Lawrence & Carsten Jost 2019. Foto: Rob Kulisek.
Kein Technolabel hat die hiesige Szene in den 2000ern so geprägt wie Dial aus Hamburg. Die Clique um Carsten Jost (David Lieske) und Lawrence (Peter Kersten) brach mit der Euphorie der Neunziger und entwickelte einen minimalistischen, melancholischen Sound. Die Platten von Pantha Du Prince, Efdemin und den Labelmachern brachten eine neue, verhaltenere und differenziertere Gefühlswelt in die Clubmusik. Genauso wichtig und neuartig waren die außermusikalischen Verbindungen, die das Label mit seinen schwarzweißen Covern herstellte.
Antifaschismus und linke Politik sind ebenso ein unverzichtbarer Teil des Dial-Kosmos’ wie bildende Kunst und Mode. 2020 wird Dial 20. Zu dieser Gelegenheit besuchten David Lieske & Peter „Pete” Kersten die GROOVE-Redaktion. Leonard Zipper und Alexis Waltz sprachen mit ihnen über das Milieu im Hamburg in den späten 1990ern, aus dem Dial entstanden ist, über Lieskes Zeit als Galerist in New York und über die radikal nichtkommerzielle Ausrichtung des Labels.
In welchem Moment ist Dial gegründet worden? Gab es einen solchen Moment überhaupt? Oder war das Label einfach irgendwann da?
Pete: Ich glaube, es gab so einen Moment. Aber ich habe jetzt eher nur so eine zusammenhängende Zeit in Erinnerung.
David: Ich habe nur Bilder in Erinnerung. Da ist deine Musikecke in St. Georg – und dieser Kurzweil-Synthesizer von dir. Und wie du mir die Musik vorspielst, die du dort gemacht hast.
Pete: Und deine Flyer und unsere Party.
David: Ja, genau. Dass Dial zum ersten Mal auftauchte, das war im Rahmen einer Drum’n’Bass-Party im Molotow, die einmal im Monat stattfand. Dafür habe ich die Flyer entworfen. Damals fanden die Partys noch unter dem Namen Dial 666 statt, weil ich so ein Fan von Crossfade Entertainment [Label von Christoph De Babalon & Paul Snowden, Anm. d. Red.] war – und von den Plakaten von Paul Snowden. Der hat auch immer seine Flyer unterschrieben. Ich glaube, sein Name war Crucial. Und ich dachte mir, ich muss mir auch so etwas ausdenken. Aber wann wir uns jetzt genau entschieden haben, dass wir eine Platte rausbringen, das weiß ich nicht mehr so genau.
Pete: Das kam glaube ich, als du bei Ladomat [Hamburger House Ableger des Indie-Labels L`Age d`Or, Anm. d. Red.] anfingst und gesehen hast, wie einfach das ist. Zu der Zeit kannten wir auch schon viele Leute, die ihre eigene Musik rausgebracht haben – Tobin zum Beispiel; das war die Band von Efdemin, Pantha du Prince und Alexander Polzin.
David: Die haben auch ein black label rausgebracht; so würde man das, glaube ich, heute nennen. So ohne alles, ganz cool. Und dann gab es halt den Kompakt-Vertrieb. Die kannten wir schon ein bisschen von Ladomat. Und irgendwie waren dann auch alle sofort bei Kompakt. Nach Tobin gab es Parfum. Das war ein anderes Label, ein 7″-Label von unseren Pudel-Kumpels, eher so von der Kunstfraktion. Und wir dachten uns dann, wenn das alle machen, können wir das auch. Ich weiß noch, als die erste Platte fast fertig gewesen ist, da war ich in Österreich bei meinen Großeltern im Urlaub. Pete und ich mussten dennoch regelmäßig sprechen. Er hat mir dann sogar die Grafik gefaxt. Ich glaube, er hat auch in letzter Minute noch den Titel seines Stücks geändert. Das war aufregend.
Wie habt ihr euch überhaupt kennengelernt?
Pete: Im Rote Flora-Umfeld.
David: Genau, ich habe ihn das erste Mal bei einer High Rollers-Party gesehen, das war noch Drum’n’Bass. Die hast du auch mitinitiiert.
Pete: Mit Aleksandra [Skwarc, Anm. d. Red.], mit der ich auch später im Pudel aufgelegt habe. Die hat vor den Pudel-Zeiten einen Kellerclub in der Roten Flora gemacht.
David: Da war ich nämlich noch zu klein, um überhaupt aufzulegen. Da durfte ich nur Strobo und Nebel bedienen – das war mein Job.
Und du warst schon DJ, Pete?
David: Ja, Pete war schon DJ.
Du hast mit Drum’n’Bass angefangen aufzulegen?
Pete: Ne, ich bin House-Typ der ersten Stunde. Ich bin ja damals auch ins Front [Hamburger House-Club der ersten Stunde, Anm. d. Red.] gegangen. Da habe ich das kennengelernt. Und das ist bis heute drin geblieben – und Techno natürlich auch. Das mischte sich dann so. Der Vibe war aber schon sehr House-orientiert.
David: Wir hatten so einen Aha-Moment, das weiß ich noch. Pete hatte nämlich eine legendäre Veranstaltung, die einmal im Jahr stattfand. Das war so ein musikalisches Picknick, in einem öffentlichen Park, wo dann gegrillt und Musik aufgelegt wurde. Du hast mich eingeladen, ein paar Platten aufzulegen, weil wir zu der Zeit an einem ähnlichen Ort gearbeitet haben. Und dann kamst du so vorbei und meintest: „Ganz geiler Sound“. Da haben wir dann das erste Mal gemeinsam aufgelegt.
Pete: Genau, dann kam auch die Polizei und meinte nur: „Wenn ihr alles wieder aufräumt, könnt ihr weitermachen.“
Aber was war das für ein Aha-Moment? Du Pete hattest doch bereits die ganzen 90er miterlebt. Techno und House waren alles andere als neu.
Pete: Zu der Zeit gab es ja schon einen sehr massiven Input von neuer Musik.
Aber das war ja auch der Moment, in dem man das Gefühl hatte, die 90er sind vorbei, gerade in Berlin. Da herrschte Katerstimmung.
David: Ich war zu der Zeit 16 oder 17 – ich habe davon gar nichts mitbekommen. Für mich war das alles aufregend und neu. Mit dem Aha-Moment ist die persönliche Connection gemeint, die sich in diesem Moment musikalisch darstellte. Mit einem b2b ist schließlich auch ein unglaubliches Risiko verbunden. Dabei lernt man, ob man nicht nur ein musikalisches Verständnis teilt, sondern auch mit der anderen Person umgehen kann. Ich finde das ist ein extrem intimer Moment. Damals ergab sich wirklich eine Freundschaft fürs Leben. Für mich war das ein magic moment. Und auch das erste Mal, dass ich überhaupt öffentlich Schallplatten aufgelegt habe, wenn man das so nennen kann.
Pete: Ich erinnere mich daran auch, aber für mich ist eher der Zeitraum relevant. Dass man dann auch anfing, gemeinsam abzuhängen.
“Dial hatte familiären Charakter. Vielleicht wurde das manchmal auch als hermetisch wahrgenommen. Aber das liegt darin begründet, dass wir gar nicht anders können.”
Carsten Jost
Was waren das denn für Platten, die wichtig waren bei eurem gemeinsamen Auflegen?
Pete: Also Drum’n’Bass war sicherlich eine gemeinsame Schnittstelle. Alles, was aus Bristol kam.
David: Bei mir wurde es etwas dunkler und härter und bei dir etwas klappriger. Ich kann mich nur an diese DJ Suv-Platten erinnern, das ist der Theo Parrish des Drum’n’Bass’.
Pete: Im Pudel habe ich ja jahrelang mit Aleksandra, DJ Bonnie und David aufgelegt. Und da konnte man eben auch verschiedene Stilrichtungen austesten. Dabei fühlten wir eine lokale Verbindung, obwohl es vom Sound her zum Teil kaum Gemeinsamkeiten gab. Ich hatte auch Schlüsselerlebnisse mit DJs. Neulich habe ich ein Set von Uchi in Lissabon gehört. Ihr Mixing hat sich dabei gar nicht so sehr auf Geschwindigkeiten versteift. Das war total perfekt. Ich weiß gar nicht, wie sie das gemacht hat.
Das hat man jetzt häufig, dass die Leute ganz unterschiedliche Sachen spielen, aber damals war das etwas Besonderes. Etwas, das den Pudel ausmachte, das es in Berlin überhaupt nicht gab. Ich hatte das Gefühl, dass ihr stets eine Außenperspektive gegenüber der Technoszene eingenommen habt. Ihr wolltet nie bloß Raver sein.
David: Ja, der Pudelclub hat dafür die totale Vorlage geliefert. Wir haben ja zum Beispiel quasi den zweiten Plattenspieler im Pudel etabliert. Den gab es vorher gar nicht. Da wurde so viel unterschiedliche Musik gespielt – und darum ging es uns auch. Das war damals nahezu ein Skandal, das wir dort durchgehend aufgelegt haben. Das stellte einen Bruch mit der Tradition dar.
Wurde diese Kritik auch geäußert?
David: Es gab schon ein paar Menschen, die erstmal schlucken mussten. Das stellte auch einen Generationswechsel dar. Aber dennoch hat der Spirit erkennbar nachgewirkt.
Pete: Auch für unser Label. Es gibt nur wenige Labels, die so viele unterschiedliche Genres bedienen – von suizidaler Gitarrenmusik bis hin zu Techno und House.
Natürlich war es toll, dass ihr so viele verschiedene Dinge zusammenbringen und so verbinden konntet, dass etwas Ganzes daraus entstanden ist.
Pete: Das ist mir auch immer noch ein Rätsel.
David: Pete hat glaube ich von Anfang an dagegen angekämpft und gesagt: „Es gibt doch gar kein Dial-Sound.“ Ich bin mir da auch nicht so sicher.
In der Frühzeit dominierte ein Minimal-Sound, der etwas emotionales, melancholisches hat.
David: Das hat auch was mit den Leuten zu tun, mit denen wir zusammengearbeitet haben. Wir waren nie viele. Das ist doch klar, dass es da enge Verbindungen gibt.
Da gibt es einige Labels, bei denen das so ist. Ich finde eher eine bestimmte Distanz bezeichnend. Ihr wolltet nie ganz und gar Teil der Clubszene sein. Andere Interessen waren genauso wichtig.
David: Dabei haben einen großen Respekt vor Leuten, die so ganz klar umrissen Dinge machen.
Wie hat sich das für euch herauskristallisiert, dass das nicht euer Ziel ist? Ihr hättet es ja versuchen können.
David: Wir haben das wirklich nie besprochen. Das hat sich für uns einfach ergeben.
Pete: Das hat natürlich auch viel mit Persönlichkeit und Psyche zu tun.
David: Wir haben nie bewusst überlegt: Was wollen wir darstellen? Wir haben das immer locker gesehen und sind so durchgeschlittert. Weil wir da eben nicht so eine harte Sache entworfen haben.
Kam vielleicht deshalb das meiste auch aus eurem Umfeld?
David: Ja, ausschließlich, das hatte familiären Charakter. Vielleicht wurde das manchmal auch als hermetisch wahrgenommen. Aber das liegt darin begründet, dass wir gar nicht anders können.
Macht es das denn einfacher, wenn man mit Freunden arbeitet? Man muss sich schließlich auch gegenseitig kritisieren können.
David: Sowohl als auch. Je näher man sich ist, desto mehr Gewicht hat natürlich alles, was in der Interaktion passiert. Deshalb geht das in beide Richtungen. Manchmal ist es die totale Euphorie. Gleichzeitig kann einem die kleinste Kritik den Teppich unter den Füßen wegreißen.
Pete: Außerdem ist es nicht so leicht zu koordinieren. Wir haben keinen Release-Plan, dass zum Beispiel pro Jahr zwei Alben und drei Singles rauskommen müssen. Was kommt, kommt – und manchmal kommt eben viel, oftmals aber auch nichts. Deshalb hatten wir das häufig, dass es in einem Jahr eine Maxi-Single gab und im Jahr darauf drei Alben.
David: Ich finde es schwierig, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die man nicht kennt, da die häufig eine gewisse Erwartungshaltung mitbringen. Und ich habe das Gefühl, wir können das alles gar nicht erfüllen. Wir sind ja keine richtige Plattenfirma. Unsere Freunde kennen uns ja gut und wissen, wie wir arbeiten. Denen brauchen wir das gar nicht erst zu erklären. Neue Leute sind dann häufig auch verwirrt, wenn wir keinen Marketing-Plan präsentieren können. Und wenn Leute danach fragen, kriege ich häufig eine Panikattacke, sodass ich sofort alle Mails löschen muss. Wir haben uns wirklich nie überlegt, daraus ein Business zu machen – von Anfang an.
„Neue Künstler sind häufig auch verwirrt, wenn wir keinen Marketing-Plan präsentieren können. Und wenn Leute danach fragen, kriege ich häufig eine Panikattacke, sodass ich sofort alle Mails löschen muss.”
Carsten Jost
Euren Künstlern lasst ihr auch viele Freiheiten.
David: Absolut, also Phillip [Sollmann, Efdemin, Anm. d. Red.] ist ein alter Freund, er hat das mal super auf den Punkt gebracht: Er hat gesagt, dass er Dial eher als eine Plattform begreift, auf die unterschiedliche Menschen Zugriff haben, die von uns beiden unterstützt wird. Aber es ist auch abhängig davon, was sie damit wollen. Und als Henrik [Weber, Pantha Du Prince, Anm. d. Red.] dann auch wirklich ein Star werden wollte, hat er das knallhart durchgezogen, diese Platte wirklich überall zu platzieren. Und das war auch immer unser Wunsch, dass jede Person darüber entscheiden kann, wo sie hinwill: Also ich möchte beispielsweise ein Superstar sein – oder: Ich möchte, dass Menschen meine Musik selbst entdecken.
Wie verhält es sich mit der bildlichen Ebene, also dem Design und der Grafik? Wie geht ihr damit um?
David: Wir arbeiten seit über 20 Jahren mit bildenden Künstlern zusammen. Besonders auf den Maxis haben wir es relativ bewusst so gehandhabt, dass wir uns von der Idee einer eigenen Gestaltung distanziert und einzelne Kunstwerke auf Covern reproduziert haben, um das zu trennen. Dass die Künstler nicht in die Rolle gebracht werden, wo sie Deko für Techno machen. Dass deutlich wird, dass das zwei verschiedene Sachen sind. Wo klar ist, dass die Cover eine andere Vervielfältigungsebene von diesem Kunstwerk darstellen als beispielsweise Kunstkataloge. Das hat später auch zu unserem Galerie-Projekt [Mathew, zunächst in Berlin, dann auch in New York, Anm. d. Red.] geführt. Das war mehr oder weniger die Verräumlichung unser Cover-Politik. Das ist bei den Alben anders, da bringen die Musiker*innen natürlich auch ihre eigenen Ideen mit.
Pete: Da kommen auch viele Ideen vom Grafiker Till Sperrle.
David: Mit ihm arbeiten wir seit über 20 Jahren zusammenarbeiten. Es gibt wirklich keine Platte, bei der er nicht mitgewirkt hat.
Pete: Fast keine. Er ist natürlich auch jemand, der viele Künstler*innen kennt und auch andere Projekt gemacht hat – etwa für Pantha.
Gerade am Anfang war das ja eine überraschende Anmutung für ein Techno- und House-Label. Dass man eine Platten gesehen hat und überrascht war, dass das jetzt Techno ist. Man kannte das eher von Bands wie Sonic Youth. Im Dance-Kontext wurde oft eher naiv und unreflektiert kommuniziert. Das habt ihr bewusst abgeschnitten.
David: Das stimmt schon. Wir hatten natürlich einen ganz anderen Look. Das hat auch korrespondiert mit Dingen, die wir damals gut fanden, die auch in der Mode stattgefunden haben, beispielsweise bei Martin Margiela oder Jil Sander.
Pete: Oder Paul Snowden, den hattest du bereits angesprochen.
David: Ganz stark haben uns unsere unvergessenen Trips zur Jil Sanders Fabrik in Ellerau [ein Dorf etwa 25 km von Hamburg entfernt, d.Red.] beeinflusst.
Pete: Die hatten Clarks Desert Boots für 10 Mark.
David: Von Hamburg aus war man mit der S-Bahn schnell bei der Jil Sanders Fabrik auf dem Land. Da war gar nichts, und dann tauchte plötzlich zwischen den Bäumen ein riesiges Jil Sander-Square auf, die Fabrik. Da konnte man wirklich unglaublich günstig um 90% reduzierte Ware kaufen. So günstig, dass man dachte, man müsste armen Familien davon erzählen, dass man die hochwertigste und preiswerteste Kleidung bei Jil Sander kaufen kann. Das war billiger als H&M. Und wenn man sich ganz geschickt anstellte, konnte man die Sachen sogar weiterverkaufen. Damals gab es schließlich schon eBay.
Und wie begreifst du das Label-Machen als Bildender Künstler, Carsten? Die Platten sind ja auch Werke. Und was für eine Bedeutung hat das Geschäftliche?
David: Ich verstehe mich nicht als Bildender Künstler. Und eine Business-Ebene gibt es bei unserem Label gar nicht.
Pete: Die gibt es schon.
David: Natürlich, wir haben einen Vertrieb. Früher hatten wir ja auch unseren vollständigen Produktionsprozess an unseren Vertrieb delegiert, einfach aus dem Grund, weil wir das unglaublich schlecht hinbekommen haben.
Pete: Das ist auch nicht so unser Ding.
David: Das war auch nie unser Interesse. Unser Vertrieb hat dann halt immer etwas mehr Geld abgekommen. Das war ökonomisch natürlich schlecht für uns. Aber für uns war das die bessere Lösung, weil wir sowieso nie gedacht haben, dass wir damit viel Geld verdienen. Unser primäres Interesse waren die Veröffentlichungen.
Wie gestaltete sich eure Zusammenarbeit mit den Künstlern? Habt ihr gemeinsam entscheiden, welche Stücke veröffentlicht werden?
David: Das war super individuell. Es gibt natürlich Künstler, die ein Konzeptalbum abliefern, wo alles durchdacht ist. Und dann gibt es Menschen, die haben einen Pool von 20 Tracks und können sich alles vorstellen. Und Pete ist wirklich unser Compilation-Schmiedemeister. Er kann sehr gut selektieren, wenn es einen Pool von Sachen gibt.
Pete: Allerdings mache ich immer nur Vorschläge, am Ende entscheiden die Künstler.
David: Die Künstler haben das letzte Wort über alles.
„Es ist ganz klar, dass die Musik immer den Künstlern gehört. Wir könnten Dial niemals verkaufen; denn uns gehört im Grunde genommen gar nichts.”
Carsten Jost
Pete: Es ist natürlich auch nicht so, dass ich jedes Stück, das rauskam, toll finde. Selbst von mir finde ich einige Stücke richtig unangenehm. Manchmal habe ich mir Nachhinein gewünscht, dass ich mit der Veröffentlichung mancher Tracks noch länger gewartet hätte, besonders bei den Stücken aus der Anfangszeit. Aber das sind dann oft auch die Stücke, die anderen wiederum besonders gefallen, weil sie ein bisschen naiver oder realer klingen.
David: Erst einmal ist Vertrauen grundsätzlich total wichtig. Das bedeutet auch, dass man Sachen von Menschen, denen man grundsätzlich vertraut, erst mal annehmen muss – auch wenn man sie im ersten Moment selber nicht versteht. Dann ist das eigentlich immer erstmal was Gutes. Das bedeutet, das da eben eine Form von Erweiterung stattfindet, zu der man aufholen muss. Das dauert natürlich manchmal eine Zeit. Es kann sich natürlich auch als Quatsch herausstellen. Das ist notwendig, damit sich Sachen überhaupt weiterentwickeln können.
Das erklärt, eure Offenheit Neuem gegenüber. Aber wie habt ihr es geschafft, bei Dial die Qualität der Releases durchgängig hoch zu halten und nie in die Tech-House-Standards der 2000er zu verfallen?
David: Wir stellen ja schon fast einen Extremfall dar, weil wir noch nicht mal diese Lenkautorität mögen. Weil wir gar nicht so drauf abfahren, dass wir die Leute sind, die den Hammer runterhauen. Das triggert uns einfach nicht. Wir sind nicht die Typen, die gerne das letzte Urteil sprechen.
Pete: Das ist interessant. Das mag der Schlüssel dafür sein, dass es uns schon solange gibt. Das wir wirklich gar nicht so ein Konzept durchgezogen haben. Manche Künstler*innen sind ja auch zu anderen Labels gegangen. Ich habe ja auch auf anderen Labels veröffentlicht.
David: Was aber auch total ok ist. Das liegt eben auch an dieser Logik, dass wir nicht um Künstler*innen kämpfen oder sie an uns binden, weil wir nicht die Fantasie haben, dass uns Menschen gehören. Uns gehört ja auch die Musik nicht. Also wir haben zwar keine Verträge in dem Sinn, aber es ist so ganz klar, zwischen allen, dass die Musik immer den Künstlern gehört. Wir könnten Dial niemals verkaufen; denn uns gehört im Grunde genommen gar nichts. Wir sind eigentlich nur die Leute, die so ein bisschen geholfen haben, dass diese Platten rauskommen.
Siehst du das auch so, Pete?
Pete: Ich glaube, meine Meinung dazu ist einfach gar nicht so wichtig. Aber wir sind nicht untätig. Gerade machen wir zum Beispiel eine ganze Menge.
David: Ich finde, es macht immer nur Spaß, wenn es allen sowieso Spaß macht. Deswegen bringen Verträge auch überhaupt nichts. Stell dir mal vor, wir hätten einen Vertrag und du müsstest jetzt noch drei Platten für mich machen, aber du hasst mich wie die Pest und ich würde dich jeden Tag anrufen.
Pete: Das ist wiederum selten: Hass.
Verträge im Musikgeschäft waren nur bis in die 1990er Thema. Ihr seid ein Label aus einer Zeit, in der die ganze Label-Welt mehr oder weniger gestorben ist. Musik wurde immer weniger eine Ware, mit der man Geld verdienen konnte. Ihr seid ein post-kommerzielles Label.
David: Das ist ein Geschenk. Ich finde, Platten sind einfach wahnsinnig gute Geschenke, die man den Leuten einfach so in die Hand drücken kann. Deswegen sind da ja auch so tolle Kunstwerke drauf, die man selber nie besitzen könnte, die man dann aber in so einer Meta-Form besitzt. Das finde ich fantastisch. Das geht nur mit diesem Format. Das geht mit Files nicht.
Ich verstehe die Beziehung zwischen euch beiden, aber was habt ihr mit Pantha du Prince oder Efdemin geteilt? Was haben die darunter verstanden, was auf Dial und nicht woanders stattfinden kann?
Pete: Der Klüngel oder das Familiäre waren natürlich auch durch unsere Nachbarschaft gegeben – durch den Reis-Plattenladen etwa. Später sind dann ja nach und nach viele nach Berlin gegangen. In den ersten Jahren ist alles noch in irgendwelchen Küchendiskussion entstanden. Das hat ja David vorher schon angedeutet. Dass die Künstler*innen oder auch die Cover-Artists nicht so stark ausdiskutiert wurden. Sondern es gab tatsächlich immer gute Ideen, die man geteilt hat, die dann zu Platten wurden.
David: Efdemin hat ja in den ersten Jahren sehr wenig gemacht, nur so einen Track in zwei Jahren. Die Alben kamen erst später. Der kam dann vorbei und hat ein paar Loops vorgestellt. Den musste man wirklich überreden, Musik aufzunehmen und öffentlich zu machen, weil seine Produktionen super waren. Wir haben immer gehofft und rumgenervt, dass er etwas fertig macht, damit wir es dann rausbringen konnten. Man musste immer Überzeugungsarbeit leisten.
Ihr wart alle immer ziemlich unterschiedlich im Hinblick auf euren Output. Du Carsten hast ja kontinuierlich relativ wenig gemacht.
David: Pete hat am meisten gemacht.
Pete: Aber auch sehr viel Schrott.
In den 90er-Jahren wurde allgemein ja unglaublich viel produziert. Es gibt Leute, die haben in drei Jahren 100 Maxis produziert. Später hat man sich ja eher verknappt. Aber du Pete hast einen stetig einen hohen Output gehabt, besonders an Alben.
Pete: Dafür suchte ich mir sogar ein zweites Synonym, um dem gerecht zu werden.
„Man kann den ganzen Tag vor dem Trump Tower stehen und rumschreien, aber das interessiert niemanden. Da wird sich nur das Klofenster schließen.”
Carsten Jost
Bei Techno-Alben hat man ja häufig das Gefühl, dass es sich dann doch nur um eine Ansammlung von Tracks handelt. Du konntest allerdings deinen Alben so ein Gewicht geben, dass sie auf die längere Dauer funktionieren.
David: Ich denke deswegen auch immer, dass Dial ein Album-Label ist.
Pete: Das sind so Leute wie XDB, den wir auch schon total lange kennen und gefragt haben, ob er sich vorstellen könnte, ein Album zu machen. XDB hat viele vorzeigbare Tracks, Remixe und Maxis produziert – nur bis dato kein Album.
Insbesondere von DJ Richard hätte ich nach seinen ersten Maxis nie ein Album erwartet, wie es bei euch rausgekommen ist. Ihr holt eine Dimension aus den Künstler*innen heraus, die nicht antizipierbar ist.
David: Und wir lassen die Künstler*innen dabei relativ in Ruhe. Etwa sitzen wir nie mit denen im Studio.
DJ Richard kommt nicht aus eurem Umfeld.
David: Doch, der ist in unser Umfeld reingeschlittert, wir kennen uns mittlerweile auch schon seit über 10 Jahren.
Was hat sich denn für euch verändert, als ihr aus Hamburg weggezogen seid? Hatte das auch einen Einfluss auf das Label?
David: Am Anfang nicht, später schon.
Pete: Dadurch haben wir uns noch weiter geöffnet. Ich weiß nicht, ob ihr Queens kennt, das ist eine meiner Lieblingsplatten von Scott Mou aus New York. Den haben wir kennengelernt und uns mit ihm angefreundet. So wird es zunehmend internationaler.
David: Es wäre nicht gut gewesen, wenn wir ewig in Hamburg aufeinander gehangen hätten, insbesondere für die individuelle Entwicklung der einzelnen Personen. Wir sind ja dann auch ganz unterschiedliche Wege eingeschlagen. Phillip [Sollmann, Efdemin, Anm. d. Red.] hat etwa fünf Jahre Computermusik in Wien studiert und Henrik [Weber, Pantha Du Prince, Anm. d. Red.] war Model für Rick Owens in Paris. Wenn wir immer zusammengehangen hätten, wären wir irgendwann so grimmige Technoküchen-Leute geworden.
Pete: Das glaub ich jetzt nicht.
David: Ich finde das irgendwie toll, dass alle andere Sachen erlebt haben und sich auch immer mal wieder eine Pause gegönnt haben von der Musik, um sie dann später wiederzuentdecken – und dann vielleicht auch einen frischen Blick darauf zu haben.
Warum bist du nach New York gezogen, Carsten?
David: Ich wollte dort schon immer mal leben. Das hat sich einfach so ergeben. Jemand hat mir dort einen Raum angeboten. Erstmal für eine ganz kurze Zeit, die dann später verlängert wurde – und irgendwann lebte ich dann dort.
Und da hast du dann auch einen Ableger deiner Galerie betrieben?
David: Damit fing das eigentlich an. Ich wohnte hinten in der Galerie im Lager. Das war wirklich so ein Zufall, das war nicht geplant. Aber da hatte ich auch eine musikalische Pause. Dort ist natürlich alles viel schwieriger. Pete spielt ja schon relativ regelmäßig in New York. Aber das waren tatsächlich die einzigen Male, dass ich mit dem New Yorker Cluballtag in Berührung gekommen bin, wenn er zu Besuch war. Die Musik hat mir damals total gefehlt.
Wie war es, eine Galerie in New York zu betreiben? New York ist ja immer noch das Zentrum der Kunstwelt, gerade im Vergleich zu Berlin.
David: Deshalb war es reizvoll, das mal auszuprobieren. Denn in Berlin konnte man das unter ziemlich entspannten Bedingungen machen. In New York war alles wesentlich ernster.
Was die Kosten angeht?
David: Ja, und wie man das alles so machen muss. Auch als Ausländer, sich da erstmal durchzuwursteln. Aber ich mochte sowas eigentlich immer ganz gerne. Das war eine tolle Erfahrung. Meine Tätigkeit dort wurde dann tatsächlich auch sehr durch die Wahl von Donald Trump 2016 beeinflusst, sowohl ökonomisch, als auch gesamt atmosphärisch. Ich habe in einer kleinen Künstlercommunity gearbeitet, mit der ich in der Lower East Side sehr eng zusammengelebt habe. Die hat sich dann aufgrund von totaler Hilflosigkeit und Depression plötzlich stark gegeneinander gewandt – die klassische Selbstzerfleischung.
Tatsächlich?
David: Ja, das habe ich in meinem Leben schon öfters erlebt, auch in der linken Szene in der Mitte der 90er Jahre. Das passiert einfach, weil man sich unglaublich bedroht und hilflos fühlt. Man kann den ganzen Tag vor dem Trump Tower stehen und rumschreien, aber das interessiert niemanden. Da wird sich nur das Klofenster schließen. Dann verlagert sich das irgendwie, weil man dennoch das Gefühl hat, etwas bewirken zu wollen. Es verlagert sich dann auf Bereiche, in denen man tatsächlich eine Reaktion spürt. Das wird dann immer kleiner, sodass es wirklich in die mikrotonale Richtung geht, wo man sich dann an ganz kleinen Unterschieden aufhängt – zwischen Menschen, die noch vor kurzem dachten, dass sie ähnlich sind.
Wie hast du darauf reagiert?
David: Das hat mich sehr deprimiert und ich hatte, ehrlich gesagt, dann so ein bisschen das Gefühl, dass das nicht meine Konfliktlinie ist und ich als Ausländer zu dieser Konfrontation nicht viel beitragen kann. Ich hatte das Gefühl, dass ich dafür nicht das richtige Forum bin. Dann bin ich gegangen, auch weil sich ja zur selben Zeit in Europa durch den populistischen Rechtsnationalismus mit dem Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag eine neue Dimension der Dringlichkeit ergab, sich hier wieder politisch zu engagieren.
„Für mich gibt es keinen Grund anzukündigen, dass es Dial nicht mehr gibt. Was würde das bedeuten? Das hätte keine Konsequenzen für irgendjemanden. Das würde ja nicht bedeuten, dass wir ein Büro schließen und 60 Leute rauswerfen müssten. Die Welt würde sich weiterdrehen wie bisher.”
Carsten Jost
Ihr habt ja in einer Zeit angefangen, in der es mit den Vinylverkäufen stetig bergab ging; dann ging es wieder bergauf – und später wurde das digitale Format immer relevanter. Was waren für euch da die Konstanten?
David: Wir haben nie eine wirkliche Promo-Politik gehabt. Wir dachten immer, wir wollen keine künstlichen Bedürfnisse in die Menschen reinhämmern.
Pete: Das haben dann natürlich andere für uns oder gegen uns getan. Eine Konstante ist vielleicht auch, sich nicht für den Erfolg zu interessieren. Wir richten uns nicht danach, wie gut oder schlecht sich eine Platten verkauft hat.
David: Wir werden auch beide nicht von solchen Diskursen getriggert, etwa von diesen Format-Themen. Ich will jetzt nicht damit sagen, dass das uns nicht betrifft. Aber zu den Anfängen der Piraterie-Zeit dachten wir zum Beispiel: Sollen doch alle alles haben.
Pete: Genau: holt euch das!
David: Logisch, scheißegal. Die Leute, die kein Geld haben, sollen es doch bitte umsonst haben, affenklar.
Wie seht ihr dann die aktuelle Techno-Szene, die sehr stark auf das Business ausgerichtet ist?
David: Natürlich ist das doof – oder auch nicht. Jede*r soll es so machen, wie er oder sie es für richtig hält. Wenn ich jetzt jemand bin, dem es mega Spaß macht den ganzen Tag Instagram-Ereignisse aufzuzeichnen, dann finde ich das auch für die Person total super. Mich berührt das aber nicht. Für mich ist es eher schwierig, wenn ich mit so einer Sprache konfrontiert werde, obwohl es mit dem Gegenüber Überschneidungen gibt. Und dann kriegt man so einen Promo-Schedule. Da kriege ich dann kurz Panik.
Im Musikbereich findet neuerdings viel statt, was mit Musik überhaupt nichts zu tun hat. Die Musik ist oft nur ein Bestandteil einer Karriere.
David: Es geht auch um das, was man sich im Leben wünscht. Manche Menschen wünschen sich vielleicht ein großes Haus – oder ein großen Auto. Und andere Menschen wünschen sich vielleicht viel Zeit oder viel Schlaf.
Als letzte Frage: Wie seht ihr eure Zukunft und die des Labels?
Pete: Also ich finde es ganz toll, dass wir uns weiterhin Zeit lassen können. Dass Releases auch mit uns wachsen können oder Künstler getrost sagen können: Ich brauche noch ein halbes Jahr. Ich finde es außerdem nach wie vor nicht wichtig, kurzfristig zu reagieren, auf eine Maxi, die sich schlecht verkauft hat. Ich kann die Zukunft aber überhaupt nicht einschätzen. Wir haben für unser 20-Jähriges natürlich einige Ideen, wir arbeiten etwa an einer ausgiebigen Compilation – auch mit Künster*innen von außen.
David: Ich finde, das ist zur Zeit alles total aufregend, insbesondere weil wir uns beide musikalisch wiedergefunden und auch unseren musikalischen Dialog dadurch wieder aufgefrischt haben.
Pete: Und wenn dann eine Phase kommt, in der es wieder weniger aufregend ist, finden wir das auch super.
David: Ich hätte nie gedacht, dass irgendwas in meinem Leben 20 Jahre andauert. Das macht mich täglich glücklich.
Pete: Es gibt natürlich auch zynische Stimmen, die Fragen: Gibt es Dial überhaupt noch?
David: Uns gibt es ja als Personen. Wir denken über Sachen nach, Sachen begegnen uns, wir reagieren auf Sachen und manchmal kommt da eben eine Schallplatte bei uns raus und manchmal schicken wir uns einen File hin und her, der dann in einem Mix landet. Für mich gibt es Dial so lange, wie wir am Leben sind. Für mich gibt es keinen Grund anzukündigen, dass es Dial nicht mehr gibt. Was würde das bedeuten? Das hätte keine Konsequenzen für irgendjemanden. Das würde ja nicht bedeuten, dass wir ein Büro schließen und 60 Leute rauswerfen müssten. Die Welt würde sich weiterdrehen wie bisher.
Changingweather Classics mixed by Carsten Jost
David Lieske präsentiert in einem exklusiven Mix für die GROOVE die Tracks, die für ihn in der Anfangszeit von Dial wichtig waren:
Mint – Better Things Von Massive Attack – PROFAN 006 (1994)
SND – 00020 A – Mille Plateaux (2000)
Farben (Feat. The Dramatics) – Live At The Sahara Tahoe, 1973 – KLANG 32 (1999)
Theo Parrish – Heal Yourself And Move – Peacefrog Records (1998)
Moodyman – Misled – Planet E (1997)
Lowtec – Stamping Ground – Source Records (2002)
L’Usine – Flat – Isophlux (2001)
Peter F. Spiess – Kinderspiele Im Glascontainer – KLANG 41 (2000)
Swayzak vs. Theorem – Break In At Apartment 205 – M_nus (1999)
MRI – To Be Honest – Force Tracks (2000)
Jürgen Paape – How Great Thou Art – Kompakt – (1999)
Pépé Bradock – Deep Burnt – KIF S.A. (1999)
Closer Musik – Departures – Kompakt (2001)
Plaid – OI – Warp records (1997)
Claro Intelecto – Peace Of Mind (Electrosoul) – Ai Records – (2003)
Krust – True Stories – Talkin’ Loud (1998)