Im queerfeministischen Konzept des Safe Spaces geht es um Solidarität, nicht um Ausschluss. In diesen Zeiten der vorsorglichen Abschottungen in private Strukturen, in familiäre oder Wahlverwandtschaften mit den bekannt unsozialen Nebenwirkungen des Hortens und zunehmenden Misstrauens, aber gelegentlichen solidarischen Lichtblicken, könnte diese Technik der Marginalisierten vielleicht Vorbild sein und Denkanstoß bieten. Lernen ließe sich etwa, dass die Komplexitäten und Kurzschlüsse im Spannungsfeld von Inklusion und Separation, von erkämpftem persönlichen Freiraum und forcierter gemeinschaftlicher Sichtbarkeit mit den existentiellen Bedürfnissen von Sicherheit und Rückzugsmöglichkeiten bei drohender Gewalt „intersektional“ zu betrachten sind, weil sich die verschiedenen äußeren Faktoren, die Stressoren von Homophobie, Rassismus, Armut und Marginalisierung, die sich im individuellen Körper überkreuzen, eben nicht trennen lassen und damit auch nicht separat bekämpfen lassen.
„Nebenwidersprüche“ sind eine bequeme Illusion. Es geht also nicht darum Benachteiligungen wie Identität und Zugehörigkeit gegeneinander abzuwägen oder gar in einen Wettbewerb treten zu lassen, wie es den unnachgiebigeren Vertreter*innen queerer Identitätspolitik gerne von konservativer Seite vorgeworfen wird. Es geht ebenso wenig darum der „schweigenden Mehrheit“ Persönlichkeitsrechte wegzunehmen oder Verhaltensweisen aufzuzwingen – dafür sorgt viel eher die „hart durchgreifen“ Fraktion des politischen Mainstreams. Solange es bestimmten Menschen in unserer Gesellschaft noch so schwer gemacht wird, nach außen so leben zu können, wie es ihrem Inneren entspricht, etwa trans oder nichtbinär in Bezug auf das Geschlecht, sind Rückzugsräume, die nicht ausschließen, aber schützen, eine bittere Notwendigkeit. Avancierte elektronische Musik und die um sie herum entstandenen Zusammenhänge können temporäre, transitorische Safe Spaces sein, wie etwa Terre Thaemlitz aka DJ Sprinkles von ihrer Residency im New Yorker Club Sally’s II erzählte.
„Die Motherboard-Kolumne versucht, ein sicherer Ort zu sein. Virtuell, aber real. Ein Hafen für Andersseiende, Freaks und Seltsame. Für die, die in den Mainstream nicht reinpassen, nirgends dazu gehören.”
Wie weit diese Funktion in virtuelle Räume, virtuelle Gemeinschaften übertragen werden kann, ist offen, wie weit die Musik selbst diese Funktion übernehmen kann oder in sich trägt ebenfalls. Thaemlitz hat sich in Interviews dazu eher skeptisch geäußert. Dennoch möchte ich betonen, dass die Motherboard-Kolumne versucht, ein sicherer Ort in diesem Sinne zu sein. Virtuell, aber real. Ein Hafen für die Andersseienden, für die Freaks und die Seltsamen. Für die, die in den Mainstream nicht reinpassen, nirgends dazu gehören. Das meint ganz spezifisch Gender und Identität der Musiker*innen, aber genauso, wie sie ihre Erfahrungen und Wahrnehmung in Klänge fassen.
Edge Slayer aus New Orleans zum Beispiel, setzt ihre nicht immer erfreuliche Alltagserfahrung als Transfrau Of Colour in einen adäquat queeren musikalischen Kontext, der den Mainstream zitiert und ihn öfter streift, aber den Anpassungsschmerz der niemals vollständigen Zugehörigkeit und der manchmal expliziten Gewalt in einen präzise passenden Soundtrack aus Trap, exaltiertem Bedroom-R&B und noisiger Electronica ummünzt. Die grandiose EP C00CHI3 (Interference Pattern) dauert gerade mal zehn Minuten, reflektiert mehr virtuell echtes Leben als ganze The-Weeknd-Alben.
Bei Angel-Ho stellen fluide fragile Identität, queerer Aktivismus und musikalische Freiheit ein vergleichbar interessantes Ensemble auf. Die südafrikanische Produzent*in durchquert (und -queert) auf dem selbst verlegten Album Woman Call die nichtweißen, schwulen, transsexuellen Traditionen von Disco, House, Vogueing und Trap auf eine angemessen exaltierte Weise. Was Fatima al-Qadiris „Shaneera“ mit den Mainstream-Sounds der arabischen Halbinsel angestellt hat, versucht Angel-Ho für das südliche Afrika: eine Sichtweise auf Pop zu finden und zu etablieren, welche mit der grassierenden Homo- und Transphobie des jeweiligen Mainstreams bricht, nicht aber mit den Formen der lokalen und globalen elektronischen Tanzmusik – als Safe Space im oben angedachten Sinn.
Die New Yorkerin Gavilán Rayna Russom hat als Gavin Russom mit durchaus beträchtlichem Erfolg die schwule Disco-Tradition von Patrick Cowley in modernen Acid House umgesetzt. Mit ihrer Verwandlung zur Frau wurden ihre Produktionen zunehmend unvorhersehbar und düster, von Industrial und Noise unterwandert. Nach dem wundervollen Ambient Album The Envoy im vergangenen Jahr ist das Tape Secret Passage (Voluminous Arts) der vorläufige Kulminationspunkt dieser Entwicklung. Komprimierte Percussion-Loops, Field Recordings, Körpergeräusche, Schnappatmung, schriller Noise verwaschen und verrauscht zu einem klaustrophobisch dichten Drone. Ein ganz starkes Debüt ihres neuen Labels, aber nichts für schwache Nerven.
Das gewohnt unkonventionelle und anti-funktionale perkussive Wummern der synthetischen Klänge des Felix Kubin mit Ditterich von Euler-Donnersperg auf der Split-LP NNOI#I (90% Wasser) fühlt sich dagegen schon beinahe konventionell an. Altbewährte deutsche Freakigkeit, perfekt in Hörspielästhetik umgesetzt. Sehr gut, aber im Vergleich zu Russoms jüngster Arbeit fehlt ein wenig die Dringlichkeit. Dieses Außenseitertum fühlt sich eher nach forciert exzentrischem Hobby an als nach existentieller Betroffenheit. Was kein Qualitätsurteil sein soll, sondern simple Feststellung.
Die Matmos-Hälfte Drew Daniel hat als The Soft Pink Truth die Zwischenwelten funktionaler elektronischer Tanzmusik und akademischer Klangforschung gehörig verque(e)rt und den von Kopflastigkeit bescherten und Testosteron übersäuerten Genres IDM und Glitch die Hammelbeine langgezogen. Sein jüngste Soloarbeit Shall We Go On Sinning So That Grace May Increase (Thrill Jockey) entwickelte sich, obwohl explizit als Reaktion auf Donald Trumps Politik verstanden, überraschenderweise nicht in eine düstere, härtere oder abweisende Richtung. Im Gegenteil, das Album ist tatsächlich soft wie nie zuvor und von einer unverkrampften Zugänglichkeit, die es weder bei Daniel noch bei Matmos zu hören gab. Daniel hat klar erkannt, dass Nihilismus ein Luxus ist, der angesichts realer Krisen keine Option mehr sein kann. In Ambient-Chorälen und Deep-House-Electronica beschwört er die spirituelle Kraft der Kooperation. Definitiv ein flauschig weich ausgeschlagener Safe Space in pink für harte Zeiten.
Chloé Thévenin feiert auf der zweiten Labelcompilation ihrer Plattform Lumière Noire die Idee von Diversity in Gemeinschaft und Zusammenarbeit nicht weniger hart ab. From Above Vol. 2 (Lumière Noire) gibt sich international und inklusiv. Etablierte Techno- und House-Produzenten wie Douglas Greed oder Krikor mit jeweils eher introvertierten Electronica-Stücken stehen hier neben jüngeren Newcomer*innen wie Goldmoon mit einem sehr hübschen Stück Spieluhr-Electro und Außenseiter*innen im Techno-Business wie dem Multimediakünstler NSDOS oder Rebeka Warrior, bei deren ungefiltertem Nostalgietrack „Ich komme zurück“ mit Grummel-Bass, Rave-Sirene und französisch-deutschen Vocals nicht nur 80er-Pop sozialisierten Techno-Rentnern wie dem Kolumnisten das Herz aufgeht.
Wenn Machine Girl alias Matt Stephenson und die elektrische Hardcore-Vokalistin Bonnie Baxter von Kill Alters zusammenkommen ist natürlich nicht weniger zu erwarten als purer Breakbeat-Terror, Neo-Gabber-Irrwitz und zerschredderte Brüll-Vocals. Und, Oh Boy, wie Prolaps liefern. Auf Pure Mud Volume 7 (Hausu Mountain) kann das Brooklyner Non-Hipster-Duo aber genauso gut unironisch seltsamen Deep House und debilen Trip Hop emulieren, wenn sie denn möchten.
Angel Marcloid setzt sein irdisches Dasein als nichtbinäres Inter-Wesen Fire-Toolz auf Rainbow Bridge (Hausu Mountain) in eine bizarre wie schlüssige Überlagerung von exzellent produzierten, überaus lieblichen Keyboardschleifen aus den Vaporwave-80ern und den J-Pop-90ern mit verzerrten Black Metal Gekreische und Glitch-Noise. Ein superfreundlicher Wolpertinger, der gerne so tut, als wolle er dir den Kopf abbeißen, aber doch nur spielen will.
Bei Sightless Pit bin ich in dieser Hinsicht ebenfalls zuversichtlich, auch wenn das dreiköpfige Biest mächtig knurrig daherkommt. Eine echte Supergruppe des abseitig Derben hat sich da zusammengefunden. Mit Grunzkröte und Grindcore-Schreihals Dylan Walker von Full Of Hell, Lee Buford vom Fringe-Metal-Duo The Body und der Power-Electronics-Pop-Avantgardistin Kristin Hayter alias Lingua Ignota kommen Genregrenzen und charakterliche Einschränkungen definitiv nicht zum Tragen. Grave Of A Dog (Thrill Jockey) fährt dann auch alles von theatralischem Symphonie-Metal-Pomp zu Gabber-Furz-Bässen zu Entropie-Noise am dunklen Ende der Zerfallsskala einiges auf, was (keinen) Spaß macht. Leistungsmäßig liegt das, wie von anderen Projekten der drei bekannt, irgendwo zwischen existenzieller Verzweiflung und finsterster Depression, mit kleineren Ausbrüchen resignierter Wut. Also alles im grünen Bereich. Wären doch nur mehr Dark-Ambient-, Noise-, Doom- oder Sonstwas-Metal-Combos derart offen und zu augenzwinkernder Selbstironie fähig. Und wie lieb die auf dem Promofoto alle gucken!
Finster aus Promofotos zu starren, ist eine Kunst und definitiv eine der Stärken des Chicagoer Musikkollektivs Wrekmeister Harmonies. Um den fusselbärtigen Kristallisationskeim JR Robinson und seine langjährige musikalische Partnerin Esther Shaw haben sich heuer Thor Harris, grimmiger Drummer bei den Swans und supernetter Vibraphon-Klöppler bei Thor & Friends, sowie der immer unberechenbare Jamie Stewart von Xiu Xiu angeordnet. Zusammen singen sie, vorhersehbar unvorhersehbar, finstere Balladen, die mal in sakraler Ruhe beharren, mal temporär in einen Heavy-Postrock-Freakout ausbrechen. We Love To Look At The Carnage (Thrill Jockey) singt von Phantomschmerzen und lange vergangenem Verlust – und vom (un)würdigen Altern. Exzellente Arbeit, obwohl die Gastmusiker hier beide recht zahm agieren und vor allem Jamie Stewart seine Idee der „Verqueerung“ von Sound nur zaghaft einbringt.
Die Heavy-Doom- und Drone-Kollaboration von N + [BOLT] klang auch schon brutaler. Obwohl sie in ihrer Soundinstallation in der Christuskirche in Bochum 15 fette Verstärkertürme kreisförmig zu einer immersiven wie massive Soundplastik aufgestellt haben, klingt 15 Amps (Midira) vor allem in der ersten Hälfte tatsächlich nach zartestmöglichem Ambient. Verzerrer und Volumen bekommen dann zwar noch ihr Recht, aber der erste Eindruck bleibt: bei aller Lautstärke ist es das leiseste Album, das die drei Freunde hier abgeliefert haben. Schöne Entwicklung.
Kesselhaus (Midira) von thisquietarmy ist ebenfalls live eingespielt, im Berliner Venue gleichen Namens. Der zum Museum umfunktionierte kathedralische Industriebau ist ein perfektes Umfeld für die deftigen Gitarrendrones von Eric Quach, der es genau umgekehrt macht wie N + [BOLT]: erstmal ordentlich Feedback reindrehen und Gehör wegbrennen, dann zusehends einfacher und leiser werden, bis nichts mehr übrig bleibt.
Slow Reels, das Duo des Kosmopoliten und Ambient-Multiplikators Ian Hagwood mit dem Briten James Murray, verschiebt das harsche Feedback und den fiesen Drone weit in den Hintergrund, gibt ihn aber nicht vollständig auf. Ihre Farewell Islands nutzt die Eigenheiten von Hagwoods analogen Maschinen und Murrays digitalen Abstraktionen zu maximalem Effekt. Die organische Wärme stark verwischter und verschliffener Lo-Fi Tape-Loops und die mikrotonale Präzision des digitalen Soundprocessings verbinden sich hier so willig und quasi natürlich, als hätte es nie eine andere Produktionsweise gegeben. Kein Wunder, dass das Mini-Album auf dem Indie-Major Morr Music erscheint. Im Rahmen des deutlich überschaubaren und reichlich ausgereizten Sound-Idioms ist Farewell Islands ein Volltreffer, ein Hit und möglicher Dauerbrenner respektive Zukunftsklassiker.
Die Tenniscoats sind die netteste beste Band der Welt. Das habe ich in dieser Kolumne hoffentlich ausreichend oft kommuniziert. Dass das japanische Ehepaar auch zu den umtriebigsten Multiplikatoren für experimentellen Pop, elektronisch oder nicht, gehört, hoffentlich ebenfalls. Dank der unermüdlichen Labelarbeit von Markus Acher sind jetzt immer mehr dieser Arbeiten außerhalb Japans zugänglich. Aktuell stehen sogar drei mehr als üppige Veröffentlichungen aus dem Umfeld der Tenniscoats an. Was ein Fest! Einmal die von Saya Ueno zusammengestellte Kompilation Minna Miteru (Morr), die 27 Stücke aus Kollaborationen, von Freunden, gleichgesinnten und inspirierenden Künstler*innen, versammelt. Diese einzigartige Indie- und DIY-Szene ist jenseits ihres Heimatlandes wenig bekannt und Tonträger sind kaum bis gar nicht erhältlich. Von Singer-Songwriter-Stücken über avantgardistische Brass-Bands zu experimenteller Elektronik eint alle Beiträge ein warmer Lo-Fi-Sound und eine überschwängliche Freundlichkeit, die selbst die schräg quietschenden Stücke mit einem organischen Verständnis von psychedelischem Pop erden. Es ist ist schwierig bis ungerecht, hier einzelne Künstler*innen hervorzuheben, daher seien nur die bekanntesten erwähnt, die wunderbare Ytamo, die Avant-Pop Altstars Urichipangoon oder Takako Minekawa und Dustin Wong.
Das Debüt der Marching Band Zayaendo ist in Japan bereits im vergangenen Jahr erschienen. Nun ist Zayaendo Music (Majikick/Alien Transistor) auch international zugänglich. Der Brass-Pop der Big Band bekommt über die Beteiligung von Takashi und Saya Ueno, die auch produziert hat, den gewissen Outsider-Pop-Charakter, der die Musik über eine gängige Blasmusikkapelle hinauswachsen lässt. Denn was die Tenniscoats besser können als alle anderen, ist den Charme des Imperfekten zu erhalten, den solche ambitionierten Hobby-Profi-Projekte ausstrahlen. Das scheint eine spezifische japanische Qualität zu zu sein. Denn der andere Meister dieser Disziplin, Tori Kudo mit seiner Hobbyisten-Band Maher Shalal Hash Baz kommt da ebenfalls her.
Weiterhin geht Spirit Fest, die Kollaboration der Tenniscoats mit Markus Acher und Cico Beck von The Notwist und Mat Fowler von Jam Money in die dritte Runde. Mirage Mirage (Morr) ist noch etwas introvertierter und ausgeruhter als bislang von Spirit Fest gehört. Der Zusammenfluss von sanfter Melancholie, entspanntem Instrumental-Jamming und federleichtem Songwriting ist weiterhin einzigartig und wunderbar. Dass hier ein eindeutig identifizierbarer Hit wie „Rain Rain“ fehlt ist kein Mangel sondern eine Qualität.
Die Ressourcen seltsam toller japanischer Outsider-Popmusik erschöpfen sich nicht auf den Tenniscoats-Bekanntenkreis. Aki Goto zum Beispiel hat ihre eigene virtuelle Hippiekommune zum allabendlichen Freakout versammelt. Ein außer Kontrolle geratenes Xylophon-Ensemble im Kindergarten beim Topfschlagen mit schlecht gelaunten Aufstandszwergen, das beschreibt das herrlich überdrehte Geklapper auf der Split-LP Natal Uranus, il corpo sotto la sabbia / Birthdays (Commend See/RVNG Intl.) von Sea Urchin and Aki Gotos Shirotento Orchestra nicht mal annähernd. Wo Aki Goto das kleinteilige Beinahe-Chaos akustisch auskleidet, emuliert es das Berliner Duo Sea Urchin vollelektronisch. Mit stetem dubbigem Bassgewummer unterfüttert stolpern arrhythmische Synthesizerwellen gen Uranus. Eine andere Art von Space Music. Ziemlich weit draußen und wunderbar, beides.
Was Nordlicht Jens Uwe Beyer in Köln als Labelbetreiber (Magazine, PNN, Schalen) und Musik- wie Kunst-Katalysator so macht, kann ebenfalls ziemlich weit in die Ferne schauen. Wenn er sich in den Alias Popnoname kleidet, bleibt er allerdings dem geraden Beat und einer typisch Kölner Form des Autoren-Technos treu. Horizons (Feines Tier) führt diese Kombination von Pop-Songwriting und solide rockender Beat-Arbeit sogar noch einmal zu neuen Höhen. Beyer singt jetzt seltener selbst, sondern lässt Samples singen, sorgfältig kleingehackt und feinwürzig arrangiert nach Art seines Cologne-Tape-Buddies Axel Willner aka The Field.
Das Würzburg-Berlin-Trio Pupkulies & Rebecca steht ebenfalls für eine gut abgehangene, ausgefeilte Melange von zupackendem Dub-Techno und zartem Songwriting mit Hitpotential, hier gerne französischsprachig und Chanson nah. Eher Festival- als Clubmusik, haben sie auf ihrem sechsten Album Bente (Normoton) den 60er-French-Pop-Flair noch etwas intensiviert, wobei Dub und Techno doch immer den Ausgangspunkt und das Fundament ihres Sounds ausmachen, sich aber nur noch selten zu echten Clubtracks verdichten. Nach fünfzehn Jahren nicht müde geworden, bleiben Pupkulies & Rebecca eine der sympathischsten deutschen Techno-Bands.
Finlay Shakespeare aus Bristol hat eine interessante Entwicklung hinter sich. Als Future Image hat er in den Nullerjahren noch recht artentypischen Glitch und IDM produziert und selbst verlegt. Nach mehr als zehn Jahren Veröffentlichungspause kam im vergangenen Jahr dann aus dem Nichts ein fettes Doppelalbum mit minimal wavigem Synthpop ausgerechnet auf Editions Mego, dem Label für abstrakte Elektronik und elektrische Experimente aller Art. Mit seinem zweiten Album Solemnities bleibt Shakespeare der konkret Song-orientierteste Act des Labels. Der bunte Synthpop des Debüts ist allerdings schwer von Industrial und Postpunk angefressen, der Gesang noch zickiger und fordernder. Die geradewegs zupackenden Songstrukturen und die üppigen Melodien drängen sich aber doch immer wieder in den Vordergrund. Vor dreißig, fünfunddreißig Jahren hörte sich Pop von britischen Kunsthochschulabgängern so an. Die Beats und Bässe sind aber definitiv von heute.
Die Verbindung von Kunst und Musik mit einem von Industrial gelernten Nutzung von Geräusch ist im aktuellen Werk der digitalen Avantgarde-Chanteuse Olivia Louvel noch direkter. SculptOr [Hepworth Resounds] (Cat Werk Imprint) bezieht sich in multiplen Aspekten auf die Arbeit der britischen Bildhauerin Barbara Hepworth. Unmittelbar in gesampelten Zitaten Hepworths, indirekter in von Louvel gesungenen Textpassagen und den klopfenden, hämmernden, knackenden Rhythmen der bildhauerischen Arbeit. Das Album leugnet seinen Ursprung in einem Radio-Hörspiel zu keiner Zeit, überzeugt aber dennoch als eigenständiges Werk zwischen digitaler Collage und modernem Kunstlied.
Womit wir bei der Stimme als Instrument angelangt wären. In Ambient und Electronica haben sich inzwischen einige Produzent*innen darin spezialisiert, ihre Stimme zur Hauptsache ihrer Produktionen zu machen, ohne je zu Songs im konventionellen Sinn zu gelangen. Der Kanadier Ian William Craig hat diese Arbeitsweise perfektioniert. Was einmal heftige emotionsgeladene Folksongs oder quasi-sakrale Choräle waren, überzieht Craig mit einer intensiven Patina aus digitalem Zerfall, Rauschen und Noise. Was auf Red Sun Through Smoke (Fat Cat) übrig bleibt, sind Ruinen von Songs, die ihre ursprüngliche Schönheit noch immer auf der Oberfläche transportieren. Allein ihre Textur ist rau geworden, ihre Substanz mürbe und brüchig. Zarter und anmutiger kann derber Noise kaum werden.
Die Portugiesin Síria verwittert auf Boa-Língua (Crónica) ihre wunderschönen Gesangsstücke ebenfalls durch Rauschen und Feedback. Wo Craig noch hin und wieder ein Piano oder eine Akustikgitarre als harmonische Grundierung zulässt, vertraut Diana Combo fast ausschließlich der Kraft ihrer Stimme – und der Kraft der Nostalgie auf der Kippe in morbider Düsternis. Die eindeutige Melancholie der portugiesischen Volksmusik und die Klarheit der elektroakustischen Komposition sind hier suspendiert in jenseitige wie amorphe Stimmerfahrungen.
Die menschliche Stimme zu einem außergewöhnlichen, leicht fremd wirkenden Instrument zu machen, beherrscht die Kopenhagenerin Soho Rezanejad ebenso unheimlich perfekt. Zudem steht ihr von avancierter Post-Club-Elektronik über Post-Industrial und Trip-Hop zum Indie-Folk eine Soundpalette zur Verfügung, die ihresgleichen sucht. Ihr zweiteiliges Großwerk Honesty Without Compassion Is Brutality (Silicone) zieht einen weiten Bogen von bukolischen Naturbildern über archaische Bibel-Symbolismen zu urbaner Straßenpoesie mit jeweils entsprechendem Klangbild. Immer experimentell wie eingängig stellt sich hier akut die Frage, warum Rezanejad noch immer so ein Nischenthema ist und ihre Arbeiten digital selbst vertreibt. In der bescheidenen Wahrnehmung des Rezensenten hat ihre eigenwillige Popmusik das Popularitätspotential von Björk oder mindestens Circuit des Yeux.
Die ebenfalls selbstverlegte digitale Withdrawn EP (Penelope Trappes) der Penelope Trappes mit noch weltentrückteren, von Field Recordings und digitaler Alterung zermürbten Versionen von Stücken ihres 2018er Albums Two hat eine ähnliche Qualität. Melancholische zarte Folksongs, zu düsterem Ambient eingetrübt.
Die Berliner Vokalistin Lyra Pramuk hat mit der nichtbinären Neoklassik-Komponist*in Colin Self gearbeitet, mit der Body-Art-Performance-Künstlerin Donna Huanca gespielt und bei Holly Herndons KI-verstärktem Chorensemble mitgewirkt. Ihr Debüt Fountain (Bedroom Community) spielt sich zwar innerhalb der damit abgesteckten Koordinaten ab, fügt ihnen aber noch eine gehörige Menge an genuiner Soul-Sensibilität hinzu. Selbst in der mit den allerneuesten Gadgets hochcomputerisierten KI-Avantgarde singt die menschliche Stimme noch den Gospel. Ein hartnäckige Präsenz des unformatierten Körpers in höchsten Tönen.
Die in Glasgow lebende Finnin mit dem italienischen Namen Maria Rossi aka Cucina Povera (die einfache traditionelle italienische Küche) kultiviert die elektronische Stimmverwirbelung schon seit einigen Jahren. Auf ihrem dritten Album Tyyni (Night School) auf die bisher reduzierteste Weise. Zarteste Splitterballaden auf minimalistischen Drones, strukturiert von Knistern, Rascheln und unaufdringlich unfunktionalen Beats. Selbstredend wunderwunderschön.
Die Berliner Pianistin Maike Zazie „von einem anderen Stern“ Matern haucht blumige Poesie über das innere Kind zu romantischen Pianolinien à la Yann Tiersen und schreckt auch vor Zitaten von Michael Endes Momo nicht zurück. Oberflächlich mag das eventuell nach furchterregend naiven Plattitüden klingen, tatsächlich ist das Gegenteil wahr. Endes Binsen werden von eingesprochenen Zitaten der feministischen Autorin Siri Hustvedt oder der Dichterin der schwedischen Moderne Edith Södergran aufgefangen. Und sogar Ober-Misanthrop Schopenhauer hat einen Auftritt in Zazies Seismopsychollage (!K7). Die Anmutung von Kitsch kommt so gar nicht erst auf. Dafür sorgt neben der introvertierten, aber vielschichtigen Lyrik die trockene Produktion des Berliner Drone- und Improv-Spezialisten Simon Goff. Hier geht es ganz grundsätzlich und nicht trivial darum, sich in kalten Zeiten eine gewisse Sensibilität zu bewahren, Nähe und Verletzlichkeit zuzulassen – und Hoffnung. Und wenn etwas in diese von existenzieller Unsicherheit und Kontaminationsängsten geplagte Zeit passt, dann das.
Die ebenfalls in Berlin lebende Marla Hansen findet auf Dust (Karaoke Kalk) eine ähnlich fragile Form für optimistische wie zarte Quasi-Folksongs in einem Soundgewand aus Neoklassik und Electronica. Für Hansen stellt das Album eine Emanzipation von ihrer Hauptbeschäftigung als Session-Musikerin und Hired Hand an der Violine im Dienste zahlloser gerne ordentlich prominenter Indie-Bands dar. Wirklich schade, dass das erst jetzt passiert ist, denkt man sich angesichts der Güte und Kraft dieser Stücke.