Hyroglifics and Sinistarr – BS6 (Hooversound)
Als DJ gehört Sherelle zu einer der interessantesten Newcomer*innen der Szene, nun steigt sie gemeinsam mit Kollegin Naina ins Label-Business ein. Das erste Release ihres Imprints Hooversound ist zu gleichen Teilen eine Kollaboration und eine Split-Single: Der Brite Hyroglifics und der US-Amerikaner Sinistarr machen erst auf einem Track gemeinsame Sache, bevor jeder von ihnen einen separaten beisteuert. Obendrauf gibt es neben einem Remix von Scratcha DVA noch eine zweite gemeinsame Nummer als digitalen Bonus. Ziemlich viel Bang für recht wenig Buck also. Denn knallen tut auf BS6 so einiges. Das Titelstück bringt im Original die Zappeligkeit von Hochgeschwindigkeits-Techno mit den bollernden Basssalven von Footwork zusammen und gerät unter Scratcha DVAs Händen zu einer sphärischen Gqom-Hommage – das definitive Highlight der EP. Ist der Einstieg schon nervenaufreibend genug, zieht Hyroglifics das Tempo auf der Flip sogar noch mit einer bräsigen Acid-Techno-Nummer an, bevor Sinistarr auf „Detroit” seiner Heimatstadt mit unterkühlten Bleeps und – irritierenderweise – UK-Bass-Bollwerken Tribut zollt. Zusammengenommen mit der Drum’n’Bass-inspirierten Bonus-Nummer „Turn Up” bietet BS6 somit eine ziemliche Bandbreite von stilistisch offener Bassmusik verschiedenster Couleur, die allerdings mehr auf instantane Überwältigungseffekte statt auf Nachhaltigkeit zu setzen scheint. Es knallt schon, nur leider mit jedem weiteren Mal etwas schwächer. Kristoffer Cornils
JASSS – Whities 027 (Whities)
Keine drei Jahre ist es her, da hat Silvia Jiménez Alvarez wie aus dem Nichts die meisten Konventionen gängiger Clubmusik zu Staub zerbröselt und selbst experimentelle Kolleg*innen wie träge Wiederkäuer alter Ideen aussehen lassen. Ihr Debüt Weightless ist ein nach wie vor zeitloses Amalgam aus Electro-Industrial, Techno, Drone und Deconstructed Club, das für Eingefleischte heute schon Kultstatus genießt, spätestens aber in ein paar Jahren zu den prägenden Momenten elektronischer Musik während der 2010er gezählt werden wird, gezählt werden muss. Seither hat sie als JASSS furiose Mixe für Strange Sounds From Beyond, FACT und den Dekmantel-Podcast geschmiedet, deren Trackselektion ihren Ruf als absurd begabte DJ ebenso belegte wie ihre Auftritte in der Säule des Berghains. Wann ein zweites Album erscheinen würde, war über all die Jahre dennoch schwer abzusehen. Ob dieses mit dem musikalischen Niveau von Weightless mithalten kann mindestens ebenso. Bei Nic Taskers Whities, dem Sublabel von Young Turks, veröffentlichte die Spanierin nun eine 12“-Single, die auf beiden Seiten zumindest die zweite Frage mit einem dicken Ausrufezeichen beantwortet. „Turbo Olé” und „We Solve This Talking” sind Hymnen an die ersten Rave-Erfahrungen, deren Intensität nicht reproduziert werden kann. Im der ersten wölben sich mächtige Beatstrukturen jenseits von Viervierteln hinter gleißenden Trance-Arps in die Höhe, wirken bedrohlich und einladend zugleich – wie der Bodyload von gutem MDMA. Seite B klingt danach etwas weniger Dancefloor-orientiert, ist in puncto rhythmischer Variation und Sounddesign aber trotzdem eine verdammte Wohltat. Auch hier pochen Bass und Kicks sehr präzise und kraftvoll durchs Ohr, werden schimmernde Flächen über wunderschönen Synth-Riffs bis in den Himmel geschichtet. Sollte das zweite JASSS-Album diese Signatur tragen, darf man sich auf Großes gefasst machen – ekstatischer ist Tanzmusik anno 2020 kaum denkbar. Nils Schlechtriemen
LUZ1E – Ridin’ (Shall Not Fade)
Was passiert eigentlich, wenn man die Frankfurter House-Schule mit Elektro-Einflüssen paart, dann noch ein wenig Rave mit reinschmeißt und dazu den Schalter auf „Totale Lässigkeit” stellt? Genau, diese Platte hier. Wer wissen möchte, wie 5 Uhr morgens im Robert Johnson klingen, aber nicht reinkommt oder den langen Weg nach Offenbach scheut, der kann sich das Gefühl nun nach Hause holen. Ridin ist das perfekte Surrogat für eine schöne Tanznacht mit Blick auf den Main und zwei Zigaretten auf der Terrasse, auf der man mit Gott und/oder der Welt ins Gespräch kommt. Der „Deep 8reak Cut” des Antonio Klassikers „Hyperfunk” atmet neben den nagelnden Sounds eine gemütliche Deep-House-Reminiszenz, da kann sich der Break im Hintergrund noch so abmühen. „Damn Boi” könnte sich sodann auch gut in ein Roman-Flügel-Set verirren, klingt der Track doch so, als hätte ein Virus eine alte Sensorama-Nummer als Wirt ausgemacht und ihr Erbgut hin zu einer gepflegten Sause mit Ghetto-Feelz verändert. Die Kombi ist fast schon zu smart, aber immer noch super-chillaxt.Dem Antlitz dieser Nummer würde es trotzdem hier und da ganz gut tun, wenn nicht alles so wahnsinnig cooooool wäre. Man hofft bis zur letzten Sekunde, dass noch eine Peinlichkeit reinrutscht, passiert aber hier nicht, kann ja noch werden. Lars Fleischmann
Maurice Fulton – Earth EP (Gudu)
Maurice-Fulton-Platten kommen zwar in schöner Regelmäßigkeit, aber ein häufig auftretendes Phänomen sind sie beileibe nicht. Im einen Jahr erscheint ein Boof-Album, im nächsten präsentiert er einen neuen Syclops-Longplayer oder produziert Mim Suleiman. Mit anderen Labels außer Running Back hat der schon seit zwei Jahrzehnten in England lebende US-Amerikaner schon länger nicht mehr zusammengearbeitet. Peggy Gou ist es nun gelungen, den Mann für ihr Label Gudu Records zu gewinnen. Das Highlight dieser EP, der Track „Jigoo”, eine Kollabo mit der Südkoreanerin, steht gleich am Anfang. 80s-House-Drumprogramming und eine Synthesizer-Melodie, der man sich unmöglich entziehen kann – was will man mehr? Die anderen beiden Tracks hat Maurice Fulton alleine aufgenommen. „Not Sure How I Would” ist eine seiner schroffen Jazz-Funk-Exkursionen, kennt man ja von Syclops. Einen Beat-Track wie „One Itself” hat man von ihm zwar auch schon gehört, aber dieser hier ist besonders gut! Holger Klein
Zeki 808 – Give Thanks (Ilian Tape)
Dubstep war ja in den 2000er Jahren immer auch eine Art Soundtrack der Angst gewesen. Und ist dann in andere Erscheinungsformen mutiert. Dass 2020 eine Platte ihre Familienverwandtschaft zum Dubstep fast schon provokativ ausstellt, ist dabei an sich eigentlich nichts Ungewöhnliches. Erstaunlicher ist dafür, wie sich Zeki 808 diese Referenzen greift – digital schimmernde Mattlack-Bässe, vielfältig gebrochene Beats, die unverzichtbaren Zutaten Hall und Echo – und daraus Musik macht, die wenig Nostalgie aufkommen lässt. Vielmehr stellt so ziemlich jeder Track eine neue Synapsenverbindung her. Die Plastizität des Clubs hat sich damit am Ende der 25 Minuten dauerhaft verändert. Und da Angst dieser Tage wieder Konjunktur hat, lässt sich diese EP auch in dieser Hinsicht als sehr gegenwärtig betrachten. Körperlich verbindende Frequenzen für die bis auf weiteres virtuelle Tanzfläche. Da über Zeki 808 eher wenig in Erfahrung zu bringen ist, könnte der Name in Verbindung mit dem Label, betrieben von den Zenker Brothers, ein Wink sein, dass womöglich die Macher selbst dahinter stecken. Wer auch immer es am Ende ist: Dank sei ihm bzw. ihnen dafür! Tim Caspar Boehme