Minor Science – Second Language (Whities)
Minor Science führt auf seinem Debütalbum konsequent fort, was er seit 2014 auf mehreren Maxis – vor allem auf dem Londoner Label Whities – entwickelt hat: Stark von Bass Music oder spätem Dubstep beeinflusste Tracks, die sich wenig um puristische Stil-Spielregeln scheren und sich vor allem durch eines auszeichnen: Ideenreichtum. Der, wie viele seiner Techno-orientiert musizierenden Landsleute, in Berlin lebende Brite schöpft dabei stark aus dem Fundus der 90er. Vor allem seine Synthesizer-Flächen und seine Vorliebe für sauberes und trotz einiger Härten und abgedrehter Ideen doch freundliches und aufgeräumtes Sounddesign zeugen von einer gewissen Zuneigung zu Trance- und Leftfield-Entwürfen aus dieser Zeit. Auf Second Language werden zudem fast alle Leinen in Richtung Club gekappt, das Album ist kaum Dancefloor-kompatibel (so man denn die gängigen Parameter von Clubmusik als Richtlinien akzeptiert).
„Minor Science tobt sich in allen Groove-Bereichen aus, und zwar nicht nur von Stück zu Stück, sondern auch innerhalb der einzelnen Tracks.”
Diese Loslösung manifestiert sich nicht nur in der Kürze der Tracks, sondern auch in der Wahl des Formats – Second Language erscheint als klassische LP, sprich: Die zehn Stücke sind zwangsläufig recht kurz, haben entsprechend wenig Platz auf dem Vinyl, was enge Rillen und Sound-Einbußen zur Folge hat und etliche DJs leider davon abhalten wird, die Platte aufzulegen. Außerdem tobt sich Minor Science in allen Groove-Bereichen aus, und zwar nicht nur von Stück zu Stück, sondern auch innerhalb der einzelnen Tracks.
„Beide Seiten der Platte vermitteln ohne Skips und Unterbrechung den Eindruck, ein einziges langes Stück mit vielen unterschiedlichen Teilen zu erleben, dem eine ganz spezifische, fliessende Struktur innewohnt.”
„For Want Of Gelt” beispielsweise beginnt ruhig und sphärisch, führt dann einen Electro-Groove ein, ergänzt diesen bald durch typische Dubstep-Elemente und lässt dann im letzten Viertel die Drums komplett von der Leine, was in einem augenzwinkernden Drummachine-Solo zwischen Squarepusher und Billy Cobham endet – und das alles innerhalb von knapp viereinhalb Minuten. Die große Stärke von Second Language liegt aber nicht im Abwechslungsreichtum an sich, sondern darin, wie die Stücke dramaturgisch angeordnet und miteinander verbunden sind.
Beide Seiten der Platte vermitteln beim Hören ohne Skips und Unterbrechung den Eindruck, ein einziges langes Stück mit vielen unterschiedlichen Teilen zu erleben, dem eine ganz spezifische, fließende Struktur innewohnt. Durch diesen Flow gewinnt Second Language eine hohe bildhafte und geradezu erzählerische Kraft. Die Assoziation „Soundtrack ohne Film” drängt sich da natürlich schnell auf, aber mehr noch lässt das Album an ein Hörspiel denken, das auf den Grooves und der Dynamik der Musik segelt.
Die Bilder entstehen im Realen wie im hier assoziierten Hörspiel im Kopf, es bedarf gar keiner Visualisierung. Darüber hinaus hat das Album aber auch auf ungewöhnlich intensive Weise die Kraft, eine metasprachliche Geschichte assoziativ und Tagtraum-verwandt ohne Text und Gesang entstehen zu lassen. Allerdings sollte man diese Geschichte nicht im Titel suchen und sich nicht zu sehr von Werbetexten und schon erschienenen Besprechungen des Albums beeinflussen lassen, die auf das Auseinandersetzen mit einer neuen (Zweit-)Sprache abzielen, dem jeder, der sein Geburtsland verlässt, in der Fremde ausgesetzt ist. Diese Thematik wird durch die Tracks nicht mehr angetriggert als jede andere Kopfkino-Story. Go with the flow ist hier die weitaus bessere Hörempfehlung als die Orientierung an kursierenden Vorgaben – selbst wenn diese im Sinne des Künstlers sein mögen.