Bella Boo – Let’s Go Out (Running Back)
Gabriella Borbély, die sich als DJ wie als Producerin Bella Boo nennt und bereits einige höchst bemerkenswerte Platten auf Studio Barnhus veröffentlicht hat, lebt in Stockholm und liebt Regen. Ursprünglich als Longplayer mit Features und Gästen konzipiert, liegt Let’s Go Out, ihr Debüt auf Running Back, pandemiebedingt nun als 8-Track-EP vor – und hat doch, allein schon in der Rhetorik, mit der die einzelnen Tunes aufeinander Bezug nehmen, den Charakter eines Minialbums.
Besonders einnehmend daran ist, wie Borbély hier ihre verschiedenen Facetten auffächert – 90er-UK-Breakbeat („In Love”, „Don’t Stop”), Chill-Out-Ambient-Sounddesign („Yellow Theme (Song)”), nicht nur ein toller Opener, sondern nebenbei auch noch ein toller Titel für einen Intro-Track), gedämpfte Melancholie auf dem Dancefloor („Rain on Me”), Pop-Affinität („Together We’ll Be Fine”) – und gleichzeitig komplett konsistent wirkt. Die Art, wie sie aus dem Genre Deep House etwas ganz Persönliches macht, erinnert durchaus an ihre schwedischen Peer-Group-Buddies Axel Boman und Kornél Kovács, aber auch an Producer wie DJ Koze oder Robag Wruhme. All das in einem leicht übersteuerten Klangbild – hat da jemand Meme House gesagt? Schon möglich. Wichtiger aber ist, dass Borbély in den besten Momenten dieser exzellenten EP – etwa dem betörend deepen Highlight „Time To Go”, das auch als Antwort auf Fatima Yamahas „What’s A Girl To Do” gehört werden kann – zu einer neuen Definition einer Bedroom-Soundästhetik gelangt, die an die Hochblütezeit von 100% Silk denken lässt: so emotional wie spezifisch, von subkutaner Relevanz, unaufdringlicher Eingängigkeit und sublimer Funkyness. Vom vermeintlich irreführenden Titel sollte man sich übrigens ebenso wenig täuschen lassen wie vom scheinbar deplatzierten Cover: Let’s Go Out ist trotz mancher Beats und Grooves vor allem eine introvertierte, Sehnsüchte ausdrückende Angelegenheit, mit der man sich am liebsten allein einschließen und zudecken würde. Kurzum: die ideale Lockdown-Platte. Harry Schmidt
David Löhlein – Keen Eyes (Key Vinyl)
Wer zur Peaktime (welche eigentlich?) was zum Mahlen braucht, greift zur Key Vinyl. Verlässliches Zeug, proudly presented by Zahnärzten und yours truly Freddy K. Das Label schmirgelt dank Quality-Output am Zahnschmelz wie Livestreams aus leeren Clubs an unseren Nerven. Und: Mit Keen Eyes macht endlich auch David Löhlein sein Debüt auf Key Vinyl. Zu Recht, will man meinen. Der Stuttgarter Produzent durfte 2020 auf SK_Eleven von Setaoc Mass ran, veröffentlichte mit „Altai 2” die inoffzielle Rave-Hymne für ein Jahr, das arm an Raves war – und schiebt zum Jahresabschluss vier Banger nach. Keine Frage, das ist Material für Leute, die es mit dem frisch geschliffenen Schweizer-Messer zwischen den Zähnen wissen wollen und sich bei Hard Wax nur eine Kategorie reinziehen: no-prisoners-taking. „Akien” kommt aus der Truncate-Schiene, auf „Sentena” bimmel-bammeln die Glocken im Vierviertel-Gebälk, „Julie” sitzt in Französisch nach und „Mucuya” bohrt zur Sicherheit ein tiefes Loch, in dem wir dieses Seuchenjahr lebendig begraben. Tschau, Kakao, her mit der Marie. Techno für die großen Jungs und alle, die es werden wollen. Christoph Benkeser
Donato Dozzy – The Tao (Samurai)
Der Italiener Donato Dozzy ist als DJ für seine unberechenbaren und ausgefallenen Sets bekannt, und hat gerade bei Gigs in seiner Heimat schon seit Längerem immer wieder einige technisch versierte Drum’n’Bass-Tracks in den Mix einfließen lassen. Erst 2019 bekannte sich der Hardware-Fan allerdings auch endlich als Produzent zu den 170bpm. Das zwischen Drum & Bass und Techno verortete Label Samurai Music schaffte es, dem Maestro einen tonnenschweren Breakbeat-Remix zu entlocken. Ein Jahr später hat sich jetzt also eine komplette EP angesammelt, auf der Dozzy die Domäne tiefergehend erforscht. Seine Vorliebe für hypnotische Synth-Leads und verspielte Details sind auch hier wieder das Salz in der Suppe. Der Opener „Mai” lässt sich viel Zeit, den perkussiven Loop wirklich einsinken zu lassen, bis kurz vor Schluss dann doch noch eine heftige Snare den Stepper-Vibe einführt. „Dusty Vibes” ist hingegen das ungeduldige Gegenstück, mit fiepsigen Synths und Hochgeschwindikeits-Bässen schafft es Dozzy hier, Chaos und Ordnung zu einem kompakten Track zu vereinen. Auf „Sanza High” sind es die präzisen Half-Time-Kicks und eine sich langsam ins Hirn schraubende, analoge Melodie, die den trippigen Dozzy-Charme überraschend stimmig auf 85 BPM transferieren. Wohl am ehesten dem klassischen Drum’n’Bass-Gefühl zuzuschreiben ist der Titeltrack „Tao”, dessen ausgehöhltes, perkussives Grundgerüst mit seinen düsteren Echos gut zum Samurai-Labelsound passt, durch den ungewöhnlich verspielten, lebhaften Synth dann aber doch eine Spezial-Note Donatoness verpasst bekommt. Leopold Hutter
Kareem El Morr – Wasteland Breaks (Molten Moods)
Tanzen. Ja. Aber wie? Wenn man einige Übung darin hat, Clubmusik im Sitzen zu hören, gerät darüber fast die Frage in Vergessenheit, wohin mit der überschüssigen Körperenergie, die in rhythmische Bewegung übersetzt werden will. Was derzeit bekanntlich nur stark eingeschränkt geht. Kareem El Morrs Solodebüt auf Molten Moods umschifft diese Verlegenheit mit Produktionen, die genügend Details bieten, von metallisch schillernden Akkorden über elegant verzahnte Rhythmuspatterns bis hin zu quer durch alle Spuren verteilten Mikromelodien, sodass man beim Hören allein schon jede Menge zu tun hat. Geschult am IDM und Electro der Neunziger, baut der Münchner zudem perfekt geschmierte Stolperbeats, deren Kanten stets das Drehmoment von selbst zu erhöhen scheinen. Im Zweifel daher Kopftanzen. Geht mit diesen vier Nummern ziemlich mühelos. Tim Caspar Boehme
Varg²™ & Exploited Body – Etsin Turvaa (Northern Electronics)
Jonas Rönnbergs größter Beitrag zur Techno-Szene war einst, sie überhaupt nicht ernstzunehmen. Ernsthaft klang seine Musik dagegen schon und seine Kollaboration mit Exploited Body unter dem neuen Alias Varg²™ erst recht. Denn obwohl die Tracktitel der gemeinsamen EP der beiden Produzenten auch mal überdehntes Pathos verwenden und das Stück „Bass2™ (Cease and Desist)” auf die gerichtlich erzwungene Umbenennung von Rönnbergs musikalischem Hauptprojekt verweisen, handelt es sich eben doch um grobkörnigen Düster-Industrial-Techno mit ahnungsvollen Trance-Elementen und Versatzstücken von IDM: Weltuntergangsmusik, getrieben und gehetzt von einer erzwungenen Euphorie. Das lässt sich insbesondere während des Dancefloor-Stillstands als gewitzter Metakommentar auf eine witzlose Situation lesen, kommt in musikalischer Hinsicht aber eben nicht nur zur Unzeit, sondern auch etwas angestrengt daher. Etsin Turvaa klingt zu ernsthaft, um über zwei gelungene Peak-Time-Tracks – „Karhü” und „Fuck You Forever (Parting Is Certain & Loss Will Come Again)” – hinaus einen wirklichen Beitrag zu leisten. Kristoffer Cornils