Felix K – Die Verachtung (Nullpunkt)
Ob die neue EP des Produzenten Felix K im Titel auf den Jean-Luc-Godard-Klassiker Le Mépris anspielt, ist Ansichtssache. Sein fantastischer, hardwaregesteuerter Sound lässt aber Vermutungen zu, denn die vier präzise produzierten Tunes wären als Soundtrack für einen verzwickten Liebesreigen im Wind der Irrfahrten des Odysseus durchaus vorstellbar. Mit dramatischem Tiefgang vereinen sie Ambient, Dub, Partikel von Drum’n’Bass und Techno als Unterton zu einem absorbierenden Sog. Spielend gelingt dem Berliner, der auch unter Pseudonymen wie Das Nichts oder Intelligent Chaos (1996) fesselnden Dub-Wave-Ambient veröffentlicht, als einem der wenigen zeitgenössischen und bereits lange aktiven Hauptstadt-Produzenten die große Kunst, den verschwitzten, nackt-kalten Hauch der Berliner Techno-Nacht in trockene, minimal geschichtete Tracks zu gießen, die trotz rauer Lasur sexy sind. Alle Tunes trumpfen zudem mit einem Industrial-Flair auf, das nicht abgedroschen die Vergangenheit zitiert, sondern wie ein sinnliches elektronisches Fracking-Wimmern aus dem Jetzt wirkt. Eine Suchtfaktorplatte für mancherlei imaginäre Irrfahrten! Dubwise! Michael Leuffen
James Bangura – James Bangura EP (Vanity Press)
Eine der Neuentdeckungen dieses noch jungen Jahres haben wir dem Label Vanity Press aus Ann Arbor in Michigan zu verdanken. James Bangura ist ein Newcomer mit einer Vorliebe für Electro, Juke, Techno und Bass Music zwischen UK- und Detroit-Prägung. Bei Soundcloud ist er schon länger recht umtriebig, doch ansonsten ist der junge Produzent aus Washington, D.C. bisher im internationalen Techno-Zirkus nicht wirklich aktenkundig gewesen, obwohl er bereits 2018 ein Album mit dem Titel Transitions veröffentlichte und mit PercussionFunctions im letzten Jahr sein eigenes Label gründete. Dass wir auf all das aufmerksam werden, ist nun seiner ersten Vinyl-Veröffentlichung zu verdanken. Hier ist die Handschrift von James Bangura schon deutlich eigener als auf Transitions. „Broken Mind” verbindet fliegende Juke Hi-Hats mit dezenten Dub Techno-Andeutungen, „Color of Rhythm” beherrscht die Disziplin des Weglassens meisterhaft, dubby kommt dann „Lucid Memory” daher und den Schlusspunkt dieser hervorragenden EP setzt „2129” mit seinem „Think”-Breakbeat. Ganz gleich wie quirlig das Rhythmusgerüst ist, irgendwie klingt James Bangura dabei immer Zen. Holger Klein
Psyk – Opal Lake (Non Series)
Der im für Techno ungewöhnlichen Fünf-Viertel-Takt angelegte Opener „Biting Nails” wird seinem Titel musikalisch gerecht – tatsächlich entwickelt das Stück eine beklemmende Atmosphäre, in der Nägelkauen nicht die abwegigste Reaktion wäre. Auch die nach etwa zwei Minuten einsetzende Fläche erlöst trotz ihrer Erhabenheit nicht gänzlich von diesem unterschwelligen Psychogrusel. Der folgende Titel „Opal Lake” baut auf einer ganz ähnlichen Struktur auf, auch hier kommt nach einer Weile eine Fläche für einige Takte zum rhythmischen Grundgerüst hinzu. Der Track aber ist in Dur gehalten, was ebenfalls wieder eine gelungene Vertonung des in diesem Fall positive Assoziationen weckenden Titels ergibt (oder eine adäquate Titelgebung nach Fertigstellung der Produktion!). Die beiden noch folgenden Tracks sind Groove-orientierter und verzichten auf exponierte Flächen, bleiben aber dennoch weit entfernt von stumpfem Looptechno. Das finale „Outline” hebt sich durch seine wieder in Dur gehaltenen Arpeggios über einem eher uneindeutigen Bassgegrummel ebenfalls stark von jeglicher Four-to-the-floor-Stangenware ab. Nix gegen guten Loop-Techno, übrigens! Mathias Schaffhäuser
Schacke – There’s Something Inside Me (Intrepid Skin)
Es ist vielleicht ein Zeichen der Zeit, dass dem Endorphin-Cocktail aus Eurodance, Trance und Techno „Kisloty People” letztes Jahr in vielen Rankings einer der vordersten Plätze eingeräumt wurde. Schließlich hatte Martin Schacke die Hymne im Sommer 2018 teilweise aus russischen Popsongs (u.a. von Akula, t.A.T.u., Virus) und viel Nostalgie für die frühen 2000er während einer Residency im St. Petersburger Kultclub Клуб zusammengesampled und letztes Jahr dann kurz nach der überraschenden Schließung des Berghain-inspirierten Etablissements als dessen Abgesang veröffentlicht. Auf der EP Kisloty Forever waren daneben noch drei weitere Tracks zu hören, die sowohl an Kopenhagen als neuen Club-Hotspot als auch die gegenwärtig immer weiter wachsende rebellische Techno-Szene Russlands erinnerten. Zurecht galt Schacke schnell vom Bodensee bis zum Ladogasee als der heißeste Scheiß in kleinen Schuppen wie großen Hallen. Schon Ende Januar schlug er auf der Artificial Intercourse-EP aber in eine etwas andere Kerbe, reduzierte die Trance-Vibes auf ein Minimum und ließ schlanken Industrial Techno für sich sprechen. Vielleicht auch etwas EBM.
Kaum vier Wochen später erscheint jetzt schon die zweite EP für 2020 unter phrasenhaftem Titel. There’s Something Inside Me kreuzt Schackes Liebe für Vocal-Loops („Role Modeling”) mit prägnant melodischen Buildups und einem schroffen bis säurehaltigen Sounddesign („Hard Feelings”), das sich erwartungsgemäß verflucht gut zum Abzappeln eignet. Ganz besonders in „Full Contraction” und „Forever In Total Negation” sind diese Melodien mal wieder so einfach, dass sie unmittelbar von der Fontanelle bis zur Sohle in schrägen Moves hängenbleiben. Zwischen sie streut Schacke exquisit modulierte Samples ein, die von einem fast schon berührbar velaren K-Laut über Cyber-FX bis zu Piston-Perkussionen reichen und sich wohl mittlerweile als die Signatur des Kopenhageners abzeichnen. So ganz gefunden hat er sie auf dieser EP zwar immer noch nicht, doch vielleicht war das auch nie der Plan. Für die nächste unverhofft geile Stoppelfeld-Fete in irgendeiner europäischen Provinz reicht das hier allemal. Die Frage bleibt trotzdem: Wann kommt da endlich ein Album? Nils Schlechtriemen
Surgeon – The Golden Sea (Ilian Tape)
Surgeon auf Ilian Tape, das ist auf den ersten Blick keine naheliegende Kombination. Denn trotz der offenkundigen UK-Einflüsse orientieren sich die Zenker Brothers bei der Kuration ihres Labels in ästhetischer Hinsicht gemeinhin lieber gen Bristol oder London, weniger aber in Richtung Birmingham. Die drei Tracks auf The Golden Sea brauchen allerdings nicht lange, um die Geistesverwandtschaft zwischen Anthony Child und dem Ilian-Sound herauszuarbeiten: Im Zentrum stehen komplex gebaute Grooves, die auf feinjustierte Unwucht statt auf die direkte Dancefloor-Konfrontation im Four-to-the-Floor-Format zielen. Das Titelstück setzt dräuende Pads gegen quietschige Synth-Töne, „Aqua Marina” flirrendes Modular-Gekreische gegen himmelschreiende Chords und „Hostages of the Deep” spielt Mills-inspiriertes Maschinenfiepsen gegen sprunghafte Alarmglocken-Sounds aus. Darunter allerdings in allen drei Fällen: eine rhythmische Komplexität, in der sich Hi-Hats und Kickdrum aneinanderschmiegen, als hätten sie alle Hoffnung verloren. Das ist tatsächlich very Ilian und macht The Golden Sea zu einem frühen Jahres-Highlight im Techno-Bereich. Kristoffer Cornils