Arca – KICK ii / KicK iii / kick iiii / kiCK iiiii (XL Recordings)
2022 wolle sie in eine neue Ära eintreten, twitterte Arca im November. Und darum gelte es nun, Tabula rasa zu machen. Das gestaltet sich so: Arca droppt ganze vier Fortsetzungen zu ihrem Album KiCk i von 2020, als wolle sie loslassen und einfach alles in die Welt entlassen, was sich auf der Festplatte so angesammelt hat. Die auf einen Schlag komplettierte Kick-Serie nimmt die im ersten Teil bearbeiteten Themen inhaltlich wie musikalisch auf, ist aber weit mehr mehr als einfach nur eine Fundgrube, sondern die erneute Erweiterung eines Universums aus multiplen Realitäten und Identitäten.
Musikalische Vielfalt gehört natürlich auch zu diesem Universum: KICK ii fällt überraschend clubbig aus, viel Dembow und Reggaeton stecken in diesen recht rohen Tracks, selbst in einem Stück wie „Luna Llena”, das im Kern eigentlich eine Artpop-Ballade ist. Aber Eindeutigkeiten haben Arca bekanntlich noch nie interessiert, und Arca wäre auch nicht Arca, wenn das perkussiv intakte Gerüst im Laufe des Albums nicht irgendwann zerschnitten und zum Einsturz gebracht würde. Zum Ende, im hyperpoppigen „Born Yesterday”, dürfen die Beats dann aber doch reüssieren.
Ungestümer ist dagegen KicK iii. Die clubaffinen Klänge des zweiten Teils werden hier in Richtung Deconstructed Club gewendet, Synthie-Spuren spektakulär überdreht, Effekte zu Klangkaskaden verkettet. Die Bassdrums, sie sind gelegentlich kaum zu zügeln. Würde man Sets von Kelman Duran und Squarepusher übereinanderlegen, hätte man eine vage Idee dessen, was Arca auf dem vielleicht stärksten Part der Reihe abfeuert.
kick iiii beginnt dann vergleichsweise kontemplativ, hier widmet sich die Künstlerin einem Sound, der auch schon Teile ihres visionären Debütalbums Xen prägte. Die Kollaboration mit dem Cellisten Oliver Coates passt da musikalisch ins Bild, obwohl sie im Arca-Universum beinahe zahm anmutet. Weitere Features folgen: Mit Shirley Manson wird der Wandel von Geschlechteridentitäten als Kreislauf besungen, mit Planningtorock in „tears of queer power” gebadet.
kiCK iiiii bildet schließlich den ambienten Abschluss der Serie. Mit viel Klavier, das einmal gar von Ryuichi Sakamoto beigesteuert wird. Der post-digitale Operetten-Pop von Arcas unbetiteltem, dritten Album klingt auch noch einmal an. iiiii ist eine Elegie und der eindrückliche Abschluss einer Serie, deren Umfang eigentlich nur beweist, dass das Albumfomat für diese Künstlerin vielleicht schon immer zu eng war. „Crown” heißt der letzte Track. Die vier neuen Kick-Alben sind genau das: Die Krone auf dem (bisherigen) Werk einer Queen. Christian Blumberg
Hörbeispiel findet ihr in den einschlägigen Stores.
Curd Duca – Waves 2 (Magazine)
Eine erste Waves-Veröffentlichung Curd Ducas erschein bereits im vergangenen Jahr bei Magazine. Doch diese hatte einen introspektiven, halb ambientartigen Touch. Auf der Fortsetzung der Waves nun haben wir es mit etwas anderem zu tun: einer Klangforschung, die nicht weiter oder zumindest nicht so stark am Menschen als Individuum interessiert ist. Curd Duca, der Produzent mit einem bereits in den 1980er Jahren beginnenden CV, interessiert sich nunmehr für die Flamboyanz des akustischen Materials selbst.
Wo Waves mit einem besänftigenden „gong” in Wohnzimmer-Akustik begann, eröffnet nun „bell”: schrill eingefärbte Kirchenglocken auf ihrer Aussendung in die weite Welt von bebautem Grund, Funkmasten, Straßen. Sie verbreiten eine aggressive Schärfe. Wie der 1955 geborene Komponist und Produzent aus Wien, der seine Winter in Arambol, Goa verbringt, überhaupt seine Skizzen in leuchtend rote Hüllen wirft. So durchdringen knusprige Texturen die Studie „latin 2”, „stakkator” ist das Prinzip des musikalischen Stakkatos als Collage aus Mikro-Parts und der „wind” am Ende ist wie der Fingerabdruck eines Schalks mit eigenem Willen, aufreizend, pfeifend, unberechenbar. Was für ein Gewinn, diese 32 Texturen, zum Zuhausehören ebenso wie zum Montieren in jede Sorte Mix und Musikgebrauch. Christoph Braun
Donnacha Costello – Together Is The New Alone (Keplar)
Zusammen ist das neue Allein. Könnte der Titel zu einem 1000-seitigen Lustmacher von irgendeinem Lars aus der Feuilleton-Redaktion der FAZ sein – oder eine Ambientplatte für Leute, die seit drei Jahren nicht mehr gelacht haben. Together Is The New Alone von Donnacha Costello erschien 2001 bei den Klugscheißern von Mille Plateaux. Dass das Teil seit 20 Jahren in sich geht, merkt man daran, dass es klickt und klackt, als hätte Benoit Pioulard die Platte mit einem Stanleymesser auf Raster-Noton bearbeitet, in die Mikrowelle von Brian Eno gesteckt und Klangschalen für Ambarchi gebastelt.
Die Melodien reißen zwar alle Schleusen auf, um das Tal mit Ecstasytränen zu fluten, gehen aber in ihrem eigenen Schwermut unter. Jeder Laden für Räucherwerk und Traumfänger taucht tiefer ab als diese Introspektionsintoleranz von Costello. Sogar Füller-Ambient auf Technoplatten schickt schneller zum Träumelinchen als das Reissue auf Keplar. Allein „Nothing, Still Nothing”, ein neuneinhalbminütiges Gluckern, kurbelt das Fenster so weit runter, dass man sich den Costello trotzdem soulseekt. Fürs Gemüt. Und fürs Büro, wo man sich das Zeug in die Airpods shuffelt und mit den Kolleg*innen zusammen allein bleibt. Christoph Benkeser
GAS – Der Lange Marsch (Kompakt)
Der heuer 60 Jahre alt gewordene Vordenker der kölschen Elektronik-Szene hat es wieder getan und seinem vermutlich meistbeachteten musikalischen Projekt GAS ein neues Kapitel hinzugefügt. Die unvergleichliche Mischung aus Wagner-Romantik und reduzierter Clubästhetik gehört zur Geschichte elektronischer Musik in Deutschland schließlich einfach dazu, und so kann man im Jahr 26 nach der umjubelten ersten Veröffentlichung auf Mille Plateaux da mit Fug und Recht von einem „langen Marsch” sprechen.
Hat jemand von Euch ernsthaft damit gerechnet, dass bei der 2021er Version alle Steuer neu justiert werden und Soulgesang, Breaks und Trommelwirbel den Wald in Aufruhr versetzen? Wenn ja, muss ich euch enttäuschen, bleibt Der Lange Marsch doch im besten Sinne des Wortes wertkonservativ, zelebriert den maximalisierten Minimalismus der klassisch orchestrierten Loops ohne Anfang und ohne Ende, ein klanglicher Monolith mit stoisch pochender Basskick auf 110 BPM.
Gerade Teil drei bezaubert mit einer schwermütigen Geigeroffensive in tiefstem Moll, im Gegensatz dazu irritieren spukig atonale Dissonanzen des Teils sechs, und doch fügen sich die elf Kapitel des langen Marsches perfekt in die bisherige Diskographie zwischen Narkopop, Oktember, Rausch und dem Zauberberg ein. „Leicht wie Nebel / Schwer wie Blei / Strömt wie Gas.” (Wolfgang Voigt, 2018) Jochen Ditschler
Mattheis & Ranie Ribeiro Het Jaar Rond deel 1 en 2 (Nous’klaer)
Das sogenannte Rescoring, die Neukomposition eines Soundtracks für Filme ohne Tonspur oder anstelle der Originalkompositionen, hat sich in den vergangenen Jahren unter Produzent*innen elektronischer Musik zu einer immer beliebteren Praxis entwickelt. Die interessanteren Ansätze werden auf Labels wie Geist im Kino verewigt, nicht selten allerdings wird von Fördergeldern unterstützt nach ein bisschen Anerkennung im bildungsbürgerlichen Spektrum geheischt – und dabei noch jeder Fritz-Lang-Film zum zigsten Mal mit neuen Sounds unterlegt. Gähn.
Het Jaarronde ist ein Kurzfilm aus dem Jahr 1977 vom Fotografen Jan van Keulen, der darin ein Jahr in den Niederlanden kinematografisch begleitete. Der Rescore Het Jaar Rond entstand in Kollaboration zwischen Nous’klaer und dem The Netherlands Institute for Sound and Vision als Split-LP zwischen Label-Regular Mattheis und Ranie Ribeiro, vormals auch unter dem Namen D-Ribeiro bekannt. Mattheis setzt auf fragile Pianotupfer und klangliche Dichte mit viel Patina – seine fünf Stücke klingen wie Fennesz + Sakamoto im Lo-Fi-Modus. Das mag zum pastoralen Sujet passen, darüber geht allerdings nur der erste Teil des Eno’schen Diktums zur Ambient-Musik – it must be as a ignorable as it is interesting – in Erfüllung.
Ribeiro hingegen holt die Harfe raus, ein Instrument, das dank Alice-Coltrane-Reissues und jüngeren Künstler*innen wie Mary Lattimore, Nailah Hunter oder Nala Sinephro zuletzt ein bescheidenes Revival erlebte. Auch er setzt auf einen verrauschten und ambienten Sound, manipuliert die Klänge seines Instruments und baut so ein pointillistisches Klangbild auf, wirklich viele spannende Ideen entwickelt er aus dieser mittlerweile wohlbekannten Gemengelage aber ebenfalls nicht heraus.
Die zehn Stücke auf Het Jaar Rond mögen vielleicht als sanft plätschernde Tonspur für einen impressionistisch gehaltenen Kurzfilm taugen, weil sie sich im Hintergrund halten und Bilder untermalen, anstatt selbst welche zu zeichnen. Das ist ein Dilemma, das viele Rescores prägt, hier aber noch merklicher als sonst in den Vordergrund rückt. Denn hinsichtlich des nationalen Bezugs des Themas und der Partnerschaft mit einer Kulturinstitution verpasst es diesem Split-Album umso mehr den Beigeschmack von durchgeförderter Musik, die bestimmte kulturelle Narrative tragen soll – und die braucht es in der Regel ebenso sehr wie die x-te Neuvertonung von Metropolis. Kristoffer Cornils
Michel Banabila – Echo Transformations (Knekelhuis)
Michel Banabila ist Zeitenwanderer. Als Mitglied der Ambient-Tribal-Formation Chi, die im Jahr 1985 ein Tape für die Ewigkeit aufnehmen sollte, fand er erst 2016, also gut 30 Jahre später, breite Anerkennung für dieses Werk. Und rückte damit auch mit seinen Soloarbeiten ins Brennglas der avantgardistischen-Musikwelt. Längst überfällig, darf man ruhig sagen. Gerne auch herausschreien. Denn Banabila ist eine aussterbende Art von Künstler. Jener Schlag, der Tag für Tag Musik atmet, denkt und träumt. Das beweisen zahllose Selbstveröffentlichungen. Er braucht Musik, Musik braucht ihn. It’s really that wholesome.
Nun das schizophrene Jahr 2021 abzuschließen, ist sicherlich keine leichte Aufgabe. Dass Mark Van De Maat, Knekelhuis-Kurator und Labelhead, sich für Banabilas Echo Transformations entscheidet, zeugt von seinem Zeit- und Musikverständnis. Eine ganze Weile schon hat sich Knekelhuis mit innovativen Veröffentlichungen hervorgetan, aberdutzende Genres abgedeckt, auch mal Held*innen lang vergangener Tage neu aufgelegt. Das Album von Michel Banabila ist die Kumulation all dessen.
Es ist meist ruhig. Mitnichten ist es jedoch ein schweigsames Innehalten. Wie ein Korallenriff, so nämlich der erste Tracktitel („Coral Reef”), wächst das Album natürlich und organisch. Dass Hörer*innen nach einem meditativem Einstieg, spätestens aber bei „MltV 5z” Parallelen zu Peter Christophersons Werken als The Threshold Houseboys Choir ziehen werden, kann bei der Sound-Schnittmenge nur beabsichtigt sein. Banabila nutzt synthetische Stimmalgorithmen auf ganz ähnliche Weise, wie es Sleazy tat. Und eben nur dieser. Aber vielleicht folgen wir einer falschen Fährte, und Echo Transformations ist eigentlich eine inoffizielle Fortsetzung von und Hommage an Jon Hassell und Brian Eno und die von ihnen kultivierte Fourth-World-Musik. Wer weiß das schon? Solche Musik in Worte zu fassen, fühlt sich immer falsch an. Man kann nicht greifen, was sich keinen physikalischen Gesetzen unterwirft. Besser ist es daher wohl, mit diesem transzendentalen Album im Ohr ein kleines Stück des Weges gemeinsam zu gehen und sich wieder daran zu erinnern, was Unbeschwertheit nochmal war. Andreas Cevatli