Elf Tapes. Keines zu wenig. Während die Realität an den Grenzen ihrer Zumutbarkeit wandelt, schiebt man sich eine Kassette ins Deck und lauscht ausnahmsweise mal nicht dem Negative-Stream von Tagesschau und Tagesthemen. Ablenkung muss her, eine Aussicht sowieso. Dass das bisschen Mukke die Welt nicht zu einem besseren Ort machen wird, ist spätestens seit der neuen Platte vom Babba klar geworden. Wir probieren es trotzdem, Tapestry sammelt die besten Kassetten-Veröffentlichungen. Mit Geister-Pop, Spaghetti-Disco und einem Sauna-Aufguss.


Pech+Schwefel – Seven (Dystant Recordings)

In der Hölle brennen Pech und Schwefel. In Graz wackelt der Uhrturm, denn: Die Traumtänzer Leo Schatz und Franco Krenn marinieren den Modularbaukasten mit Kernöl. Schließlich kommt der Gerüstbau aus der Steiermark, gebellt wird trotzdem woanders. Als Pech+Schwefel sind die Düsterboys zuletzt auf Twice Infinity, dem Label des Neuberliners Specific Objects, reingegrätscht. Schlagrichtung: Peaktime-Abriss auf der Großbaustelle. Für die italienische Schwitzkammer Dystand Recordings kommt das erste Album – andere mussten schon für weniger im Fegefeuer schmoren als für dieses Tape. Deshalb hat man prophylaktisch den Beton angerührt und Einladungen zum Stampfen ausgeschickt. Wer am Ende des Abends noch Absätze unter den Füßen trägt, darf nächste Woche wiederkommen. Der Rest zieht sich das Tape rein, verhandelt Baller-Bums-und-Big-Room-Techno neu und holt zur Tool-Time den Hammer raus.

Alloy Sea – XOOMIN (Paralaxe Editions)

Mor Elian, israelische Producerin Berlin, hat ein Händchen für Pop zur Geisterstunde. Unter ihrem Nebenprojekt Alloy Sea brachte sie 2020 Petrichor raus – ein Tape, auf dem sie dem Dancefloor den Rücken zuwandte und an Synthesizer-Hüllkurven rumschraubte. Das Ergebnis: der Geruch von Regen auf Beton im Sommer. Nur als Sound. Mit XOOMIN veröffentlicht sie auf Paralaxe Editions die Nachfolger-Kassette. Die Synthesizer quengeln in der Klangpalette eines inneren Blumenpflückens. Es duftet nach dem ersten Frühlingstag – der Moment, in dem ein paar Optimistische schon mit kurzen Shorts flexen, während andere sich noch in ihrer North-Face-Puffer-Jackets verstecken. Diese Gefühls-Melange, ein geistiger Vanille-Frappuccino aus Farben, Formen und Gefühlen, schüttet man sich am besten über 50 Minuten bei der nächsten Session im Park rein.

CWPT Tape Series 02: Budino (CWPT)

Budino kommt aus Brescia und hat die Grandezza von Spaghetti Disco schon in der Wiege aufgesaugt. Ihre Eltern fanden sich im Typhoon Club, dort legte Beppe Loda auf. Der war zwar nie so erfolgreich wie Giorgio Moroder, drückte aber schon in den frühen 80ern den besseren Sound. Eins kam zum anderen, Budino auf die Welt und bald in Plattenläden, wühlend auf der Suche nach der einen italienischen Disco-Sause, die selbst im Heyday von Glanz und Gloria zu crazy war. Deshalb klingt ihr Sound heute wie eine Mischung aus Ecstasy und drei Limoncelli, die man sich mal easy-peasy an der Amalfiküste in die Hüften bastelt. Für Palms Trax’ CWPT lässt die Producerin, die sonst auf Berliner Cocktail-d’Amore-Partys auflegt, die Discokugel rotieren. Mit Loda, dem DJ-Haudegen aus den Good-Vibes-Only-Eighties, hat sie auch geplaudert. Ein Last-Minute-Urlaub von einem Tape!

Von diesem Tape ist leider kein Prelistening verfügbar.

r²π  – Abacus (Semantica)

Semantica kennen wir alle vom Fünf-Uhr-Tee. Die Schubladen schieben, die Musik fließt, der Beat wird zum Herzschrittmacher. Das Madrider Label ballert seit 15 Jahren Techno als Abstraktion. Soll heißen: Endlose Loops, Veränderung in der Veränderung, ein Trip für dauerblinkende Lichthupen auf der Überholspur. Für den neuen Tape-Release hat man das Producer-Quartett r²π aus Italien angeheuert. Vier Ragazzi, die am perfekten Loop schrauben. Wie sich das mit gelebter Arbeitsteilung ausgeht? Wurscht. Wer die letzten Abdulla-Rashim-Platten zernudelt hat, über Mike Parker kein böses Wort verliert und jedes Release von Inigo Kennedy blind kauft, überschlägt kurz das Haushaltsbudget am Rechenschieber – und holt sich diese Kassette.

Jeremy Young – August Tape Sketches (Meakusma)

Jeremy Young ist ein Tape-Fundamentalist. Die Spulen hat er schon für Labels wie Phinery Tapes oder Moving Furniture aufgezogen, echte Adressen in einer Welt aus Loops und Lendenschurz-Ambient. Für Meakusma aus Belgien wabert das Tapedeck mit August Tape Sketches – neun Tracks, für die man sich auf dem vierteljährlichen Kongress für Nostalgie und Defätismus die Schläfen massiert. Young greift in die Klampfe, lässt Bänder wie Radios rauschen, loopt sich in den In-Between-Zustand, in den man fällt, wenn man im Rausch aus Versehen drei Packungen NeoCitran runterschüttet. Der Puls bewegt sich im ungesunden Bereich. Die Augen fallen zu. Irgendwann schläft man ein, um zwei Stunden später aus den ärgsten Fieberträumen hochzujagen – verschwitzt, das Bett ein Boot, geil!

Demdike Stare – The Call (DDS)

Demdike Stare haben wieder in Mixtape fabriziert. The Call ist wie der Halbbruder von Drum Machines, das letztes Jahr erschien und eine Stunde lang das Privatarchiv der beiden Briten abstaubte. The Call biegt aber nicht ins miefige Neo-Noir des Technokellers ab, sondern spechtelt verstohlen auf die späten Neunziger, wo viele bunte Smarties die Welt noch ein bisschen bunter gemacht haben. Anders gesagt: Demdike Stare pumpen Garage House, rutschen auf Timbalands Goldkette aus und wackeln mit Leuchtbändern zu UK Rave. Eine Stunde lang fühlt man sich wie Jip in Human Traffic. Die Kacke kickt rein. Der Comedown kommt so sicher wie die Montags-Depression. Am Ende hängt man am Dienstag immer noch auf der After rum und schwört der versammelten Crew, die Finger von dem Zeug zu lassen. Bis zum nächsten Wochenende. Eh klar!

Von diesem Tape ist leider kein Prelistening verfügbar. 

Beige – Amen! Vol.1 (T4T LUV NRG)

Der heilige Geist hat Sendepause. DeeJay Beige klemmt sich hinter den Altar und lädt zur Messe. Wir kennen die Geschichte: Weihrauch schwenken, Lieder trällern – am Ende naschen die Mutigen von irgendeinem Leib, während die Dreisten den Tabernakel plündern. Gut, dass Beige, DJ aus Detroit, für T4T LUV NRG die Liturgie voraufgezeichnet hat. Amen Vol.1, ein einstündiger Mix auf dem Label von Octo Octa und Eris Drew, schiebt sich ohnehin wie Yeezus auf den Berg von Golgota. Dafür muss man nicht mal an Chemie glauben. Die Predigt zwischen Amen-Breaks und Gospel-Grooves macht auch so klar: Hände falten, Goschen halten! Und immer schön weiter believen, dass elektronische Musik die Welt zu einem besseren Ort macht. Die Macht sei mit dir und mit deinem Geiste, du wunderbares Mixtape!

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JacqNoise, Peter Kirn – Arch Live Vol.1 (arch)

Arch, so ein Glück! Das in Berlin veranstaltende Label mag: „Komplexe Melodien, hypnotisierende Rhythmen, unregelmäßige Stimmungen, Sequenzer-Patterns, Sub-Bass, Delay, gesprochene Worte und Filmsamples.” Praktischerweise weiß man dadurch im Vorhinein, ob der Vibe passt. Kein Allerwelts-Abriss, sondern das Austarieren der Möglichkeiten mit den Maschinen der Machatschecks und Machatscheckerinnen in der Ambientunterhaltung soll im Fokus stehen. Wer schon mal bei einem Event im ://about:blank mitgerauscht hat, weiß Bescheid. Für die fünfte Tape-Auskopplung landen die Sets der Holländerin in Berlin, JacqNoise, und Behringer-Schreck wie Netzhemd-HÖRist Peter Kirn auf den Bändern. Der Schmäh: Wer am lauen Oktoberabend ihrer Live-Sets nicht dabei war oder vom Gutdünken eines Soulseekers abhängig sein will, muss sich die eineinhalbstündige Reise auf Kassette checken. Oldschool!

Gent1e $oul – Steam Sessions (Fast Castle)

Saunieren statt studieren – mit den Steam Sessions, bei der uns eine Gent1e $oul bei 95 Grad im Schatten den Sliwowitz über die Kohlen gießt. Während man die Sünden des letzten Wochenendes rausschwitzt und über ein anderes Leben nachdenkt, plätschert das Berliner Label Fast Castle mit Sounds, die in zwei New-Age-Ratgebern gleichzeitig blättern. Natürlich nicht, ohne sich davor den Downbeat-Bumms in der Infrarotkabine um die Hüften zu hängen. Irgendwo zwischen Future Sounds of London auf Valium und Khotin nach drei Bechern Coca-Cola, Fanta, Lean haut man sich nach der Ausdünsterei zum Blubbern in die Eistonne, später in den Rausch-und-Regenwald-Ruhebereich. Ehe man dort friedvoll einschlummert, schnuppert man an Lavendelkerzlein und nippt an alkoholfreien Cocktails. So ein Life kann echt steamy sein!

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Cosmic Cars – Original Feelings (Doom Chakra Tapes)

Richard von der Schulenburg legte im Golden Pudel auf, da haben jene Leute, die heute zu seinen Sets feiern, noch in die Mehrwegwindel geschissen. Außerdem konnte sich die Bielefelder Quatschkanone schon zu Beginn des neuen Millenniums sicher sein, dass er für L’Age D’Or das schönste Liebeslied des Jahrhunderts, ja, des Jahrtausends geschrieben hat. Der Mann hat einfach ein Ohr für geile Melodien. Dass er die Sache mit dem Pop irgendwann aufgab und mit Popsch und Pseudonym zunehmend lieber über die Tanzfläche rutschte, traf sich trefflich. Mittlerweile humpelt er mit Drum-Computer über kanadische Grenzen und träumt in der Nacht von Mandarinen. Auf dem immergeilen Doom Chakra erschien 2018 sein Debüt. Damals schnatterte die 303, mittlerweile sind die Feelings ziemlich original – unter seinem Alias Cosmic Cars zeitlupen sich Synthesizer in der Sicherheit ihrer Schwerelosigkeit. Allein der Opener geht als Ambient-Electronica-Hymne des Jahres durch. Irgendwann gesellen sich Beats aus der Tiefseetauchstation dazu. Gerald Donald hätte seine helle Freude daran!

more eaze – oneiric (OOH Sounds)

Mari Maurice hat den musikalischen Output eines TikTok-süchtigen Influencers, dem man den Ritalin-Vorrat geklaut hat. Seit 2020 hat die Producerin als more eaze auf Orange Milk Records veröffentlicht, Tapes bei Mondoj, Full Spectrum und Lillerne abgespult und immer wieder Field Recordings mit der Emo-Ambientikerin Claire Rousay ausgetauscht. Auf OOH sounds aus Florenz erscheint nun eine Blade-Runner-Lavalampe von Kassette – halb Traum, halb Fantasie. Immer im Dazwischen, einer Welt, in der böse Engerln an Harfen zupfen, heimlich an der Luftpolsterfolie rumrascheln und den Fernseher im Nebenzimmer aufdrehen, um nicht ganz so allein zu sein. Wer wissen will, welches Tennis in der Champions League der Field Recorings gespielt wird, muss more eaze kennen. Und dieses Tape kaufen.

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