Jacopo Severitano, Betreiber des Labels Midgar (Foto: Anja Rohner)
Ruhiger, intelligenter Techno mit Tiefgang und hoher Ausdauer – damit machte sich das Label Midgar ab 2014 einen Namen. Sein Begründer und Chef Jacopo Severitano verfolgt dabei nicht nur eine musikalische, sondern auch eine visuelle Vision: Der Grafiker gestaltet sämtliche Cover der Veröffentlichungen auf seinem Imprint selbst. Im Gespräch hat er erläutert, wie er beide Ebenen verschmilzt, welche Faszination Japan als kultureller Standort auf ihn ausübt und wieso kontemporärer Techno mitunter funktioniert wie Pornos.
Die Verbindung bleibt konstant mittelmäßig während des Telefonats mit Jacopo Severitano im Frühling 2020. Er reist mit dem Zug durch Taiwan, beschloss vor Kurzem, in den Inselstaat im ostchinesischen Meer zu ziehen. Auch weil er sich ein Leben in Japan nicht leisten konnte, aber wenigstens in der Nähe seines Sehnsuchtsortes leben wollte. Eine nennenswerte Enttäuschung für den Italiener, dessen Leben von Kindesbeinen an von blühender Japanophilie durchsetzt ist.
Midgar heißt das Label, das er 2014 gründete, benannt nach der Welthauptstadt aus dem legendären Rollenspiel Final Fantasy VII. Die Cover für die Veröffentlichungen, die der studierte Industriedesigner – in Rom – und passionierte Grafiker – überall – allesamt selbst anfertigt, sind nicht selten von Mangas, Animes oder sonstigen japanischen Bilderwelten inspiriert. Severitano allerdings kommt aus dem Süden Italiens, stammt aus einer Kleinstadt eine Stunde von Neapel entfernt.
Der Erstkontakt mit dem Auflegen und Ansätzen elektronischer Musik liest sich eigentlich wie der handelsübliche Grundstein einer internationalen DJ-Karriere, nur mit etwas mehr kindlicher Schlitzohrigkeit versehen. Sein Vater, in jungen Jahren selbst umtriebiger DJ und etwas glückloser Veranstalter mit eigenem Club, wollte ihn in der Schule abholen und mit DJ-Equipment überraschen – Severitano machte blau. Vor der Schule liefen sich beide über den Weg, der Vater behielt die Contenance und ein 14-jähriger Jacopo versuchte sich fortan an den Plattentellern.
„Als DJ zu touren war aber nie ein Lebensziel für mich. Ich habe mich immer eher auf der akademischen Seite gehalten, gelernt. Und Sachen gemacht, von denen ich mir später einen Job versprochen habe”, fügt er aber bereits im nächsten Satz an, der die weite Datenreise aus dem taiwanesischen Zug in die Berliner GROOVE-Redaktion übersteht. Trotz vereinzelter Gigs sieht sich Severitano seit jeher auf der administrativen Seite des Geschehens, allerdings ohne gänzlich auf seine Kreativität verzichten zu wollen. Eine kühle, geschäftsmäßige Distanz zu seinem Output und dem seiner Künstler legt er dabei keineswegs an den Tag, wie seine lebhaften Antworten beweisen, die ihn nach Beschwerden im Zug dazu zwingen, sich für den Rest des Telefonats ein neues Abteil zu suchen: „Meine italienischen Gene sind hier nicht von Vorteil”, schmunzelt er.
Betreiber: Jacopo Severitano
Gründung: 2014
Stil: Techno
Künstler: Wata Igarashi, Forest Drive West, Nuel
Größter Hit des Labels: Ruhig – Eddying
Motto: Delivering Reasons
Die Gründung eines Labels liegt mit diesem Selbstverständnis nahe, insbesondere nach dem Umzug nach Berlin 2012, wo Severitano inzwischen wieder wohnt und nach der Minimal-Epoche der Nullerjahre Techno wieder düsterer zu werden beginnt. Doch zuvor braucht es einiges an Erfahrung. Ein Label zu unterhalten, das sich selbst tragen soll, will gelernt sein. Severitano macht Bekanntschaft mit dem Betreiber von Natch Records, zuerst die Grafik für das kleine Label, später steigt er als Mitbetreiber ein. Aus jedem Fehler, den der tonangebende Kumpel an seiner Seite macht, lernt er. Irgendwann genug, um sich ein eigenes Imprint zuzutrauen.
Deep Techno aus dem Marianengraben
„Damals fand ich Techno etwas fade. Alles war mit dem Berghain oder dem Tresor verknüpft, sehr physisch. Gut, aber sehr standardisiert”, tut er einerseits seine ambivalente Kritik am Klang der Epoche, andererseits seine Beweggründe für eine möglichst eigenständige Techno-Vision kund, die er mit Midgar repräsentieren wollte. Als Augenöffner fungierte dabei der Threetracker Mariana Wax 000 von 2013, auf dem sich Tracks von Mike Parker, einem gewissen Wata Igarashi und dem Bristoler DJ und Producer Dave Twomey befanden.
Letzterer schmiss damals Label-Partys in Tokio, auf denen ein Sound lief, für den in den nächsten Monaten die Bezeichnung Deep Techno aus der Taufe gehoben werden sollte – und der die Ausrichtung von Midgar nachdrücklich prägte. „Sowas wie Watas Track war mir bis dahin nicht untergekommen. Langsamer, basaler Techno, trotzdem modern, futuristisch.” Schnell fasste Severitano den Entschluss, Igarashi zu fragen, ob er auf seinem Label veröffentlichen wollte. Das funktionierte: 2014 erschien die EP Junctions als erster Release auf Midgar – und als Tribut an Dave Twomey, der 2013 an Krebs verstarb.
Seitdem erschienen um die 30 Platten auf Severitanos Label, die tatsächliche Zahl hängt von der Zählweise ab – genauer gesagt davon, ob man den Nebenkatalog Midgar Sands, der sich eher experimenteller Musik widmet, mit einrechnet. In den letzten Jahren verdiente sich der Italiener damit ein Stück Unabhängigkeit, von Reichtum zu sprechen, wäre aber arg vermessen: „Die ersten drei Jahre waren extrem schwer. Ich musste viel investieren fürs Mastering und fürs Pressen und habe nicht alles verkaufen können. Selbst wenn du 300 Stück in Auftrag gibst und 280 verkaufst, hast du einen beträchtlichen Batzen Geld verloren.”
Wendepunkte, die Midgar aus dem Verlustbereich über die schwarze Null hinweg hievten, gab es gleich zwei: Igarashis Vision von Deep Techno verhallte nicht ungehört im elektronischen Marianengraben; er tourte plötzlich mehr, repräsentierte das Label und stieß ins Raster der renommierten Octopus Agency vor. „Da sind Peter van Hoesen, Donato Dozzy, Marco Shuttle, DJ Nobu, die großen Jungs der Deep-Techno-Szene”, erklärt Severitano und belegt damit einmal mehr, was ohnehin längst kein Geheimnis mehr ist: Techno ist ein Geschäft.
Die zweite glückliche Fügung, die Midgars Bekanntheitsgrad zudem explodieren ließ, war die Wiederveröffentlichung von Acid Mt. Fuji. Susumu Yokotas Album von 1994 mit dem ikonischen Cover, das Severitano für die Neuauflage höchstselbst nachempfand, erfreute sich bis dahin vor allem auf YouTube großer Beliebtheit. Jane Fitz brachte Severitano auf diese Art von Musik, bei einem Set spielte sie Tracks von Haruomi Hosono. Durch den Algorithmus von Googles unendlichem Musikarchiv stieß er schließlich auf Acid Mt. Fuji.
„Die Veröffentlichung des Albums kam sehr leicht zustande. Ich war zur rechten Zeit am rechten Ort, habe die richtigen Leute kontaktiert.” Acid Mt. Fuji passte in der Tat perfekt in eine Zeit, in der japanische Künstler*innen, je älter und ausgegrabener deren Musik, desto besser, szeneweit regelrecht fetischisiert wurden. Auf Susumu Yokota, der 2015 verstarb, trifft das zu, obgleich Severitano deutlich betont, dass er nicht nur einem Trend gefolgt ist: „Es ist ein Klassiker. Auch in 20 Jahren werden die Leute sowas gerne hören, weil das einfach eine gute Techno- und Ambient-Platte ist.”
Gerade Severitano gegenüber, der sich von Kindesbeinen an in japanische Kulturprodukte stürzte, wäre die Unterstellung, sich kurzlebigen Moden anzudienen, unfair. „Ich habe mich für alles Nerdige interessiert, was Japan zu bieten hat”, meint er und übertreibt damit nicht. Neben Videospielen wie der eingangs erwähnten Reihe Final Fantasy faszinieren ihn Animes. „Weißt du noch, als MTV ein guter Sender war und da viele Animes liefen?”, fragt er und entzündet eine Assoziationskette, die für den Mittzwanziger-Gelegenheitsschauer bei Pokémon, Detektiv Conan oder Dragonball im früheren RTL-II-Nachmittagsprogramm endet.
„Auf einer Platte sollten zwei gerade Nummern sein und zwei, die entspannen, zu denen du einen Joint rauchen kannst. Neben dem Dancefloor.”
Nicht nur die Resultate japanischer Kreativität beeindrucken Severitano, sondern auch der dafür verantwortliche Arbeitsethos: „Japaner*innen sind so detailversessen, ob in der Malerei oder in der Musik. Das Sounddesign ist immer so präzise, so auf den Punkt. Da ist nichts dem Zufall überlassen.” Das gilt ebenso für Midgar, wo alle Strippen in Severitanos Händen zusammenlaufen. Der Italiener ist nicht nur für die Kuration verantwortlich, sondern designt die Cover, übernimmt Pressetexte und Social Media, gibt hin und wieder sogar Vorschläge für Tracktitel. „Das mache ich aber wirklich nur, wenn ich darum gebeten werde. Ich hatte noch nie einen Streit deshalb”, fügt er lachend hinzu.
Der Labelchef schätzt den Austausch, die kreative Zusammenarbeit. Und in den letzten Jahren auch abseitigere Spielarten elektronischer Musik, die sich vom hypnotischen Four-To-The-Floor des Deep Techno wegbewegen. Viel Arbeit investierte er etwa in die Restaurierung des minimalistischen IDM-Erbes seiner Landsmänner Retina.it, das er 2019 in zwei Teilen unter dem Namen The Last Day Of Pompeii veröffentlichte. Bei wagemutigen Unternehmungen wie diesen, die ein gewisses Risiko bergen, zehrt Severitano von Acid Mt. Fuji: „Wenn du so einen Erfolg nur ein einziges Mal hast, wird das deinem Label enorm helfen. Das finanziert dir die nächsten Projekte.”
Auch Forest Drive West trieb mit seiner EP They Live, deren Remix-Zwilling mit Beiträgen von Konduku, Felix K, Pessimist und dem unverwüstlichen Wata Igarashi vor wenigen Wochen erschien, im gleichen Jahr die stilistische Verbreiterung voran. Dubbiger, verästelter Techno findet inzwischen ebenso seinen Platz im Midgar-Portfolio. Auf ein atmosphärisches Narrativ, selbst auf EPs und Singles, legt Severitano dabei viel Wert, von prominenten Remixer*innen als Kaufargument hält er nichts, veröffentlicht sie aus Prinzip nicht gemeinsam mit den Originalen: „Das ist irgendwie nicht aufrichtig den Künstler*innen gegenüber, denen du das Vertrauen für die Platte schenkst.”
Wie lässt sich also der Midgar-Sound zusammenfassen? Hypnotisch, etwas düster und möglichst sinnstiftend scheint eine adäquate Umschreibung. Oder, flapsiger ausgedrückt: „Auf einer Platte sollten zwei gerade Nummern sein und zwei, die entspannen, zu denen du einen Joint rauchen kannst. Neben dem Dancefloor.” Quasi eine Antipode zum kontemporären, grellen Techno-Sound, der Gabber und Genossen beschwört: „Das Zeug funktioniert ein wenig wie Pornos. Du weißt, was du bekommst. Es ist sehr direkt, es gibt keine Doppelbödigkeit. Es ist so roh, nichts für mich”, äußert Severitano lachend.
Auf Spotify findet Midgar übrigens nicht statt. Das liegt nicht ausschließlich an Vorbehalten gegen die Plattform, Severitano hat schlicht keinen digitalen Distributor, verkauft seine Files hauptsächlich auf Hardwax und Bandcamp. In puncto Vinyl verlässt er sich auf den Neuköllner Laden Ready Made, zu Problemen kam es dabei bisher nie: „Das Einzige, was du selbst prüfen solltest, sind die Testpressungen.” Schon die surreale Konkurrenzsituation beim grünen Streaming-Riesen macht für ihn wenig Sinn, schließlich veröffentliche er nicht Britney Spears. Severitanos Wunsch ist ein frommer in diesen Zeiten – der nach organischem Wachstum: „Es ist cool, wenn Leute dich finden und dir dann die Treue halten. Diese Next-Song-Mentalität ist nichts für mich.”
Midgar in drei Releases
Wata Igarashi – Junctions EP (2014)
„Als ich die erste Wata-Platte veröffentlicht habe, hat es ein Jahr gedauert, bis sie ausverkauft war. Das waren 300 Stück. Als er etwas bekannter wurde und tourte, habe ich einen Re-Press mit 150 Exemplaren machen lassen. Die waren nach einer Woche weg. Man muss geduldig sein.” In der Dance-Music-Geschichte gibt es immer wieder mitunter snobistische Diskussionen darüber, welche Platten denn nun musikalische Genres begründeten. Bei der Junctions EP stellt sich diese Frage glücklicherweise nicht, existierte der meditative Deep Techno, dem sie frönt, doch auch schon zuvor. Trotzdem beeindruckt Wata Igarashis Vier-Tracker als raumgreifender Fiebertraum, der nicht nur das Fundament für die Liaison zwischen Midgar und dem japanischen Künstler goß, sondern mit der seltsam ausgehöhlten Hi-Hat auf der Zwei und der Vier noch heute innovativ klingt.
Susumu Yokota – Acid Mt. Fuji (2018)
„Ich werde die so oft neu auflegen, wie die Leute sie brauchen. Schon alleine, um astronomische Discogs-Preise zu verhindern.” Ausgehend vom durchschlagenden Erfolg, den Midgar mit der Wiederveröffentlichung von Susumu Yokotas Acid Mt. Fuji hatte, dürften noch einige Auflagen folgen. Ambient-Passagen und wirbelnder, atmosphärischer Techno geben sich auf dem Album von 1994 mit mächtig Hall die Klinke in die Hand. Wie man einen derartigen Re-Release durchführt, erklärt Severitano selbst: „Du musst erstmal die Person finden, die die Rechte an der Musik hat. Um das zu erfahren, habe ich Nobu gefragt, der definitiv der richtige Ansprechpartner für alles rund um Musik in Japan ist. Der hatte die Mailadresse von einem Typen von Sublime Records, wo das Album ursprünglich rauskam. Dann schrieb ich denen und stellte mein Projekt vor. Sie fanden’s gut.”
Retina.it – The Last Day of Pompeii I & II (2019)
Symptomatisch für die Neujustierung Midgars weg vom reinen Deep-Techno-Label stehen die beiden Teile von The Last Day of Pompeii der italienischen IDM- und Minimalismus-Veteranen Retina.it. Die experimentelle, eigenwillige Elektronik auf den beiden Re-Releases, die ursprünglich knapp nach der Jahrtausendwende auf dem Chicagoer Label Hefty Records erschien, ist nicht unbedingt das, was man als zugänglich oder zeitgemäß bezeichnen würde. Musikalisch wie kuratorisch ein Wagnis, das vor allem Liebhaber*innen und musikhistorisch Interessierte ansprechen dürfte.
Transparenzhinweis: Jacopo Severitano hat an zwei Printausgaben der GROOVE als Illustrator mitgearbeitet: #156 und #157 (2015)