Der Große Saal in der Philharmonie Berlin vor Beginn des Strom Festivals (Foto: Frankie Casillo)
Techno meets Hochkultur: Am 7. und 8. Februar fand in der Berliner Philharmonie erstmals das restlos ausverkaufte Strom Festival statt. In ungewohnter Umgebung wurde den Besuchern*innen an zwei Abenden eine große Bandbreite an elektronischer Musik geboten. Angesichts dieses derart mutigen Konzepts, das selbst für die Philharmonie der pulsierende Spreemetrople neu ist, wollte es sich unser Autor Leonard Zipper nicht nehmen lassen, einen Eindruck zu gewinnen.
„Das Strom Festival soll zwei Dinge zusammenbringen: elektronische Musik, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, und die Philharmonie Berlin. Beide Sachen treffen sich merkwürdigerweise nicht so häufig, selbst in einer Stadt, in der es viele Festivals gibt, die ein breites Spektrum an elektronischer Musik abbilden”, sagte Stefan Goldmannn, der Kurator des Strom Festivals, dem Deutschlandfunk im Vorfeld. Entsprechend verhaltene Stimmung herrscht am frühen Freitagabend, als Florian Meyer alias Don’t DJ im proppenvollen Foyer des gewaltigen Konzerthauses steht und die Veranstaltung langsam in Gang setzt. Meyer zeigt sich im grauen Kapuzenpulli unbeeindruckt von der pompösen Atmosphäre. Vor ihm schwingen einige merklich routinierte Gäste mutig die Hüften. Die meisten aber, einige davon im feinen Zwirn, andere in extravaganten Monturen, wie man sie aus Berliner Techno-Clubs kennt, beschränken sich zunächst darauf, neugierige Blicke auszutauschen und an ihrem Crémant zu nippen. Während sein Set anfangs mit einigen hölzern klingenden Eigenproduktionen angenehm dahinplätschert, wird der Sound ab der zweiten Hälfte zunehmend stampfiger — und weist somit auf die herausfordernde Akustik des Eingangsbereichs hin. Ich beschließe, mir etwas die Beine zu vertreten; schließlich gibt es abseits des Trubels eine Licht-Installation von Robert Henke zu bestaunen.
Insgesamt hält es das Festival einfach: An beiden Veranstaltungstagen treten jeweils fünf Acts auf – abwechselnd auf zwei Bühnen, dem Foyer und dem Großen Saal. Im Foyer steht mit Sets von Deena Abdelwahed, KiNK, Nina Kraviz und Voiski elektronische Tanzmusik im Vordergrund. Der Saal bietet hingegen Raum für komplexere Inszenierungen wie einer audiovisuellen Performance mit Cristian Vogel. Der präzisen Akustik des gewaltigen Innenraums fügt sich ein Funktion-One-Soundsystem. Eröffnet wird er mit einem Ambient-Live-Set von Stefan Goldmann, das fragmentierte Bleeps tragen. Die Darbietung harmoniert mit den Arbeiten des Videokünstlers Javier Benjamin, die auf einer großflächigen LED-Wand hinter ihm gezeigt werden. Mit dem Auftritt vollführt er gleich zum Auftakt und abseits des geraden Beats den größten Spannungsbogen des Festivals. Doch bereits hier resignieren einige Gäste und verlassen den Saal – eine Tendenz, die sich durch das gesamte Festival zieht.
Zurück im Foyer gelingt es Voiski, dem Meister des Post-Trance, mit reduziertem Techno der Akustik wieder Herr zu werden. Dennoch herrscht eine verkrampfte Atmosphäre, besonders unter den zahlreichen Gästen, die auf der Empore stehen und neugierig den Dancefloor unter ihnen beäugen. Bei guten 130 BPM muss man sich schon sehr konzentrieren, um nicht aus dem Takt zu kommen. Bevor die Stimmung kippen kann, geht es jedoch zurück in den Großen Saal: Hier gelingt es dem österreichischen Downbeat-Duo Kruder & Dorfmeister in einem Meer aus Projektionen, die den Raum zu einer Manege transformieren, die Menge zu vereinen. Mit ihrem organischen Sound, der Drum’n’Bass, Hip Hop und Trip-Hop verstrickt, katapultieren sie die Gäste aus den Sesseln. Als die Wiener mit ihrer Version von Depeche Modes „Personal Jesus” die Luftschächte zum Wackeln bringen, strömen Jung und Alt vor die Bühne. Besonders hier zeigt sich, was das Strom Festival für Stefan Goldmann besonders macht: „Durch so eine Veranstaltung wird vielen, auch älteren Menschen, der Zugang zu elektronischer Musik überhaupt erst ermöglicht.” Zum Ende des ersten Veranstaltungstags trägt schließlich KiNK den positiven Vibe zurück ins Foyer — nicht zuletzt dank des Temperaments, das der Bulgare hinter seinen Maschinen ausstrahlt.
Am Samstag schafft es Deena Abdelwahed im Foyer, die etwas jünger wirkende Crowd nur mäßig bei der Stange zu halten. Unterdessen bilden sich schier endlose Schlangen an den Theken. Die Tunesierin stellt mit ihrer Musik die spannende Frage wie Techno klänge, wäre er nicht in Detroit, sondern in Tunesien erfunden worden. Bedauerlicherweise sind ihre Tracks, die vor komplexen Rhythmen und traditionellen Instrumenten aus dem arabischen Raum nur so strotzen, nicht für das Foyer ausgelegt: Pulsierende Passagen münden immer wieder in ein andauerndes Dröhnen, das sich in den weitläufigen Gängen des Gebäudes verliert. Bereits im Vorfeld sprach Das Filter mit Goldmann über die komplexe Akustik des Hauses, die Herausforderungen birgt: „Da müssen wir mutig sein und sagen: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. (…) Wie gut das alles funktioniert, sehen wir erst an den beiden Abenden.” Unterdessen mokiert sich ein älterer Herr neben mir über die „monotone und langatmige” Inszenierung von Cristian Vogels The Ballad of Agnete and the Merman, die sich als Melange aus Performance-Art und Live-Set beschreiben lässt und Abdelwaheds Sets voranging. Ich kann ihm nur entgegnen, dass auch ich bei der Show ständig auf meine Uhr schauen musste. Wir schreiten gemeinsam in den Großen Saal zum wohl meisterwarteten Auftritts des Abends, einem Live-Set des Klang- und Videokünstlers Ryōji Ikeda. Während hinter dem Japaner schwarz-weiße Zahlencodes und Sinuswellen in sämtlichen Variationen stroboskopartig aufblitzen, reiht er rhythmischen Loops kurzer digitaler Töne und Geräusche aneinander. Sein 45-minütiger Auftritt ist fordernd – und der wohl am kontroversesten diskutierte der Veranstaltung. Als sich seine Darbietung in der zweiten Hälfte in der Monotonie verliert, erheben sich viele unter dem jubelnden Geschrei einiger Zuschauer*innen, die von den Bleeps und Blopps nicht genug kriegen können, von ihren Sitzen und begeben sich zurück ins Foyer: Hier endet das Strom Festival mit einem Auftritt von Nina Kraviz, der es nicht gelingt, sich mit ihrem rasanten, acidlastigen Sound der Umgebung anzupassen. Anfangs droht sie gar an Glaubwürdigkeit einzubüßen: In den ersten fünf Minuten ihres Sets registriert sie nicht, dass nur ihre Monitore laufen, aber nicht die gewaltigen Soundsysteme neben ihr. Einige Gäste scheint dies nicht zu interessieren, sie sind zu sehr damit beschäftigt, die Russin mit ihren Smartphones abzulichten.
Was bleibt vom Strom Festival? Der Veranstaltung gelang es sicherlich, zu moderaten Ticketpreisen und durch außergewöhnliche Klangerlebnisse im Großen Saal ein Bewusstsein für viele Facetten der elektronischen Musik zu schaffen, besonders für Besucher*innen, die sich nicht um 3 Uhr morgens vor einem Club einreihen wollen (oder können). Allerdings schafften es die meisten Künstler*innen nicht, eine Dramaturgie zu entwickeln, die die Aufmerksamkeit über 45 bis 60 Minuten bindet. Die Darbietungen im Eingangsbereich entpuppten sich weitgehend als Flopp. Das Foyer der Philharmonie ist für elektronische Musik akustisch nicht geeignet. Problematisch erscheint auch der Fokus auf sehr bekannte Musiker*innen: Warum müssen Steuergelder Künstler*innen wie Nina Kraviz hinterhergeworfen werden, die im Betrieb schon extrem präsent und sehr gut bezahlt werden? Viele der Gäste sind ohnehin nicht mit den bekannten Größen des Kosmos Techno vertraut und kamen vor allem aus Neugier – für das mutige Konzept und elektronische Musik im Allgemeinen.