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Oktober 2021: Die essenziellen Alben (Teil 3)

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NonniMal – Hverfisgata (Thule)

NonniMal – Hverfisgata (Thule)

Island und Dub, das passt. Thule Records schiebt Eisberge seit 25 Jahren im Viervierteltakt um den Polarkreis. Legt man ihre Platten auf, packt man die Winterjacke aus. Und klemmt sich vorsorglich die Skibrille über die Nase. Denn Hverfisgata von NonniMal, einem isländischen Producer, ist wie die Titanic im Bossmodus – gleitet in Zeitlupe übers Wasser und kracht irgendwann in einen unsichtbaren Berg. Doch anstatt unterzugehen, fräst sich der Koloss durch gefrorenes Wasser wie Pisse auf Schnee. Wer sich „Ljúfa” anhört, weiß wieso: Der Maschinenraum brennt. „Klapparstígur” schmeißt Kohle ins Feuer. Das Teil gerät außer Kontrolle und bohrt mit „Ísold” ein riesengroßes Loch ins ewige Eis.

In den besten Momenten lugt dahinter Thomas Fehlmann hevor, während Porter Ricks auf Reinhold Messner machen und die Erstbesteigung des Subwoofers in Planung nehmen. NonniMal haut sich in die Steigeisen und hilft mit, indem er das Teil auf seine Funktionstüchtigkeit unter Extrembedingungen erprobt. Am Schluss kommen zwar alle drauf, dass die lieben Leute von Basic Channel schon längst einen geilen Spruch ins Gipfelbuch gekritzelt haben. Wurscht. Die Platte taugt auch so. Christoph Benkeser

Ross From Friends – Tread (Brainfeeder)

Ross From Friends – Tread (Brainfeeder)

Schon zu Zeiten des Lo-Fi-House Hypes vor ein paar Jahren stach der Brite Felix Clary Weatherall, besser bekannt als Ross From Friends, aus der großen Masse der meist doch eher mediokren Produzenten strahlend heraus. Seine Version des Sounds – auf diesem, seinem zweiten Album, zu beeindruckender Perfektion gebracht – besticht durch verschnörkelte Klang-Ziselierung, verspielte Melodien-Hingabe und eine gewisse Psychedelik, die schon sehr ans Dissoziative grenzt – wenn sie sich nicht sogar des Öfteren in einer Art klanglichem Ketamin-Loch selbst zu verschlucken scheint.

Das mag zunächst recht abstrakt klingen. Doch ist Weatheralls Musik zwar auf hohem Sophistikations-Level, gleichzeitig aber durch eine starke Pop-Affinität zugänglicher, als es zuerst erscheinen mag – und dürfte auf dem Dancefloor wie auch zuhause funktionieren. Und dass er auf Flying Lotus’ Brainfeeder veröffentlicht, ist auch kein Wunder, ist seine Sampling-Arbeitsweise doch stark von Hip-Hop-Techniken geprägt – man könnte ihn fast als die House-Variante von J Dilla bezeichnen.

Einflüsse von Soul bis 2Step werden feinmaschig verwebt, die perlenden Melodie-Sequenzen erinnern öfter mal an den Neotrance früher Border-Community-Platten, und alle paar Augenblicke kommt eine gewitzte Arrangement-Idee um die Ecke, die mitunter einen Track mittendrin von Grund auf umkrempelt. Sicherlich eines der spannendsten Alben der letzten Zeit. Spannend dabei in dem Sinne, das man sich ständig fragt, womit Weatherall als nächstes überrascht – eine Fragestellung, die er mit diesem Album auf brillante Weise beantwortet. Tim Lorenz

Stephan Bodzin – Boavista (Herzblut)

Stephan Bodzin – Boavista (Herzblut)

Mit seinem dritten Album verfestigt der in Klassischer Musik ausgebildete Bremer Produzent Stephan Bodzin endgültig seinen Spitzenplatz im deutschen Techno-Olymp. Offensichtlich litt Bodzin in den vergangenen Lockdown-Monaten nicht an kreativen Durchhängern und präsentiert sich mit den 17 im zeitweiligen brasilianischen Exil finalisierten Stücken auf Boavista auf dem Zenit seiner Schaffenskraft. Kaum jemand weiß die Rolle als Großmeister des romantischen Full-Service-Pakets auf der Tanzfläche momentan passender auszufüllen.

Bei den melodischen Wunderwerken von „Infinite Monkey”, „Cooper Station”, „LLL” oder dem Titelsong gelingt Bodzin scheinbar spielerisch die perfekte Balance aus fordernden Basslines und unvergesslichen, auf den Punkt komponierten melancholischen Synthie-Hooklines, die jeder Clubnacht erst den tieferen Sinn verleihen können. Aber auch jenseits der Bassdrum gelingen Bodzin mit „Theory Of Everything” oder „Rose” tief berührende Ambientromanzen aus den Sphären des elektronischen Orchestergrabens. Hat da jemand Neotrance gesagt? Jochen Ditschler

STL – Lost In Musik (Something)

STL – Lost in Musik (Something)

Lost In Musik dürfte das 16. Album von Stephan Laubner unter seinem STL-Alias sein, wie nahezu alle Vorgänger erscheint es auf seinem Label Something. Das zeigt: Vollständige Kontrolle über den künstlerischen Prozess ist Laubner wichtig – vom ersten bis zum letzten Schritt, vom Ausgangspunkt im Studio bis zum Artwork. Inwiefern sich das auszahlt, zeigt Lost In Musik: Kompromisslos setzt Laubner auf eine Dub-Techno-Ästhetik, in der Lo-Fi-Sounds den Ton auf der Klangpalette angeben, mit metallisch schimmernden, kristallinen Farben wie Drone, Industrial und Ambient.

Dabei fächert er die Deepness der Musiken aus Detroit hier weiträumig auf: Die Spanne reicht vom Acid-Track „Hug” bis zu „Up” im Novelty-Disco-Format (!). Der wirkliche Hit indes ist der kurze Boogie-Tune „Deep Cheese” – ein Groove, geloopt vielleicht aus dem Sample einer  springenden Nadel, und eine winzig kleine Synthesizer-Hookline, mehr braucht Laubner dazu gar nicht. Näher am House-Verständnis eines Moodymann oder Theo Parrish angelegt sind die beiden epischen Exkursionen „Beat-O-Cosm” und „Why Because”. Verstolperter Breakbeat kommt mit „Peace Out” und „Witchfight” zu seinem Recht. Wie man dieses Panoptikum, auch unter Zuhilfenahme der sieben Art-brut-Loops, zu einem fesselnden, stringenten Set zusammensetzt, demonstriert Laubner mit einem Internet-Video. Eintauchen uneingeschränkt empfohlen. Harry Schmidt

Hörbeispiele findet ihr in den einschlägigen Stores.

vhvl – hem/sew (RVNG Intl.)

vhvl - hem:sew (RVNG Intl.)

Eine schöne Sache daran, dass Tonträger sich mittlerweile auf so ziemlich alle möglichen Formate verteilen, ist die Rückkehr der kurzen Platten. Oder Tapes. Die New Yorker Produzentin Veronica Lauren alias vhvl, akronymisch für „very high, very low”, hat auf hem/sew neun Titel versammelt, das langt für ein Album. Dass sie damit nach 23 Minuten schon durch ist, stört in der Sache nicht weiter. Sie säumt und vernäht mit sicherer Hand Beats, für die das gilt, was man im Englischen wiedergeben würde mit: They don’t outstay their welcome.

Lauren lässt ihre Zweiminüter kurz Anlauf nehmen, gewährt ihnen ein wenig Fahrt auf freier Strecke und verabschiedet sie wieder im richtigen Moment. Die Stimmungen sind ruhig gehalten, ohne sich ins Pastorale auszudehnen, ganz große Räume sind nicht vorgesehen. Man blickt eher in Landschaften von kleiner Dimension, ähnlich diesen Minifernsehern mit Guckloch, in denen man als Kind Dias ansehen konnte. Wenn sie in „sseee” dann auf einmal leicht verzerrte Frequenzen beisteuert, fühlt man sich unversehens in leicht unwegsamem Gelände. Doch auch diese Station währt kurz. Tim Caspar Boehme

Zvrra – Bizzaroland (Avian)

Zvrra – Bizzaroland (Avian)

Angekommen im Nirwana der Nichtigkeiten, im Hier und Jetzt: Bizzaroland von Zvrra ist das Ergebnis von fast zwei Jahrzehnten ausgedehnter Tauchgänge durch diverse Untiefen elektronischer Musik, die sich zwischenzeitig auftaten und etablierten. Der in Chicago ansässigen Produzentin, DJ und Coderin gelangen bereits letztes Jahr mit der Flow State-EP und dem kriminell unterschätzten Growth unwahrscheinlich dicht texturierte Arbeiten jenseits des Techno-Kanons, die schnell eine distinkte Signatur freilegten. Viszerale Vierviertel im Milchglasmodus pochten da unter minimalistischen, aber irre modulierten Klangteppichen, verwirbelt von schwirriger Dröhnung und einer professionell abgestimmten Sample-Selektion.

Ähnlich dunkel, ähnlich ominös und wie tote Signalloops aus kilometertiefen Schachtanlagen zerfasert auch Bizzaroland, mit dem Zvrra nun endlich bei Avian debütiert. Veröffentlichte sie die meisten ihrer Produktionen bislang in Eigenregie via Bandcamp, so ist der Wechsel zur Qualitätsbank von Guy Brewer (alias Shifted) jetzt ein ebenso Überfälliger wie Logischer. Die neun Tracks des Albums sind stellenweise technoid, doch mehr dem Kopfhörerkino als gängigen Tanzfluren verschrieben, und nutzen Beats wie ein Metrum zur Hypnose, innerhalb derer die unheimlichen, quasi-rituellen Soundszenerien wuchern können.

Im Primat des Experiments entdeckt Zvrra dabei abermals Möglichkeiten, reihenweise atypische Produktionskniffe optimal ineinandergreifen zu lassen. So muten etwa „Society”, das angespannte „Figurine” oder „Untitled” trotz ihrer im Hintergrund raunenden Rhythmik eher wie die Begleitmusik postapokalyptischer ISO-RPGs an, während Tracks von der Räumlichkeit eines „Oracle” oder „Tired Beetle” weitgehend im industriellen Ambient-Sektor fluktuieren – Atmosphärenwirkung bis zum Abwinken also.
Wenig überraschend, war Zvrra doch in der Vergangenheit auch an der Entwicklung von Games beteiligt, weiß daher um die Notwendigkeit klanglicher Kohärenz in ihren Tracks und kam zum Musikmachen ohnehin erst, als sie 2003 den Soundtrack von Midnight Club II aufsaugte. Eklektizismus trifft hier auf kreative Erfahrungen in unterschiedlichsten Disziplinen und Ahnung von Ästhetik: Bessere Bedingungen kann die Genese eines eigenen Stils wohl kaum haben. Nils Schlechtriemen

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