Dis Fig auf dem Krake (Foto: Virginia de Diaz)
2021 präsentiert sich das Berliner Krake Festival als, Achtung, Trendwort, Hybrid. Mussten 2020 noch sämtliche Programmpunkte pandemiebedingt im Cyberspace stattfinden, hatten die vier Festivaltage vom 11. bis 14. November neben HÖR-Sets und humoristischen Livestreams wieder einen unmissverständlichen Kern: Die vollgepfropfpte Clubnacht in der Anomalie von Freitagnacht bis Samstagnachmittag mit experimentellen Acts, Electro-DJs, Trance-Ekstase und stoischem Techno-Geballer.
Das Publikum, das die drei Floors im Club an der Storkower Straße frequentierte, wirkte dabei so heterogen wie das geschmackssicher kuratierte Line-Up mit Künstler*innen wie Krake-Inventaristin Helena Hauff, Solid Blake, Dis Fig, Ick-Mach-Welle!-Mitglied Bläck Dävil oder der belgischen Techno-Legende CJ Bolland.
Ob sich alle Anwesenden dem organisatorischen Fluss unterordneten und beispielsweise das digitale Warmup am Vortag mitgemacht hatten oder einfach nur durch die verwinkelte Anomalie treiben ließen, war freilich nicht auszumachen. Obwohl das vielgepriesene Soundsystem des Clubs mit der musikalischen Vielseitigkeit des Line-Ups nicht immer gut zurechtkam – Stichwort Dis Fig, deren sicherlich gelungene Noise-Performance mit Ausflügen ins Publikum, expressiven Schreien und theatralischen Einlagen besonders auf vokalistischer Ebene gesprengt wurde –, passten die verworrenen Räumlichkeiten hervorragend zum nonlinearen Charakter des Festivals.
Wieso die Leute da waren, bleibt letzten Endes also sekundär. Wichtig war nur ihre Anwesenheit selbst, ihr konstantes Wuseln von Floor zu Floor, von musikalischem Wagnis zu selbstsicherer Routine zu extravaganter Symbiose. Stellvertretend rezensieren wir im Folgenden exemplarisch drei Sets, die das Festival für uns geprägt haben.
CJ Bolland
Wann läuft „Camargue”? Auch wenn es nicht jede*r zugeben möchte, war das sicherlich eine der Fragen, die die Krake-Gäste vor CJ Bollands Set um 6 Uhr früh umtrieb. Zur Vorfreude auf einen Hit-Anker nach Dis Figs aufreibendem Noise und Best Boy Electrics sowie Solid Blakes ratternden Electro-Sets mischte sich sicherlich auch latente Angst. Was, wenn die Techno-Koryphäe ähnlich hängengeblieben spielt, wie es andere Granden, derem Set man mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Neugierde entgegenschielt, es von Zeit zu Zeit tun?
Beim Belgier entpuppte sich diese leicht manische Skepsis glücklicherweise als unbegründet, weil er sein Denkmal – sofern das mit einem Set überhaupt geht – nicht mit dem Arsch einriss, sondern ihm eher noch einen Stützpfeiler verpasste. In zwei Stunden spielte der in Würde ergraute, bebrillte DJ präzise, routiniert und treibend. Techno, der zuweilen sogar leicht ins Atzige abdriftete, baute eine Brücke zwischen Bollands Hochphase in den Neunzigern und der stets progressiven Eminenz, die ganz real hinter den Decks des Mainfloors ihr Werk verrichtete.
„Camargue” lief übrigens auch noch, als Closer, unterlegt mit verworrenen Breakbeats, aufgrund seiner zeitlosen Melodie aber mindestens genau so euphorisierend wie als Opener nach dem Set deines Instrumental-Hip-Hop-affinen Mitbewohners auf der WG-Party. Maximilian Fritz
DJ Normal 4 b2b DJ Brada
Während in der großen Halle um 9 Uhr morgens Hanno Hinkelbein und Wes Baggaley mit ihrem Ansatz von Industrial Techno die letzten Energiereserven aus den noch vorhandenen Raver*innen rauskitzeln, versuchen sich DJ Normal 4 und DJ Brada an einem anderen Ansatz. Die beiden spielen im Rahmen des Warning-Showcases.
Das Label besticht seit geraumer Zeit durch einen Sound, der irgendwo zwischen Breaks, Acid und Trance einzuordnen ist. Dabei ist das dreistündige b2b der beiden von einem langen Spannungsbogen und einem energetischen Finale geprägt. In gewohnter breakiger Acid-Trance-Manier pushen die beiden sich bis hin zum Hard-Trance Klassiker „Trance and Acid” von Kai Tracid.
Während dem Set wächst die Crowd zunehmend, und die Energie zu dieser Tageszeit ist definitiv bei dieser Performance. Das Publikum wirkt zudem diverser und entspannter als bei CJ Bolland. Das Krake schafft es in diesen frühen Morgenstunden verschiedene Ansätze elektronischer Musik nebeneinander zu vereinen, wodurch interessierte Raver*innen mit diesem Line-Up sichtlich Spaß haben und dazu veranlasst sind, die verschiedenen Dancefloors öfter zu wechseln, um möglichst viel aufnehmen zu können. Vincent Frisch
S Ruston
Als S Ruston um 7 Uhr morgens ihr Set startet, sind die meisten Besucher*innen bei CJ Bolland in der großen Halle. Ganz versteckt liegt der dritte und kleinste Dancefloor, auf dem sich zu S Rustons Set nur vereinzelt Tänzer*innen versammeln. Dennoch entsteht eine spannende Situation, denn zusammen im kleinen Tanzkreis gelingt es, der DJ die Wertschätzung entgegenzubringen, die ihre Selektion verdient hat.
Einzigartig an diesen Morgenstunden ist zudem, dass dieser Dancefloor der einzige mit einströmendem Tageslicht ist. Lässt man sich auf diese besondere Situation und die gewaltigen Breakbeats ein, die S Ruston an diesem Morgen spielt, dann entstehen Momente, die man sich zurückwünscht. Durch den Einsatz diverser Breaks und langer Ambient-Phasen erzeugt die Britin ein niederschmetterndes und zugleich psychedelisches Post-Rave-Momentum, das eine komplexere Alternative zum eher funktionalen CJ-Bolland-Set liefert. Vincent Frisch