Werden die Tage länger, wird die Musik finsterer. Kein Zufall, dass im Februar bereits alle ihre Neujahrsvorsätze versenkt haben, sich also guten Gewissens daran machen, ordentlich zu eskalieren und keine Gelegenheit auslassen, das übriggebliebene Weihnachtsgeld auf den Kopf zu hauen. Gründe dafür liefern Produzent*innen von Wien über Kopenhagen, Köln und Berlin, um über sonische Umwege in Paris und Vancouver zu landen – mit Techno aus dem Hochofen, Geister-Schlager im Partykeller und existentialistischem Teufelskrach, bei dem man sich freiwillig auf die Streckbank spannt. Christoph Benkeser mit dem Überblick zu den aktuellen Tape-Veröffentlichungen der internationalen Kassettenszene von Rosa Nebel, A.dixen, Especta Negra, DJ VLK, Too Soon Tapes, Sacred Lodge, Wolffriend, Kobermann, Khotin und Falle.
Rosa Nebel – 5 Years of Selected, Raw & Unreleased Material 2014-2019 (Quality Music)
Gebenedeit sei die Wut seines Lebens – Rosa Nebel lässt flüssiges Eisen durch seine Adern fließen. Der Hochofen fackelt ab, Funken sprühen, und während der Torpedowagen überschwappt, blickt man tief in den Schlot, wo Techno, Punk und Industrial ins Auge des Sauron blicken. Rosa Nebel, der seit über fünf Jahren die Wiener-Gürtel-Szene auf- und abtingelt, packt für Quality Music unveröffentlichte Banger und roh verfugte Ambient-Spielereien auf ein Tape. Denn wir wissen: Alles muss in Flammen stehen! Zur richtigen Zeit, am richtigen Ort sprengen Tracks wie „Bane of Humanity“ den Atombunker, verheizen seine Bruchstücke im Verzerrer und gießen den abgefuckten Rest in Formen, bei denen sich Electro-Punks wie Kaput Krauts und Das Flug die Nieten aus ihren Gürteln kauen. Nicht metaphorisch, sondern wortwörtlich! Bei dem übersteuerten Geballer und Krach und Rauschen – auf „Through Solid Objects“ mischt der Geist von Pierre Schaeffer heimlich LSD ins Kühlwasser – braucht man nach dem Abrissbirnen-Ende drei Wochen Ayurveda-Kur auf Gran Canaria.
A.dixen – Death Tapes Vol. 2 (ØEN Records)
Zweitausend Meter über der Erde schweben, auf Wolken tanzen, zurück auf die Erde stürzen – und alles neu machen. Der dänische Produzent Anders Dixen reist auf der zweiten Ausgabe seiner Trilogie Death Tapes zurück in ein früheres Leben, packt sich bei der Gelegenheit ein paar Platten von Future Sound Of London ein, crasht ins Schlafzimmer von Burial und schluckt Tranquilizer beim Fünf-Uhr-Tee mit Christoph de Babalon. Das Namedropping hat er sich praktischerweise auf seinen Exkursen in die intellektuellen Gefilde der Ambientwelt antrainiert. Schließlich machen das heute alle so, die statt der Mitgliedschaft im Modellbauverein an wohnzimmergroßen Synthesizer-Maschinen rumschrauben. Aber niemand baut damit größere Bettenburgen als A.dixen, der auf dem Kopenhagener ØEN Records mindestens ein weiteres Tape nachschießt. Mit dem Proto-Jungle, den er hier auf Streifzügen durch einsame Nadelwälder rausklopft, dürfen wir gespannt sein.
Especta Negra – Tales of Chaos (Instruments Of Discipline)
Mexikanischer Schamanismus, der Teufel höchstpersönlich und ein bisschen Nietzsche-Reclaiming. Die aus Mexiko City stammende Verónica Mota aka Espectra Negra verkocht in ihrer Interpretation von elektronischer Musik drei Liter Eigenblut, schmiert die Suppe über ihre Ledermaske und reißt nicht nur den allegorischen Verstärker auf. Sozialisiert in der Punk-Szene der mexikanischen Hauptstadt und über Chicago nach Berlin gekommen, grätscht Mota als queere POC seit 2005 in den patriarchal-chauvinistischen Noisezirkel – und lüftet den Mief der Vergangenheit, um sich nebenbei für reflexive Offenheit im kinky Underground auszusprechen. Auf Tales of Chaos, das auf dem Berliner Label Instruments Of Discipline die Riemen peitschen lässt, kreischen zersplitterte Drones parallel zu Gesängen, die aus den Untiefen der menschlichen Psyche emporgurgeln, bis sie schlecht verheilte Wunden aufreißen – und unbequeme Tatsachen offenlegen, die sich in die menschliche Psyche hineinbohren wie die übersteuerten Schreie auf „Bleeding Consciousness”. Hier spricht die Stimme der Rache. Und sie sucht euch alle heim!
DJ VLK – Ballermann Partykeller (Strategic Tape Reserve)
Auf Malle ist Winterpause. Im Bierkönig nix los, die Schinkenstraße leer – und niemand, der sich nach zwölf Bananen-Weizen die Seele aus dem Leib reihert, um später grölend die Deutschlandflagge über der Playa zu hissen. Wer also auf Suff im Schlagerpuff steht, hat gerade schlechte Karten – es sei denn, man lässt sich von DJ VLK in den müffelnden Ballermann Partykeller seines Labels Strategic Tape Reserve mitnehmen. Dort hat VLK, der eigentlich Eamon Hamill heißt, aus New Jersey kommt und passenderweise in der Karneval-Stadt Köln wohnt, die Discokugel angeworfen, um im Neonschein bunte Drinks aus drallen Schlagerklassikern zu mischen. Wer auf Balla Balla im Megapark hofft, bekommt zwar den Park – aber keine Leute. Der Geist von Andrea Berg huscht über die Bühne, ihre Stimme spukt zwischen ausgestorbener Großraumdisco, verstaubten Bierbänken und dem Geruch nach Kotze, der an die menschlichen Abgründe der Gesellschaft erinnert. Hamill zerschnipselt den Laser-Sound von Scooter, klebt Fetzen von Mickie Krause auf Keta dazwischen und schießt Maite Kelly gemeinsam mit Roland Kaiser auf einen Trip durch die Effektmaschine. Was dabei rauskommt sind bruchstückhafte Erinnerungen an die Abi-Reise 2003, verwaschene T-Shirts mit Saufsprüchen und die Gewissheit, dass es damals noch kein Facebook gab.
Various Artists – Music For Moonbathing (Too Soon Tapes)
Da soll noch jemand sagen, das Tape-Revival sei sowas von 2018 und damit over. Mit Too Soon Tapes lässt gerade ein neues Projekt aus Paris die Bänder rauschen. Irgendwo zwischen Synth-Pop und Spoken Word, Techno und Kammermusik versammelt die Space Control in der Badewanne um Labelchefin Manon Torres verschiedene Künstler*innen, um sie unter dem Vorwand Music For Moonbathing auf den Mond zu schießen und den Erdtrabanten als alten Sehnsuchtsort neu zu vertonen. Blöderweise hat man sich beim Sprit verkalkuliert, das Shuttle stürzt auf halbem Weg zurück auf die Erde und zerschellt in tausend Teile. Hätten die Menschen nach solchen Rückschlägen aufgegeben, würden wir heute bei Tchibo nicht unser Geld für geile 4-in-1-USB-Hubs rauswerfen. Also schnell den Schaden beheben und die Crew aus internationalen Newcomer*innen zusammensetzen. Und ab geht’s auf eine Reise, bei der Reymour schwerelose Chansons auspackt, das Berliner Duo FITH zwischen Glitches und Gitarren vom Astronaut*innenfutter nascht und Born Days das nächste Blade-Runner-Sequel vertont.
Sacred Lodge – Hijos Del Sol (OKVLT)
Kinder der Sonne, vereinigt euch. Strömt auf öffentliche Plätze, verehrt die Kraft des Lichts und basst mit Hilfe ihrer Energie alles weg, was euch den gottverdammten Weg versperrt. Sacred Lodge streift sich auf Hijos Del Sol die Azteken-Maske über, eilt auf den Montmartre und opfert dem Pariser Label OKVLT drei Lämmer – für Glück, Segen und Techno, der straight aus dem Reich der Sonne kommt, nach Silent Servant klingt und sich Vatican Shadow auf die Stirn tätowiert. Davor werden aber noch Geschäfte abgeschlossen. Mit dem Wummern der ersten Kickdrum beginnt das Ritual, das Getrommel schwillt an, bis Hi-Hats den Frontallappen zerschießen. Und während Beine über den Boden stampfen, züngeln aus dem Untergrund die Strobos. Matthieu Ruben, der als Coldgeist schon in Blackest-Ever-Black-Sphären abgetaucht ist, wirft acht China-Böller ins Feuer, vertreibt damit die bösen Geister und kürt sich selbst zum neuen Sonnengott.
Wolffriend – Computers (Get Together)
Get Together, ein junges Berliner Kollektiv, fläzt sich schon mal in die Hängematte. Über ihnen rascheln Palmenblätter, vor ihnen rauscht der Ozean. Und weit draußen am Horizont schnattern die Delfine im Seapunk-Modus. Genau so wollen wir sie in Erinnerung behalten, wenn uns Wolffriend, die Kollaboration zwischen Mischa Wolff von Abseits und Daniel Harrison aka Imaginary Friend auf ihrem Debüt-Tape Computers in den „Dolphin Kindergarten“ mitnehmen. In dieser Unterwasserwelt blubbert, gluckst und zischt es, dass Samples an der Wasseroberfläche vor lauter Spannung auseinanderreißen wie Luftblasen von Tauchern im Tiefenrausch. Und weil man die „Friedliche Welt“ deep down im Ozean ganz anders zu schätzen lernt, buchen wir beim Bademeister den Tauchkurs für Fortgeschrittene, merken aber, dass eine gediegene Stunde im Thermalbad viel gemütlicher ist, als zwischen Korallenriffen rumzuschnorcheln. Deshalb: Beats raus, Computers an. Wir tun uns jetzt was Gutes!
Kobermann – XVII (Doom Chakra Tapes Worldwide)
Irgendwann erwischt man sich dabei, wie der Kopf langsam nach oben und unten wippt, wenn Kobermann seine Maschinen Maschinen sein lässt und Sound produziert, der als elektronisches Äquivalent zum Krautrock von Can durchgeht. Halleluja, immer diese Vergleiche. Dabei muss man sich bloß die Frage stellen: Wie viel lässt sich aus einem Ton, einer Frequenz, einem zerschnipselten Klangfetzen rausholen und zwischen zwei ausgeweidete Kick Drums pressen, um die Lendenwirbelfraktion in maximale Schwingung zu versetzen? Mit XVII, das Johannes Piller als Kobermann für das Berliner Doom Chakra Tapes raushobelt, dürfte zumindest dieses klangliche Exempel statuiert sein. Also: „Prince of Kongi“ auf Anschlag stellen, den ein oder anderen Ofen anzünden, einfach mal aus dem Fenster starren, um die gottgleiche Sinnlosigkeit der Zeitverplemperung zu zelebrieren, und sich nebenbei Gedanken machen, ob es nicht langsam mal an der Zeit wäre… sich einen Hund zuzulegen.
Happy Trendy – For Trial Listening (Khotin Industries)
Neujahrs-Fund 2020: Happy Trendy, das längst in imaginierten Sonnenuntergängen verschwundene Alter Ego von Dylan Khotin-Foote, der als Khotin spätestens seit 2018 auf jede Sad-And-Depressed-Playliste gehört, die man sich jährlich zwischen Oktober und März vermehrt in die Nervenbahnen streamen sollte. Aus Gründen der Seelenreinigung. Und weil die blöde Tageslichtlampe auf Dauer zu viel Strom zieht. Probleme, die der aus Vancouver stammende Producer im kalten kanadischen Winter ziemlich sicher kennt. Aber: Khotin weiß, wo’s immer chillig ist – in Southern California. Dort cruist man im Cabrio die Küste entlang, bläst Vaporwave aus dem Autoradio und lebt den perfekten Traum. Im Traum. Aber darauf kommt’s nicht an. Khotin wischt auf For Trial Listening den Staub der Vergangenheit aus dem Tapedeck. Das Ding klingt mit den verhallten Lullaby-Songs im Ambient-Gewand wie ein Überbleibsel aus einer Zukunft, in der Zeit längst keine Rolle mehr spielt und Prokrastination als Weltgeist herumspukt. Wer sich und anderen Bock auf pastellfarbene Urlaubstage in Italien machen will, kauft dieses Tape besser gleich drei Mal!
Falle – Expectations (Cut Surface)
Über Wien ziehen dunkle Wolken auf, Fledermäuse beißen sich die Köpfe ab – und alle schreien unisono: Achtung, Falle! Das 2018 aus den Gefilden des Untoten auferstandene und im nihilistischen Grundton kurz Falle betitelte Post-Punk-Trio führt auf ihrem Debüt-Tape Expectations hinein in eine Welt, in der sich die Trendfarbe der Frühlingssaison nach 50 Shades Of Grey in einem Schwarz einpendelt, bei dem sich selbst lebensbejahende Eso-Krieger*innen die abgekokelten Räucherstäbchen durchs Herz rammen. Shiva war gestern, heute huldigen Tina Bauer (Terz Nervosa), Markus Gönitzer (Red Gaze) und Peter Lazarus der Finsternis und Leere, die der turbokapitalistische Albtraum in unseren Seelen hinterlässt. Und überhaupt: An was soll man denn noch glauben, wenn nicht an die beim immergeilen Label Cut Surface erschienene Backmischung aus Wire, The Fall und The Cure? Verbrennt keine Kreuze, verbrennt euch die Finger. Mit elektrifiziertem Post-Punk wie aus der Zeit, in der in London der Underground noch brutzelte.