein, dass sich die einzelnen Nummern, die gern auch mitten im Fluss abreißen, auf Dauer gegenseitig fast die Luft wegnehmen. Vielleicht entsteht dadurch zwischendrin auch schon mal der Eindruck, dass der Funkverständige ein wenig mit angezogener Handbremse unterwegs ist. Das gleichwohl auf hohem Niveau, versteht sich. Tim Caspar Boehme
Severed Heads – Rotund For Success Expanded (Medical Records) (Reissue)
Nicht so leicht zu fassen ist die australische Formation Severed Heads. Zwischen 1979 und 2019 aktiv, handelt es sich weniger um eine Band als um einen Kreativpool um den Musiker Tom Ellard, der Ende der Siebziger begonnen hat, mit Tapeloops und analogelektronischen Klangerzeugern zu arbeiten.
Rotund For Success, 1989 erschienen, zeigt das früh an Multimediathemen interessierte Projekt auf dem kommerziellen Zenit seiner Laufbahn. Mit dem hymnischen „All Saints Day” und „Greater Reward” konnten sich gleich zwei Singles in den US-Dancecharts platzieren, „Big Car“” war eine weitere Auskopplung mit Hidden-Hit-Potenzial. Der an Acts wie Throbbing Gristle oder Skinny Puppy orientierte Industrial-Noise der Anfangszeit ist weit in den Hintergrund getreten beziehungsweise findet sich sublimiert als dezente Patina auf den Sounds abgelagert wieder. Zu den Koordinaten Minimal-Wave und EBM hat sich Acid-House hinzugesellt, neben Liquid Liquid haben sich New Order und The Beloved auf dem Dancefloor eingefunden. Näher am Synth-Pop-Pol der Pet Shop Boys haben sich Severed Heads nie bewegt.
Der eigentümliche, für Severed Heads charakteristische Mix aus Tribal und Gothic hingegen hat auch auf Rotund For Success Spuren hinterlassen, am deutlichsten im beatlosen „Chasing Skirt”. Den zwölf Songs des Originals fügt das Doppelvinyl-Reissue auf Medical Records sechs Alternate-Versions und Remixe hinzu, der „Big-Car-Crash”-Mix von Robert Racic, der große Teile des SH-Katalogs produziert hat, besitzt das Zeug zum Evergreen. Harry Schmidt
VooCha – Everything Changes (UniCAT/State51)
War eigentlich Zeit. Rockwells „Somebody’s Watching Me” gecovert für die Zeit von Big Data. Melissa E. Logan von den Chicks On Speed hat das mit ihrem Projekt VooCha erledigt. „Watching” heißt die Nummer bei ihr knapp, mit aktualisierter Produktion zwischen Electroclash und Gamesounds. Das Debütalbum, für das sie unter anderem die chilenische Sängerin Cecilia Candia, die Kölner Musikerin NLLY oder den Hamburger Produzenten Erobique hinzugezogen hat, hält es mit den Stilen variabel: „Frankenstein In A Mini Skirt” etwa operiert auf Basis von calypsoiden Breaks, beim „Bottom Bot” reaktiviert sie, unterstützt vom Gastproduzenten Eric D. Clark, die Moroder-Maschine in gebrochener Form.
„Ready-made music sounds” nennt Logan ihren Recyclingansatz, wie sie überhaupt das ganze Vorhaben auch in übergeordneter Hinsicht auf Nachhaltigkeit anlegt. Der Titelsong ist da mit seiner Rhetorik à la „Wir müssen etwas ändern, damit die Dinge, die sich zum Schlechten verändern, sich auch wieder zum Besseren ändern können” vielleicht etwas plakativ, aber verzweifelte Zeiten führen mitunter zu drastischen ästhetischen Entscheidungen. Tim Caspar Boehme