Bergsonist feat. Tonina – Womankind’s Beauty (Hypercolour)
Ohne Worte. Die brauchen Bergsonist und die aus Missouri stammende Sängerin Tonina nicht, um Hörer*Innen gehörig aufzuwühlen und durchzuschütteln. Emotional aufgeladen und durchdringend ist diese Verbindung aus nachhallenden Ka-Chings, einem langsamen reduzierten Beat und den gleichermaßen starken wie zerbrechlichen Lauten von Tonina. Ein Titel, der Hand in Hand mit der Musik geht. Dass Bergsonist es schafft, auf Hypercolour eine ganz andere Facette zu zeigen, quasi mühelos aus dem Ärmel geschüttelt, zeigt echtes Talent. Denn auch die anderen drei Tracks, die ohne vokale Artistik auskommen, sind entweder überdope Kassem-Mosse–esque Slowburner („Global Warning”) oder hypermoderne Beatkonstrukte („Take It Slow” und „Killed By Aids”), die einen auf eine abenteuerliche Reise ins eigene Innere schicken. Andreas Cevatli
Cio D’Or – Fluidum III (Semantica)
Seit 2004 veröffentlicht die gebürtige Hannoveranerin Cio D’Or elektronisch generierte Musik. Meist war die Tanzfläche das Ziel ihrer hypnotischen Tracks. Die waren stets von einem experimentellen Suchen erfüllt, das ihrer Idee von House, Techno und Minimal eine gewisse Schärfe verlieh. Ihr letztes Album aus dem Jahr 2015 hieß All In All, erschien auf dem spanischen Label Semantica und kündigte schon etwas ausdrücklicher an, dass sich die derzeit in Köln beheimatete Produzentin langsam von der Funktionalität ihrer Musik verabschiedet, um sich einer musikalischen Sphäre zu nähern, die keinem typischen Muster folgt. Nun schickt sie erneut mit Hilfe ihres Madrider Labels Fluidum III in die Öffentlichkeit und stellt neun musikalische Arbeiten vor, die ganz ohne kopierende Aura an frühe Sähkö- oder Milles-Plateaux-Veröffentlichungen erinnern. Hier und da klopft die Bassdrum auffordernd, dennoch ist Fludium III keine klassische Tanzplatte. Ihr Pochen wirkt eher als erdender Pulsschlag für dramatische, analoge Musik voller Regen- und Wassergeräusche sowie fesselnde Synth-Klänge. Wie immer bei Cio D’Or sind die Arrangements minimal gehalten und der Raum zwischen den Sounds haucht der Musik eine gewisse DMT-Dimension ein. Ein Release, der Arthur Russells Vision einer Tanzmusik ohne Schlagzeug nahekommt. Bei Cio D’Or sind allerdings nicht Disco, Soul, Funk und Minimal Music Ausgangspunkt, sondern Techno und alles, was das Genre zu einem so überwältigend dunklen Partymonster macht. Auf Fluidum III wird es dubbig gezähmt und futuristisch in neue Kleider verpackt. Michael Leuffen
Coco Bryce – Ma Bae Be Luv EP (Lobster Theremin White)
Die peinliche Berührtheit, die einen überfällt, wenn der DJ nach fünfeinhalb Stunden Techno-Geballer zum Abschluss einen Jungle-Track raushaut, wünscht man sich nach drei Monaten Club-Deprivation, zwischenzeitlichen Straight-Edge-Smoothies und diversen Detox-Anspielungen fast zurück. Das Knie juckt, die Achseln zucken – Yoel Bego, der als Coco Bryce seit 25 Jahren die niederländischen Hardcore-Gewässer mit dem Speedboot patrouilliert, sorgt mit seinem Lobster-Theremin-Debüt für Kullertränen auf den Wangen der Jungle-Extravaganza. Vier Tracks, vier Bomben, ein Totalabriss zwischen UK-Rave-Nostalgia und drei gechoppten Amen-Breaks unter Bässen, die beim Bongo-Spielen auf den Bahamas dreiundzwanzig Pfeffis mit Ananassaft wegschlabbern, um im Vollrausch draufzukommen, dass es in der Bio-zertifizierten Kleingartensiedlung bei Breda doch ganz chillig ist. Dort bohrt Ma Bae Be Luv den Spaßbremsen am Minimal-Floor die Schaschlikspieße in den Dickdarm, heizt den chrom-gebräunten Webergrill auf 300 Grad und knuspert marinierte Tofu-Scheibchen überm offenen Feuer. Soll heißen: Let’s get Shwifty! Christoph Benkeser
DJ Boring – Like Water (Technicolour)
Mit „Winona” gelang DJ Boring alias Tristan Hallis der große Wurf. Vokale popkulturelle Anleihen wurden hier auf eine coole Art und Weise in noch cooleren und vor allem angenehm rohen LoFi-Sound eingelassen, sodass der Song 2017 zum epochalen Hit wurde. Seine neue EP Like Water erscheint auf Technicolour und richtet sich da musikalisch ganz anders aus: Alle vier Tracks sind zwar wieder klar beeinflusst von Chicago House, klingen allerdings diesmal leider deutlich cleaner. Zusätzlich wird das Ganze dann noch mit vermeintlich besonders funkigen Elementen kombiniert. So kann man zwar versuchen sich, wie bei „Like Water”, in eine Party- Szenerie an der Hotel-Strandbar versetzt zu fühlen – ob man darauf Lust hat, ist dann eben die andere Frage. Die Produktionen unterfordern nämlich stellenweise relativ schnell. Das liegt dann zum Teil an nicht so geglückten Spannungsaufbauten oder eben auch etwas kraftlosen und eindimensionalen Klängen. Hervorzuheben ist auf der zweiten Seite dann doch „Stockholm Syndrome”, wo ein fetziger Bounce entsteht, der beim Durchhören hoffnungsvoll aufhorchen lässt. Lucas Hösel
Gegen 001 (Gegen)
Hedonistische Techno-Party in der Hauptstadt gesucht? Look no further! Dass Gegen aber viel mehr ist, als nur Lack, Leder, Schweiß und Exzess, sondern sich gerade deshalb aus der breiten Masse an queeren Partys in Berlin hervorheben konnte, weil mit knallhartem Techno der musikalische Zeitgeist bedient wird, wird gerne mal übersehen. Die over-the-top-komprimierte Kickdrum der niederländische Künstlerin Esther Duijn sprengt einem gleich mal die Rübe weg und die Cutoff- und Resonanz-Knobs der 303 wurden passenderweise an den Anschlag gedreht. Keine Kompromisse. Simpel, aber effektiv. Der Remix von Scalameriya verleiht dem ursprünglichen Track ein wenig mehr Tiefe, indem er die Leadsynth-Stems des Originals erstmal in den Vordergrund stellt, sich dann nach dem Break ebenfalls komplett gehen lässt und nur noch die Acid-Line exponiert, die er durch den Fleischwolf, der hier ein Filter ist, dreht. Leider ist Ayarcanas „Vertigo” auf der Flip eine unausgereifte Mischung aus Gabber und Techno und der Remix von LɅVΣN ein Malen-nach-Zahlen-Ableton-Hard-Trance-Fiasko mit mehr Effektspektakel als das Silvesterfeuerwerk am Brandenburger Tor. Andreas Cevatli