Die Seebühne der Nation of Gondwana. In wenigen Minuten wird hier der Grünefelder Frauenchor auftreten (Foto: Alexis Waltz)
Wie oft hatte man sich diesen Moment ausgemalt: Das erste Mal wieder auf dem Festivalacker stehen. In der Ferne schon das leise, konstante Wummern des Basses, einen viel zu schweren Rucksack auf dem Rücken und noch mehr Vorfreude im Gepäck. Nach dem vergangenen Sommer ohne Festivals und mittlerweile über anderthalb Jahren ohne echte Cluberfahrung hatte sich GROOVE-Autorin Laura Aha zwischendurch schon hin und wieder mal die Frage gestellt: Geht das überhaupt noch? Eng gedrängt in einer Menge schwitzender Menschen stehen, ohne Maske Fremden neben sich die Track-ID ins Ohr schreien und mit Freund*innen eine Bierflasche voller Leitungswasser teilen?
Es fühlt sich an wie ein kleines Wunder, dass die Nation of Gondwana in Grünefeld in diesem Jahr an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden stattfinden durfte. Fast alle großen Festivals mussten abgesagt werden.
Keine zwei Wochen vor der ersten Nation gab es Meldungen aus Holland, nach denen sich bei einem Festival 1000 Besucher*innen mit Corona infiziert hatten – trotz Hygienekonzept und Testauflagen. Und nun stehe ich doch hier, im Leitsystem zum Festivaleingang und warte auf das Ergebnis meines Schnelltests.
22 Seiten lang ist das Hygienekonzept, dass das Nation-Team rund um Markus Ossevorth im letzten Jahr erarbeitet hat. Wie viel akribisches Selbststudium und Behördendschungel damit verbunden waren, das hat Markus uns im Groove-Interview im Vorfeld erklärt. Die Nation wurde zum Modellprojekt, als wissenschaftlich begleitete Studie, um Erkenntnisse zur Durchführung von Open-Air-Veranstaltungen unter Pandemiebedingungen zu gewinnen.
Für Markus und sein Team ist diese Nation durchaus ein politisches Statement, mit dem sie stellvertretend für die gesamte Branche zeigen wollen: Ja, es geht – wenn man es richtig macht. Das erfordert natürlich auch die Mitarbeit der Realitätsfluchthelfer*innen, wie die Besuchenden auf der Website liebevoll genannt werden: Das Festivalticket bekam man erst zugeschickt, nachdem man seinen digitale Impfnachweis hochgeladen hatte oder einen PCR-Test in einer der Partnerteststationen maximal 48 Stunden vor Ankunft auf dem Gelände durchgeführt hatte.
Beim Einlass gab es dann einen weiteren Schnelltest. Und noch ein Novum: Anreise mit dem Taxi oder Öffis war ausdrücklich nicht erwünscht. Nur mit dem eigenen Auto oder dem Fahrrad ging es aufs Gelände, um Clusterbildung zu vermeiden. Ein bisschen mehr organisatorischer Aufwand als sonst, aber dank organisiertem Gepäckshuttle und geführter Radtour für jede*n eigentlich machbar, aus Berlin auch mit dem Rad anzureisen.
Tatsächlich zeigt sich am Anreisekonzept aber schon, dass so ein Testkonzept nur funktionieren kann, wenn das Festival maximal lokal ausgerichtet ist: Die Nation hat sich in ihrer 27-jährigen Festivalgeschichte eine treue Stammgemeinde an Feiernden aus dem Großraum Berlin aufgebaut. Auch wenn es vereinzelt internationale Gäste gibt, hört man auf dem Gelände kaum andere Sprachen als Deutsch.
Auch die 1500 Helfer*innen kommen vorwiegend aus dem Umland – von den DRK-Sanitäter*innen über die freiwillige Feuerwehr, die die Würstchen grillt, bis zu den Omis aus dem Dorf, die ihren selbstgebackenen Kuchen verkaufen. Das Festival ist familiär und lokal verwurzelt, das gehört zur Nation-DNA.
Das spiegelt sich auch im Booking: Außer Headlinern wie Seth Troxler (Wochenende eins) oder Carl Craig (Wochenende zwei) gibt es kaum internationale Acts, die meisten leben in Berlin. Auch dadurch lässt sich das Infektionsgeschehen minimieren.
Und dann kommt endlich die Push aufs Smartphone: Schnelltest negativ. In den Autos um mich herum brechen die Fahrgemeinschaften kurz in Jubel aus. Viele hatten wohl bis zuletzt gezittert. Nun fällt die Anspannung, die ersten Sektkorken knallen aus den Autofenstern. Also endlich rein da.
„No Mask, No Service” steht auf Schildern an der Bar. Es gibt Spender mit Desinfektionsmittel. Und Maskenpflicht beim Anstellen am Klo. Aber sonst? Eigentlich alles wie immer. Alle nehmen sich vor, den Freitag etwas ruhiger zu machen, weil die eigentliche Party mit der Mainstage ja erst am Samstag losgeht. Und werfen dann doch schon beim ersten Rundgang zur Birke alle guten Vorsätze über Bord.
Nene H heizt mit ihrem Mix aus energetischem Techno und pumpendem Voguing-Tunes schon den Dancefloor auf, ehe die Sonne untergegangen ist. Ohne Maske blicke ich zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit in strahlende Gesichter auf dem Dancefloor.
Auf der Seebühne blendet die New Yorkerin Gabrielle Kwarteng derweil in weniger als zehn Minuten von einem Kelis-Edit über astreinen Chicago House hin zu den Venga Boys und setzt den Ton für die Nacht: We like to party!
Ein softer Festivalstart sieht anders aus: Während Clara Cuvé 140+-BPM-Techno ballert, nimmt Matrixxman den traditionell eher housigen Floor am See mit einem ziemlich roughen Set auseinander. Gemütliches Eingrooven ist nicht – und die Menge hat Bock. Als Anja Schneider Underground Resistance mit DJ Hell mixt, graut schon der Morgen hinter dem Fichtenwald.
Tag zwei beginnt so, wie jede Nation traditionell beginnt: Mit dem Auftritt des Grünefelder Frauenchors. Und doch ist auch der dieses Mal ernster als sonst. Es gibt eine Schweigeminute für die Flutopfer, für die vor Ort auch Spenden gesammelt werden. Und natürlich für André Janizewski, einem der beiden Ur-Pyonen und Nation-Mitgründer, der letztes Jahr an Krebs gestorben ist.
Dann gibt es eine rührend umgedichtete Version von „Ohne dich (schlaf ich heut Nacht nicht ein)” von Münchener Freiheit, und man fühlt sich richtig angekommen in der Parallelwelt. Den brennend heißen Tag übersteht man fast nur am See, aber spätestens bei Eluize funkt die Tanzlust wieder auf. Die Australierin liefert mit smoothem House und verspultem Acid den perfekten Einstieg in die Nacht und eines der interessantesten Sets des Festivals.
Als es endlich dunkel wird, ist das Gelände kaum wiederzuerkennen: Die Nation ist bekannt für ein Lichtkonzept, das seinesgleichen sucht. Auf einer Sprühnebelfläche tanzt eine projizierte Ballettänzerin über den See. Auf der Hauptbühne weiß man bei DVS1 und Blawan nicht mehr, ob man in einer Kathedrale oder doch unter freiem Himmel steht.
Und auf der Seebühne verschiebt das ausgeklügelte Lichtsystem derart die Perspektive, dass man einfach da bleiben muss. ItaloJohnson und Cinthie holen die House-Music-Lovers ab. Und als Gerd Janson irgendwann viel später beim Sonnenaufgang seinen letzten Track und die inoffizielle Hymne des ausgefallenen Festivalsommers spielt, kommt man nicht umhin, aus vollem Herzen mitzusingen: Can we make, can we make it stay?