Jimi Tenor – Deep Sound Learning (1993 – 2000) (Bureau B)
Seit Beginn seiner Karriere ging Jimi Tenor ungewöhnliche Wege. Sein Werk bewegte sich zwar immer im Kontext der elektronischen Musik, rieb sich aber auch an der Unterhaltungsmusik vergangener Zeiten, am Swing, Boogie, Mambo oder, wie bei seinem Breakout-Hit „Take Me Baby”, am Blues. Seine Reise durch diverse Genres brachte ihn mit diversen Künstler*innen zusammen, ein großer Teil seines Werks entstand in Kollaborationen. So entzieht er sich jeder Zuschreibung, bewegt sich zwischen Acid und Techno (wie auf der Traffic EP mit Bizz O.D.), verspultem Downtempo (auf der Venera EP), Fusion Jazz (mit Tapani Rinne als Suburban Sax), Neo Soul (mit Nicole Willis) und Afrobeat (mit Kabu Kabu und keinem geringeren als Tony Allen), um nur ein paar zu nennen.
Deep Sound Learning ist deshalb wertvoll, weil es Einblicke in Tenors Arbeitsweise bietet. Auch ohne Mitwirkung anderer Künstler*innen ist die musikalische Bandbreite groß, aber doch leichter zu fassen. Als Fundament der Tracks dient häufig ein kurzer Loop aus dem Drumcomputer und ein paar akzentuierte Bleeps aus diversen Synthesizern. Diese Einfachheit kontrastiert er mit teils Bebop-artigen Soli auf Saxophon, Querflöte und Keys („Heinola”), die er virtuos beherrscht. Nur selten entscheidet er sich für den vorhersehbaren und konventionellen Klang, sondern meist für den extravaganten, infantil verspielten. Hier schraubt jemand an den Synthies, der immer auch das Komische und Absurde sucht. Allerdings gehen nur wenige Tracks in die Tiefe („Doin’ Alright” etwa), meist bleiben sie eher skizzenhaft. So wirkt das Album wie Library Music, als lose Aneinanderreihung von Fragmenten, die ihre wahre Bestimmung nicht gefunden haben. Das ist durchaus nicht ohne Reiz, und wer das Oeuvre Jimi Tenors kennt, wird darin eine schöne Bereicherung finden. Für Einsteiger*innen ist es aber womöglich spannender, sich durch seine anderen Releases zu hören, die seine Passion für die Neugier gebündelter wiedergeben. Philipp Gschwendtner
Kiritchenko – Cerebral (Aud-Art)
Zeiten, in denen nicht getanzt wird, sind gute Zeiten, um musikalisch aus der Reihe zu tanzen. Nicht, als hätte Andrey Kiritchenko jemals etwas anderes gemacht. Seit Anfang des Jahrtausends veröffentlichte der Ukrainer in recht regelmäßigen Abständen Alben über sein eigenes Imprint Nexsound oder außenseitige Institutionen wie Ad Noiseam, Zeromoon und zuletzt vor allem Spekk. Nachdem er über die Zehnerjahre hingegen nur sporadisch aktiv war, meldet er sich auf Aud-Art mit Cerebral zurück, das sich – der Titel deutet es an – wohl mit den möglichen Nebenwirkungen des Vormarsches künstlicher Intelligenz auseinandersetzt. Tracktitel wie „Dark Parade”, „Daydream” oder „False Ruin” sind ambivalent, der Sound gleichermaßen trocken und spröde wie ahnungsvoll und düster. Kirichenkos verschachtelte Beats erinnern an das, womit Artists wie SDEM und Etch in letzter Zeit auf Seagrave brilliert haben: ein drückender IDM-Ansatz, der Grooves nicht einfach nur in ihre Einzelteile zerlegt, sondern aus ihren Komponenten neue baut. Mehr noch flechtet er immer wieder spielerische Synthie-Melodien ein, die den mehrdeutigen Charakter der Tracks nur weiter unterstreichen und in scharfem Kontrast zum Industrial-inspirierten Sounddesign stehen. Cerebral ist ein Kippspiel, das Utopie und Dystopie als zwei Seiten derselben Medaille inszeniert. Kristoffer Cornils
Lake Haze – Sun Rising On Concrete Landscapes (Shall Not Fade)
Acid ist die neue Romantik. Jedenfalls beim Lissaboner Produzenten Gonçalo Salgado alias Lake Haze. Der hat auf seinem zweiten Album die Inspiration für seinen Namen – ein Drexciya-Track heißt genauso – ein wenig in den Hintergrund rücken lassen. Und wo auf dem Debütalbum Glitching Dreams vor zwei Jahren noch viel quirliger IDM aufgearbeitet wurde, kapriziert sich Lake Haze jetzt auf introspektive 303-Fiep-Melodien, die wenig Revivalhaftes an sich haben. Ähnlich wie sein Kollege Tin Man schiebt Salgado die Acid-Elemente eher von der Tanzfläche weg, oder es kommen Breakbeats zum Einsatz, die wie der Rest des Albums gleichwohl viel Nostalgie aus sich herauspochen. Die Nummer „She Took Me to Her Favorite Club” klingt da mit ihrem Namen schon etwas wehmütig nach Abgesang, passend im schwer melancholischen Slo-Mo-House-Gewand vorüberschreitend. Bei aller Zurück-zum-Beton-Sentimentalität, die aus Albumtitel und -cover spricht, dominiert eine sich kühl gebende, fast zuversichtlich stimmende Wärme. Auch die eher an Songlänge orientierten Dauern der Tracks ergeben Sinn. Atmosphäre ist in dieser Angelegenheit höchst wichtig, aber kein Selbstzweck. Sehr gegenwärtig, sehr sexy. Tim Caspar Boehme
Lauer – Answers 2 Trouble (Permanent Vacation)
Alle drei Jahre ist die Zeit reif für ein neues Album von Phillip Lauer. Und so folgt 2021 dem auf Running Back 2018 erschienenen Power pünktlich Answers 2 Trouble, der zweite Longplayer des Frankfurter Producers für Permanent Vacation. Insofern müssen sich die neun neuen Tracks ein wenig auch an denen des grandiosen Borndom (2015) messen lassen. Zuvorderst: Mehr Eighties-Pop war nie bei Lauer. Wobei seine Dancefloor-Herkunft gleichzeitig noch immer das mit selbstbewusstem Stolz präsentierte Fundament seiner Musik darstellt. Disco und New Wave dominieren Songwriting und Klangfarben, House und Techno die Produktionsweise. Mit „Ghost” legt er einen echten Hit vor – dazu trifft Vokalist Jasnau genau den Ton, nach dem dieser Hybrid aus The Cure und Depeche Mode verlangt. Schamloser Eurodance in Strandnähe: „Make It Stay” mit Dena. New Order, Acid und die Pet Shop Boys zusammengedacht: „Switec”. Italo Disco tritt nur auf dem gemeinsam mit Fabrizio Mammarella produzierten„Altalenanti” offen zutage, bildet aber die an vielen Stellen durchscheinende Grundierung dieses überaus gelungenen Albums. Retro-Vorwürfe greifen hier zu kurz: Lauer generiert im Umgang mit nostalgisch besetzten Elementen eine Musik, die aktuelle Relevanz noch übersteigt. Sagen wir: ein Transformationszyklus von Zeit- und Zeichenformen. Harry Schmidt
Leon Vynehall – Rare, Forever (Ninja Tune)
Das Schema ist mittlerweile bekannt: ein junger Produzent schafft es mit verspielten und Melodie-getragenen House-Tracks zu internationaler Bekanntheit, spielt weltweit Gigs auf einschlägigen Festivals und in Clubs, der unvermeidbare Überdruss von der erbarmungslos ballernden Kickdrum folgt prompt, daraufhin die Abkehr von der Tanzfläche und das damit einhergehende obligatorische Ambient-Album. Dazu kommt noch der großartige genreübergreifende Beitrag zur DJ-Kicks-Reihe, und die DJ-Bucket-List ist schon so gut wie abgearbeitet. Was dann überhaupt noch kommen kann? Mit Rare, Forever legt Leon Vynehall sein Magnum Opus nach, das alle Facetten organisch vereint.
Einen Einstieg in das Album, von dem Vynehall sagt, es thematisiere seine eigene Psyche, schafft „Ecce! Ego!”. Die lebendige Downtempo-Nummer macht mit wunderschönen Streichern und atmosphärischen Synths Lust auf das ganze Album und versetzt in die richtige Stimmung für die kommenden 38 Minuten. Das rastlose „Mothra” bringt die Tanzfläche zurück in Vynehalls Leben, euphorisch und filigran, ohne allzu formelhaft vorzugehen. „Alichea Vella Amor” ist ein entspannter Free-Jazz-Ausflug, der mittels himmlischer Flächen und sorgloser Saxofon-Passagen die Hektik des Vierviertel-Takts sofort vergessen lässt. Den insgeheimen Höhepunkt des Albums bildet „An Exhale”. Nach und nach baut sich aus verschiedenen Synthesizern und einer verzerrten Stimme ein repetitives Crescendo auf, das sich nach der Hälfte des Titels entlädt, nur um sich erneut noch kraftvoller aufzubauen.
Wie so oft liegt auch die Schönheit von Rare, Forever im Detail. Teilweise kaum hörbar machen geflüsterte Worte, leises Knacken, gedämpfte Noten und die organische Perkussion das Album zu einem außergewöhnlichen Trip in die Welt eines Künstlers, der sich neu erfindet und gleichzeitig seinem Sound treu bleibt. Fans von Khotin und Floating Points aufgepasst. Christoph Umhau
Modeselektor – Extended (Monkeytown)
Modeselektor sind zurück. Die Monkeytown-Bosse haben die Live-befreite Zeit der diversen Lockdowns genutzt, um im Studio zur Ruhe zu kommen und nebenbei im alten Archiv zu kramen. Nun, was erwartet man vom Berliner Kult-Duo im Jahr 2021? Wohl in jedem Fall antreibende Rave-Rhythmen, eine gewisse Portion Bratzigkeit und ganz viel Berlin-Nostalgie. So stellt sich der Sachverhalt auf dem neuen Mixtape Extended mit einer Bandbreite von 27 Tracks dann auch dar. Die dabei verwendeten Klänge sind wohlbekannt und für alle Fans der 2000er ein sicherlich wohltuendes Revival. Ob Breakbeat-Eskapaden, Noise-Collagen oder wilde Drum’n’Bass-Tunes – die Sounds erscheinen durchweg sehr prägnant und gehen nach vorne. Raum für Entschleunigung oder gar Melancholie gibt es vielleicht nur auf der Klangzusammenwürfelung „Lockdown”.
Allzu sensibel und vielschichtig sind die Produktionen aber insgesamt nicht unbedingt, sondern in ihrer Färbung eher etwas derb und roh. Dennoch weht durch alle sehr geradlinigen Kompositionen die Stimmung vergangener Tage, und so kann man sich durchaus das ein oder andere mal in den hämmernden Snares oder den schrillen Riffs, wie etwa bei „Dentist” oder „Sekt um 12”, verlieren. Eventuell ist diese Wehmut auch nur durch Erzählungen und diverse Dokus induziert, aber das tut der Sache im Endeffekt nur wenig Abbruch. Durchaus erfreulich sind neben dem verspulten Bigroom-Gewebe „Kupfer” auch die Zusätze der vertretenen Gäste. Beim Dub-Ausflug „Movement” ist beispielsweise Paul St. Hilaire zu hören, und auch Warp-Künstler Jackson and his Computer Band hat im rauen Banger „Hood” einen Auftritt. Lucas Hösel
Ratsnake – Just a Genesis (Place No Blame)
Die frühen Zehnerjahre wurden im Techno-Business vom Aufkommen des Business Techno geprägt, und das brachte eine unvergleichliche Transparenzoffensive mit sich: Auf Instagram etablierte sich die Jesus-Pose, auf Facebook und Twitter fingen DJs plötzlich an, dieses und jenes zu kommentieren oder sich wortstark darüber zu beschweren. Selbst Burials bis dato wohlbehütete Identität wurde aufgedeckt. Nur wer nun wirklich hinter dem Pseudonym Gesloten Cirkel steckte, das war lange Zeit unklar und lieferte Stoff für viele Debatten.
Die wurden auch deshalb geführt, weil die überwiegend auf der niederländischen Institution Murder Capital veröffentlichten Releases des – vermutlich aus Russland stammenden und mittlerweile in Berlin ansässigen – Produzenten dahinter ausgesprochen exzellent waren: hart und kratzig in bester Den-Haag-Manier, aber smart und komplex wie die aus Detroit kommenden Sounds der zweiten Electro-Generation. Minimalistisch, rough und auf die Zwölf. In der zweiten Hälfte der Zehnerjahre allerdings veröffentlichte Gesloten Cirkel unter diesem Namen keine Musik mehr, auch von seinem Alias Ratsnake war lange nichts zu hören. Bis März 2020 zumindest. In kurzen Abständen wurden zwei EPs und zwei Alben digital veröffentlicht. Hatte der Künstler dahinter ein Jahrzehnt zuvor etwas mehr Mystik in die Techno-Transparenzgesellschaft einziehen lassen, schien er jetzt dem Stillstand Beine machen zu wollen. Es handelte sich um energische Live-Takes, Tagebucheintrag-artige Jams.
Nachdem zuletzt die erste Gesloten-Cirkel-EP seit sechs Jahren auf Marcel Dettmanns Bad Manners erschien, folgt nun mit Just a Genesis ein Album, dessen Titel programmatisch verstanden werden sollte: Weniger um Momentaufnahmen handelt es sich, vielmehr um den Nachvollzug einer künstlerisch-persönlichen Entwicklung seit Beginn des Jahres 2020. Die Tracks auf Just a Genesis sind dementsprechend nicht mehr stripped und Dancefloor-orientiert, sondern bisweilen sogar introspektiv, versperren sich mitunter gar der Funktionalität, die das Schaffen des Produzenten selbst in seinen wildesten Momenten noch ausmachte. Denn obwohl von diesen zehn Tracks so einige Peak-Time-Potenzial in sich bergen, zeigt sich Ratsnake in ihrem Verlauf doch mehr interessiert an den emotionalen und klanglichen Qualitäten von Techno und Electro als an der reinen Wirkungsabsicht. Umso schöner aber, dass das Sounddesign der Stücke noch die alte Mystik wahrt, die Gesloten Cirkel von Anfang zu einem Sonderling im Techno-Business machte. Just a Genesis ist so gesehen sein musikalischstes Album, bleibt aber trotz der neugewonnenen stilistischen Offenheit wunderbar verschlossen und eigen. Kristoffer Cornils