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Mai 2021: Die essenziellen Alben (Teil 2)

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Loraine James – Reflection (Hyperdub)

Loraine James - Reflection

Hyperdub bleibt eines der Labels, die einem den Glauben zurückgeben können, dass die Zukunft weitergeht, egal, wie trist es ansonsten um die Welt bestellt ist. Die Londoner Produzentin Loraine James tut das mit ihrem Album Reflection auf jeden Fall. Und das, obwohl im Jahr 2020, als sie die Platte schrieb, für sie insgesamt nicht sehr viel ging. Vielleicht auch gerade deshalb. Nervöse Beats, an sich keine Seltenheit, bekommen, trotz oder dank kontrollierten Einsatzes, bei ihr mitunter eine stark aufgeladene innere Spannung. Kräfte zerren in allerlei Richtungen, für Zentrifugalkräfte scheint ein richtiges Zentrum zu fehlen.

Trotzdem hält sie ihre von akuter Auflösung bedrohten Nummern irgendwie am Laufen, verleiht ihnen eine zerrissene Zartheit. Gut die Hälfte davon bietet Beiträge von Gastsängern, mit deren Stimmen sie ebenfalls so einiges an Verhackstückung anstellt. Soul, behutsam geschreddert. In vereinzelten Nummern wie dem Titelstück steht sie selbst am Mikrofon, mit einem Rap, bei dem sich der Rhythmus der gewöhnlichen Alltagssprache annähert. Um persönliche Befindlichkeiten geht es, Lockdown-Selbstbetrachtungen. Mit ihrem die Stabilität der eigenen Struktur austestenden Ansatz findet sie zugleich eine Form, die bei aller Eigenheit über sich hinausweist, in ein noch auszuformulierendes Morgen. Tim Caspar Boehme

Loscil – Clara (Kranky)

Loscil - Clara

Streicher, schleppend wie zerdehnt. Bei Ambient eigentlich gar keine ungewöhnliche Basis. Allerdings hat sich Scott Morgan alias Loscil für sein Album Clara ein bisschen mehr Arbeit gemacht als sonst üblich. Die Orchesterklänge, die darauf zu hören sind, hat er selbst geschrieben und von einem 22-köpfigen Filmorchester in Budapest einspielen lassen. Das dreiminütige Stück, vorwiegend eine Abfolge ruhiger Akkorde, wurde im nächsten Schritt auf eine Schallplatte gepresst, vorwärts wie rückwärts, und diese Platte hat Morgan noch einmal bearbeitet vulgo zerkratzt.

So hat seine Musik zum einen die räumlichen Resonanzen der Originalaufnahme als eine Schicht des Materials und die leichten Störgeräusche der Platte als eine weitere. Aus seinem begrenzten Tonvorrat schafft er eine Vielzahl an Variationen, geloopt, mit mehr oder weniger deutlich elektronischen Effekten als Zugaben versehen, stets aber bleibt die anfängliche Zelle zu erkennen. Das Tollste daran: Clara benötigt dieses Wissen gar nicht, um seine Wirkung zu entfalten. Bei aller Trägheit des Schwebens sind die Töne von einer inneren Dichte und Lebendigkeit, dass sie die gut 70 Minuten der Platte wie die Bögen eines lichten Gewölbes tragen. Ein bisschen ist es wie bei einer Fuge, in der aus einem einzigen Motiv endlose mehrstimmige Geflechte entstehen können. Mit dem Unterschied, dass es bei Loscil der Klang ist, der fortgesponnen wird. Tim Caspar Boehme

Moiré – Good Times (Hypercolour)

Moire - Good Times

Für diese Label-Liste würden nicht wenige Musiker*innen schlimme Dinge anstellen: Moirés bisherige Veröffentlichungen erschienen auf Rush Hour, Ghostly International, R&S Records, Spectral Sound und Werkdiscs/Ninja Tune. Fetter geht kaum. Und dass dies möglich ist mit Musik, die Hypercolour im Info zum neuen Album als „hazy”, also „nebelhaft” oder „dämmrig”, beschreibt – zudem in Verbindung mit „drowsy beats” („schläfrigen Beats”!) – wie kann das sein? Zumal die aufgeführten Labels überwiegend für den Dancefloor veröffentlichen. Aber glücklicherweise eben nicht nur. Und Moirés Klasse ist dermaßen hoch, dass wohl kein A&R-Direktor dieser Techno- und House-Welt Nein zu einem Demo aus seinen Händen sagen würde. Good Times – ein gelungener Scherz, dieser Albumtitel, vielleicht aber auch eine intendierte self fulfilling prophecy – besteht zum größten Teil aus melancholisch-ruhigen Stücken über verschleppten Grooves. Lo-Fi-Electronica und Ambient Noise sind klare Eckdaten, aber House wohnt im Endeffekt allen Tracks mindestens als Keimzelle inne.

Und diese letztlich eben doch positive, energetische Wurzel macht vermutlich den Unterschied aus zu anderen Produktionen, die Zurückhaltung und düstere Stimmung pur liefern und am Ende in einem Depressions-Loop hängenbleiben. Moiré verströmt zwar auch nicht Lebensbejahung pur, aber in seinen Tracks wohnt immer auch Licht, immer auch ein Rest Zuversicht. Einen riesengroßen Anteil an dieser Wirkung hat auf Good Times der Sänger und Rapper Demigosh, der mit brüchig-taumelnder Stimme die Tracks perfekt um eine sehr eigene Interpretation von zeitgenössischem Soul ergänzt. Übrigens: Wem die ersten vier Stücke des Albums irgendwie zu herkömmlich, repetitiv („Low Works”) und so gar nicht zu dieser Kritik passend erscheinen – bitte nicht abschrecken lassen! Vielleicht wollten Moiré und/oder Hypercolour nicht gleich allzu vehement mit der Tür ins Haus fallen. Spätestens ab Track fünf, dem magisch-berührenden „Dekade”, beginnt dann aber die Reise in die sanft-blauen Tiefen der Moiré’schen Seele. Mathias Schaffhäuser

Moog Conspiracy – Constant Repetitive Rhythm (Elektrotribe)

Moog Conspiracy - Constant Repetitive Rhythm

Eh, einmal anschnallen, bitte, und in unter 60 Minuten alles durchzocken, was Techno in den letzten zwei Dekaden so hergab. Ja? Danke. Dabei hat Romain Faivre ganz klein angefangen, als er mit Elektrotribe 2006 Label und Künstlerplattform in einem aus dem Äther hob – zwischenzeitlich kamen Produzent*innen, DJs, VJs, Designer*innen und Videokünstler*innen dazu. Die stellen als Kollektiv – als Stamm – mittlerweile so einiges auf die Beine, was selbst den ärgsten Heads noch unterm Feed-Radar entfleucht – weltweite Raves, Podcasts, eine Fülle an Soundcloud-Mixes, EPs, LPs und so weiter. Zwar bleibt Elektrotribe immer noch eine unterschätzte Größe, speziell im gesättigten europäischen Club-Untergrund, doch was die Jungs und Mädels soundtechnisch tropfen ist in vielen Fällen äußerst stabiler Werkhallenklang der unverkopften Sorte und wird weltweit gefeiert.

Labelchef Faivre kommt nun nach fünf Jahren als Moog Conspiracy mit dem vielleicht dicksten Oschi um die Ecke, den er bisher aus seiner Pipeline gepresst hat. Die zehn Tracks des Albums erfinden das Rohr beileibe nicht neu, muss aber ja auch nicht immer sein. In Gestaltung und Ausführung ist das Programm nämlich verdammt divers aufgefächert, reicht vom ambient-affinen „Palette” über Eurobeat-Säuremischungen und den hypnotischen Titeltrack bis hin zu Berghain-Bömbchen Marke „Wizard” oder „Tristesse” (eher Säule) und soll laut Promotext die musical journey des Produzenten darstellen. Joa, kennt man – macht aber in diesem Fall ausnahmsweise mal Sinn, hat Faivre doch wahrscheinlich ähnlich viele Länder bereist wie Werner Herzog. Mit dem verbindet ihn zwar nur ein unstillbarer Arbeitsethos, doch das reicht schon, um aus Constant Repetitive Rhythm ein Manifest für nächtelange Trance-Zustände zu kloppen. Vielleicht also doch eher abschnallen vorm Einschmeißen. Nils Schlechtriemen

µ-Ziq – Scurlage (Analogical Force)

u-Ziq - Scurlage

Schon immer ein großes Talent Mike Paradinas’ war es, neue Genres und Strömungen im Bereich der elektronischen Tanzmusik nicht nur zu erspähen (so war er etwa einer der ersten, der auf seinem Label Planet Mu Footwork-Produzent*innen außerhalb Chicagoer Nischenlabels eine weltweite Plattform gab), sondern diese auch passgenau in seinen eigenen Entwurf von Electronica und Braindance einzuarbeiten, ohne dass sie auf irgendeine Art aufgepfropft wirken.

Und so auch hier. Entstanden während des ersten britischen Lockdowns im Sommer 2020 in dem kleinen walisischen Küstenort Scurlage – daher also auch der Albumtitel – breiten sich diese Tracks wie ein organisch wachsender Pilzteppich in den feucht-tropfigen Wäldern von Wales aus – elektronisch zwar, doch eher anmutend wie eine modern-abstrakte Version urenglischen Psych-Folks. Könnte durchaus auch der Soundtrack für den nächsten Folk-Horror-Film sein, wenn mystisch zerschnipselte Stimm-Fragmente durch den von episch-erhabenen Synth-Schwaden vernebelten Percussion-Wald ziehen. Dabei kombiniert Paradinas wie eh und je gekonnt melancholische Melodien mit rasend über sich selbst stolpernden, von Jungle wie Juke inspirierte Rhythmus-Patterns und lässt auf diese Weise – bitte entschuldigt die klischeehafte Metapher, aber es ist tatsächlich so – seinen eigenen Film, vom Ohr ins Gehirn kriechend, vor dem imaginären Auge entstehen. Celluloid not needed at all. Tim Lorenz

Neutron 9000 – Lady Burning Sky (Turbo)

Neutron 9000 - Lady Burning Sky

Das Label Turbo Recordings des in Montreal lebenden DJs und ehemaligen Plattenladenbesitzers Tiga – der Anfang der 2000er Jahre mit einem Electro-Cover des 1980er Jahre Pophits „Sunglasses at Night” international bekannt wurde – hat das legendäre Lady Burning Sky Album der englischen Trance-Ambient-House-Breakbeat-Gruppe Neutron 9000, bestehend aus Aaron Greenwood und Dominic Woosey, aus dem Jahr 1994 wiederveröffentlicht. 1991 hatten die beiden im Post-Mauerfall-Berlin lebenden DJs und Musikproduzenten auf Profile Records mit „Love’s Got A Feeling” einen kleinen internationalen Breakbeat-Hit, bevor es nach ihrem letzten gemeinsamen Album Lady Burning Sky wieder still um sie wurde.

Die originalen DAT-Aufnahmen dieser Triple-LP-Wiederveröffentlichung wurden nun von Bo Kondren, Gründer des Mastering-Studios Calyx, neu gemischt. Verglichen mit den Originalscheiben von Neutron 9000, deren obere Frequenzgänge teilweise etwas schrill in die Trommelfelder piksten, klingt die Wiederveröffentlichung ausgewogen gut. So glitzert der Titeltrack hallig, zwischen dem linken und rechten Kanal gepant und Toiletten-DJ-freundlich 14 Minuten die gesamte A-Seite entlang. Die luftig-verträumte FM-Synthese der B-Seite könnte vom Yamaha DX7 stammen („Nab”) und entlässt wegdämmernde Hörer*innen mit „She Trails Flowers” auf den 90s-Ambient-Floor – und mit noch weniger Schlagwerk-Elementen in die Soundträume a là Tangerine Dream oder Brian Eno. Cerebral klickt „Talking Eyebrow” im Cerebellum, und rüttelt damit Erinnerungen an überdosierte 1990er-XTC-Pillen wach. „Empire” packt dann tatsächlich noch das softe, mit klassischem Delay versehene Trance-E-Piano aus. Im Jahr 2021 fragt man sich, weshalb das damals so einen miesen Ruf hatte und oft als verkitschter Scheiß abgetan wurde. Die letzte Nummer des Albums, „Indian Prayer”, orientiert sich am Beatdown-Naturvölker-Cosmic mit einer geraden House-Kick. Laufen hier der 303-Filter des ATC-1 und ein Atari-ST-Kratz-Bass im Loop? Mirko Hecktor

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