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Coil: Gefangene des Exzesses (Das neue Rückwärts – Teil 2)

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John Balance und Peter Sleazy Christopherson im Booklet von Love’s Secret Domain. Das Album ist im März, 30 Jahre nach dessem ursprünglichen Erscheinen, wiederveröffentlicht worden. (Foto: CD-Booklet)

Leben bedeutet Leiden, heißt es. Für Geoffrey Rushton und Peter Christopherson war der buddhistische Wirkspruch nicht bloß Modus Operandi, sondern viel mehr Essenz künstlerischen Daseins. Geboren aus der britischen Industrialszene Anfang der Achtziger, inspiriert von Okkultismus und psychotroper Vision, wetzten sie als Coil über drei Dekaden hinweg Geometrien aus Klang wie Statuen aus Granitblöcken.

Unter wechselnden Namen und Besetzungen blieb die konsequente Verweigerung jeder Kommerzialisierung dabei ihr künstlerisches Kainsmal, während sie gesellschaftliche Konventionen demaskierten und in der Anomie des Thatcherismus als vermeintlich Perverse von Behörden und Medien schikaniert wurden. Entfremdet von jeder bürgerlichen Existenz, bahnten sich Rushton und Christopherson als John Balance und Sleazy in der modernen elektronischen Musik mittels unkenntlich modifizierter Apparaturen einen verschlungenen Weg in die Gegenwart – bis weit nach ihrem Tod.

Unser Autor Nils Schlechtriemen gibt einen zweiteiligen Einblick in die Geschichte der Industrial-Pioniere Coil – und in ihre Bedeutung für andere Musikrichtungen, ob Ambient, Drone, Techno oder Noise. Kapitel eins behandelt die Entstehung des Projekts, vom Namen bis zur tonalen Ästhetik, und verfolgt den Einfluss von Coils Mondmusik auf andere Künstler*innen, aber auch die Inspirationen, die sie im Laufe von fast drei Jahrzehnten in ihr eigenes Schaffen integrierten. Im zweiten Teil geht es um Tanz, Rausch und Grenzerfahrungen im Kontext der eigenen Vergänglichkeit, dem Tod.


Nachdem aus den Aufnahmen zum Love’s-Secret-Domain-Folgealbum Backwards kein zufriedenstellendes Material folgt, arbeiten Balance und Sleazy zusammen mit Drew McDowall als temporärem Mitglied an der Umsetzung einer Reihe experimenteller Nebenprojekte, die ihr tonales Vokabular aus Drone, Field Recordings und Noise verdichten und experimentell ausformulieren. Die Arbeiten an Black Light District, einer härteren und noch dunkleren Version des ursprünglichen Coil-Sounds, beginnen zwar eher schleppend.

Erneut durch Rausch befeuert, macht sich jedoch im Verlauf der Aufnahmen etwas anderes bemerkbar, das scheinbar auf eine indirekte Kommunikation aus ist. „Für eine Woche fühlte es sich so an, als öffnete sich etwas über uns und würde in uns hineinfließen. Wir wurden durchgehend inspiriert, und dann, ebenso abrupt, endete die Übertragung”, erinnert sich John Balance Jahre später. Angetörnt von dieser fremden Energie, brechen die Arbeiten zu Black Light District ab. Der Fokus liegt nun ausschließlich auf jener neuen Inspiration, deren Ursprung bis zuletzt verborgen bleibt. Das anschließend als Coil Vs. ELpH veröffentlichte Material zählt sicher zum Reduziertesten, was das Projekt je gemacht hat, und wird wenige Monate danach schon durch Worship The Glitch ergänzt, als die drei erneut jene immaterielle Entität channeln, die nicht zuletzt von den Büchern und Vorträgen Terence McKennas inspiriert scheint.


Coil im Jahr 1990: Ossian Brown, Peter Sleazy Christopherson, John Balance und Stephen Thrower auf dem Cover von Love’s Secret Domain (Foto: Albumcover) 

Das erste und einzige Album von Black Light District, A Thousand Lights In A Darkened Room, erscheint dann noch im Oktober 1996 und ist so etwas wie ein paranoider Dark-Ambient-Score für tagelange Ketamin-Comedowns im Badezimmer – eines der eher undankbaren Alben im Coil-Katalog, doch gerade deshalb ein hart erkämpfter kreativer Erfolg für das Trio. Beflügelt davon, wagen sie einen neuen Versuch mit dem geschundenen Backwards-Material, für das mittlerweile Trent Reznor als Produzent verantwortlich ist, der sich schon Jahre zuvor als großer Coil-Fan outete.

John Balance und Ossian Brown in den 1990er Jahren (Foto: brainwashed.com)

Böse Zungen unterstellten ihm während der Frühphase der Nine Inch Nails deshalb mehr als einmal, in seiner stage persona der inneren Zerrissenheit von Balance nachzueifern. Durch den Platin-Erfolg The Downward Spiral (1994) mit üppigen finanziellen Mitteln ausgestattet, lässt Reznor im Herbst 1996 kurzerhand Balance, Sleazy und McDowall nach New Orleans einfliegen und stellt ihnen sein Nothing Studio zur Verfügung, wo die drei nun eher aus künstlerischer und monetärer Obligation versuchen, Backwards nach mehreren misslungenen Versuchen endlich zu einem Abschluss zu bringen. Ohne sich einzumischen, bleibt Reznor im Hintergrund und verbringt die Zeit im Studio an der PSX, während Coil die ohnehin dicht produzierten Tracks mit immer mehr Spuren anreichern.

Danny Hyde, John Balance und Peter Sleazy Christopherson in New Orleans (Foto: Drew McDowall)

Diesen Versuch, an Jahre altes Material anzuknüpfen, empfindet McDowall rückblickend als Fehler. Für ihn schien der Weg klar: Alles auf Anfang, mit einem frischen Set an Ideen neu beginnen und die originären Produktionen ignorieren. „Viele davon waren selbst für Coil-Standards wahnsinnig. Ich erinnere mich an einen Track namens ‚Elves’, der wirklich komplett irre in die Vollen ging, aber insgesamt waren die ganzen Sachen zu sehr Produkte ihrer Zeit, total tanzorientiert. (…) Manches davon klang wie Underground Resistance, schwer fokussiert auf die Bassdrum, treibende 4/4-Rhythmen, ziemlich komprimiert. Es war, als hätten alle zu sehr darauf geachtet, was um sie herum passiert.”

Coil in Thailand beim Videodreh zum Song „Love’s Secret Domain” (Foto: Ossian Brown)

Ein weiteres Mal wird die Produktion auf Eis gelegt, der über fünf Alben geplante Plattendeal mit Nothing bleibt unbedient. Es sollte fast zwei Dekaden dauern, bis die ursprüngliche Version von Backwards via Cold Spring im Herbst 2015 erscheint und sich in jeder Hinsicht als ein seiner Zeit vorauseilender Bastard aus Electro-Industrial, Dark Ambient und experimentellem Darkwave entpuppt. Die hartnäckigen Zweifel an dem Material wirken rückblickend unbegründet. Erneut einen diametralen Umschwung vor Augen, dringen Coil trotzdem mit Time Machines (1998) kurze Zeit nach den Nothing-Sessions in New Orleans kilometertief in abstrakt tonales Terrain vor und synthetisieren Klänge, die jedes Zeitgefühl aufzulösen suchen. Rausch und Introspektion sind zu diesem Zeitpunkt untrennbar mit der Ästhetik der Gruppe, den Produktionsprozessen, aber auch mit der inneren Disposition aller Beteiligten verbunden.

Während Sleazy und McDowall ihren Hunger auf Entgrenzung weitgehend im Griff haben, rutscht Balance mehr und mehr in destruktive Episoden eines unbarmherzigen Alkoholismus ab, der ihn seit Anfang der 1990er heimsuchte und immer wieder für Tage oder Wochen außer Gefecht setzte. Auslöser soll der Behörden-Terror gewesen sein, dem er, Sleazy, P-Orridge und einige andere wegen eines harmlosen BDSM-Videotapes für Jahre während der frühen 1990er ausgesetzt waren.

Coil bei den Arbeiten zu Englands Hidden Reverse: Peter Christopherson, John Balance und Ossian Brown (Foto: brainwashed.com)

Wie so viele mentale Talfahrten im Leben von Balance nimmt auch der Alkohol unmittelbar Einfluss auf seinen künstlerischen Output – und das entgegen jeder Intuition keineswegs nur in negativer Weise. Innerhalb von zwölf Monaten erscheinen ab der Jahrtausendwende nicht nur das Drone-Trumm Queens Of The Circulating Library (2000) sowie die vergleichsweise puristischen Noise-Ziselierungen Constant Shallowness Leads To Evil (2000). Zeitgleich beschwören Coil auf den beiden Teilen von Musick To Play In The Dark (1999-2000) eine sonische Verbindung zum Mond, über den Balance schon seit frühesten Schultagen immer wieder reflektiert, den er in Astralprojektionen und Rituale einbindet, auch in Gegenwart von Freund*innen und Mitschüler*innen.

Kürzlich als langersehnter Remaster von Josh Bonati via Dais Records veröffentlicht, gilt dieses Alben-Duo vielen als der konzeptionelle und auditive Höhepunkt im Coil-Katalog. Ein kühler Winternachtstraum, gezeichnet vom Dasein im Widerspruch zur Welt. Höchstens noch erreicht von der quasi-religiösen Offenbarung The Remote Viewer (2002, Reissue 2006) oder dem finalen Doppelalbum The Ape Of Naples (2005) und The New Backwards (2008), die rein stilistisch ohnehin problemlos als inoffizieller dritter und vierter Teil der Mondmusick gelten können, die von diesem Projekt in immer neuen Wellenformen ausging.


»Does death come alone, or with eager reinforcements?
Death is centrifugal, solar and logical.
Decadent and symmetrical – angels are mathematical.
Angels are bestial. Man is the animal. Man is the animal.
The blacker the sun. The darker the dawn.«

Coil – „Fire Of The Mind

Jenem Anfluten und Abebben, den kreativen Gezeiten, widmete sich kürzlich auch ein neues Buch. The Universe Is A Haunted House zeichnet auf rund 400 Seiten mit hunderten nie veröffentlichten Fotos, Notizen, Artworks (fertige wie unfertige), Briefen, Zeichnungen, Skizzen, Inlays und Tagebucheinträgen die verschlungenen Pfade nach, denen Coil stets folgten, um abseits der Norm Erlösung zu finden. Ob die Suche von Erfolg gekrönt war, muss auf ewig im Dunkel bleiben.

Denn es endet, wie es enden muss. Als an einem kühlen Novemberabend 2004 eine wachsende Mondsichel über dem Oak-Bank-Haus am Bristol-Kanal glüht, ist Balance erneut in einem wochenlangen Wodkarausch versunken. Panikattacken jagen Nervenzusammenbrüche, die Angst vor einem Herzinfarkt raubt ihm jeden Schlaf, als der Alkohol abermals ruft.

Coil auf einem Konzert 2002 (Foto: live-coil-archive.com)

Geistig umnachtet, halb im Delirium, wankt er die alte Holztreppe des einstigen Knabeninternats aus den 1850er-Jahren hinauf, stürzt über das weiße Geländer und schlägt nach vier Metern freiem Fall frontal auf den Dielen des Hausflurs auf. Die Ambulanz braucht nicht mehr als sieben Minuten. Blutverlust, Schädelbasisbruch, multiple Wirbelfrakturen – um 21:20 Uhr wird Balance trotz aller Bemühungen für tot erklärt. Bis zum November 2010, also fast genau sechs Jahre später, veröffentlicht Sleazy noch eine Handvoll Solo-Alben und Kollaborationen, allesamt von außerordentlicher Qualität. Am 24. November 2010 schläft er – entgegen seines einstigen Partners – friedlich in seinem Haus in Bangkok ein und wacht nicht mehr auf.

Rund drei Dekaden nach der seminalen Idee, den ersten Konzerten als Zos Kia beim Berlin Atonal und ersten wegweisenden Kompositionen sind Coil Geschichte. Wenn nichts anderes, so konnten sie doch zumindest eines hinterlassen: Ein Musikverständnis, das Disruptionen von Wahrnehmung als Erweiterung innerer Perspektiven versteht, als Öffnung für die Option, dass alles, was wir wissen, falsch ist.

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