„Komm, den schaffst du noch, du bist doch keine halbe Frau!“ Beherzt schenkt Jasna mir den dritten selbstgebrannten Kirschlikör etwa drei fingerbreit in den weißen Plastikbecher. Es ist zwölf Uhr mittags und ich bin gerade mit dem Bus aus Zadar in dem Dreitausendseelen-Örtchen Tisno angekommen. „Živjeli – Prost!“ Ich bereue, nicht gefrühstückt zu haben, und stoße tapfer mit der etwa 60-jährigen Frau und ihrer Freundin an, die kettenrauchend mit uns am weißen Campingtisch in Jasnas Hof sitzt und mich zahnlos anlächelt.

Ob sie diese Demonstration kroatischer Gastfreundschaft mit jeder*m ihrer ankommenden Gäste durchziehen? Immerhin vermieten Jasna und ihr Mann Marenko sieben Zimmer. Seit Jasnas Tochter ihrer Mutter Airbnb gezeigt hat, sind diese während der Festivalsaison durchgehend ausgebucht. Neben dem holländischen Dekmantel Selectors finden zwischen Juli und September im Garden Resort, das etwa einen Kilometer die Küste hinab liegt, mit dem Love International, Suncé Beach, Defected und Hospitality on the Beach noch vier weitere elektronische Musikfestivals statt. Wer nicht direkt im Bungalowdorf auf dem Festivalgelände unterkommt, mietet sich eben im Ort ein.

Das kleine Schwesterfestival der Amsterdamer Über-Crew Dekmantel ist als regelrechter Rave-Urlaub angelegt. Zählt man die „geheime“ Openingparty mit Palms Trax am Mittwochabend dazu, dauert das Festival ganze sechs Tage – bis Dienstagmorgen um fünf können die 2000 Feierwilligen hier am Kieselstrand tanzen. Doch selbst wenn man wollte, man könnte gar nicht durchmachen. Von sechs Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags ist Musikpause. Ab dann liefert nur eine der drei Bühnen entspannte Housetunes, die beim ersten Mojito am Strand für die meisten zur leicht überhörbaren Beachbar-Soundkulisse im Hintergrund verschwimmen.

Cluburlaub im besten Sinne: Das Garden Resort Tisno (Foto: Tarona Leonora)

Wenige Headliner, viel Lust am Entdecken

Schöne, teils bereits etwas sonnenverbrannte Menschen in stylischen Bikinis, durchsichtigen Netzkleidern und bunten Hawaiihemden fläzen instaworthy in orangen Liegestühlen, tanzen im knietiefen Meer oder auf einem Holzfloß, das im kristallklaren Wasser liegt. Die Besucher*innen kommen hauptsächlich aus Holland, England, Deutschland und Frankreich. Wer sich früh genug ein Extraticket gesichert hat, kann jetzt am Nachmittag auf einer der täglich drei Bootpartys durch die filmreife Bucht mit ihren dunkelgrün bewaldeten Inseln schippern. Gegen 17 Uhr öffnen endlich die drei Bühnen.

Der Name „Selectors“ ist Programm. Statt auf große Headliner setzen die Veranstalter*innen auf die Entdeckerfreude ihrer Gäste – „for music-lovers by music lovers“, wie die Homepage verspricht. Und tatsächlich: Außer einigen erwartbaren Dekmantel-Lieblingen wie Palms Trax, Young Marco, Ben UFO, Lena Willikens oder Solar lässt einen das Line-up auf den ersten Blick etwas ratlos zurück. Einerseits fragt man sich schon, inwiefern der Ticketpreis von knapp 200 Euro (ohne Bootpartys) bei solch einem verhältnismäßig unbekannten Booking zu rechtfertigen ist. Andererseits kann man so immerhin ohne „FOMO“ zwischen den drei Floors auf dem sehr kompakten Gelände auf Erkundungstour gehen.

Macht Loftgründer David Mancuso alle Ehre: Colleen „Cosmo“ Murphy (Foto: Tarona Leonora)

Die direkt am Wasser gelegene „Beach Main“ belohnt entdeckungsfreudige Disco-Fans gleich am ersten Abend mit dem serbischen DJ BRKA, der neben einem lässigen Tanzstil hinter dem Pult mit groovigem Disco und souligem Vocalhouse begeistert. Weitere Highlights auf dieser Bühne: Der Belgier Nosedrip, der wie bei seiner monatlichen Show auf dem Londoner Webradio NTS eine Mischung aus New Wave, Synthpop und Postpunk liefert, und Colleen „Cosmo“ Murphy. Sie macht ihrem Mentor, dem Loft-Gründer David Mancuso, mit einem Mix aus obskurem Funk, Soul und Houseklassikern wie Derrick Mays „Strings of Life“ und Larry Levans „Stand on the World“ alle Ehre. 

Nachdem der Amsterdamer Identified Patient bereits am Nachmittag auf der Bootparty mit Italo-Dicso-Legende Intergalactic Gary & Pasiphae und DJ Down The Rabbit Hole die Plattennadeln zum Springen gebracht hat (Merke: Vinyl auf einem Holzboot funktioniert maximal bei einem Ambient-Set), legt er am Abend mit einem hochenergetischen Set aus Wave, EBM und Dark Disco noch mal nach – definitiv eine der Entdeckungen des Festivals.

Can You Feel It? Identified Patient fühlt’s definitiv (Foto: Tarona Leonora)

Gabber, Spice Girls und „The Final Countdown“

Zugegeben: Wer Italo Disco und vocallastigen House cheesy findet, hat es auf dem Dekmantel Selectors nicht leicht. Die „Voodoo“-Stage gibt mit Ben UFO, Demdike Stare, Objekt und Violet jedoch ihr Bestes, auch die Fans von Breakbeat, Techno, Electro und Acid zu befriedigen. Garantiert überrascht wird man allerdings bei „The Nest“, der Stage, bei der man sich dank viel Nebel und einer umschließenden Holzkonstruktion am ehesten wie auf einem typischen Berliner Festival fühlt. Ob Gabber, Hardstyle oder Trance – hier muss man wirklich mit allem rechnen. Die Schlange der Menschen, die sich ab Freitag durchgehend vor dem Eingang zur kleinen Stage bildete, gibt den Booker*innen recht.

Stellenweise kann man beim Dekmantel Selectors nämlich den Eindruck bekommen, es handele sich bei elektronischer Tanzmusik um eine ziemlich ernsthafte Angelegenheit.

Highlight-Set auf diesem Floor ist eindeutig DJ Bus Replacement Service, die in klassischer Faceless-Techno-Manier stets mit einer Kim Jong Un-Maske hinter den Decks steht und ein Set spielt, das den inflationär gebrauchten Ausdruck „eklektisch“ wirklich mal verdient hat. In kürzester Zeit mixt sie einen Gabber-Mix von „Wannabe“ von den Spice Girls mit einer hochgepitchten Version von Kraftwerks „Trans Europa Express“. Zum krönenden Abschluss dieses ekstatischen Rave-Abriss’, bei dem man sich auf dem Dancefloor mehr als einmal ungläubige Blicke zuwirft, spielt sie eine Hardcore-Version von „The Final Countdown“, als wolle sie sagen: Ja, auf dem Dancefloor darf auch mal gelacht werden!

DJ Bus Replacement Service sorgt für ungläubige Blicke auf dem Dancefloor (Foto: Tarona Leonora)

Stellenweise kann man beim Dekmantel Selectors nämlich den Eindruck bekommen, es handele sich bei elektronischer Tanzmusik um eine ziemlich ernsthafte Angelegenheit. Jegliche Form von infantilem Klamauk und verspielter Deko, wie man sie von Festivals wie dem Nachtdigital, Nation of Gondwana oder der Fusion kennt, sucht man hier vergeblich. Bis auf „The Nest“ sind die Bühnen eher funktional gestaltet und auch das Gelände, das sich etwa mit einer Minigolfbahn perfekt für ein etwas „außermusikalisches Event“ angeboten hätte, lädt außer am Strand nicht gerade zum Verweilen ein. Außer in einer kleinen Filmbühne und dem ziemlich hochpreisigen Foodcourt gibt es kaum Sitzgelegenheiten, geschweige denn eine Chill-Out-Area. Der Fokus liegt klar auf der Musik, wie man es von Showcase-Festivals aus anderen Genres kennt. Begreift man Feierkultur allerdings etwas ganzheitlicher, wirkt das Event zum Teil etwas seelenlos.

Um zwei Uhr morgens endet das Programm im „The Garden Resort“ und man kann sich zum etwa 20 Busminuten entfernten Barbarella’s Club shuttlen lassen. Ein Umstand, der den Partyfluss zwar etwas zerreißt, andererseits durch die erzwungene Kaffeefahrt-Atmosphäre auch neue Freundschaften entstehen lässt. Etwa zum selbsternannten DJ In-Between, einem Engländer, der sich ausgestattet mit einer Bluetooth-Box und der „Top 50 Partyhits“-Playlist auf Spotify dazu berufen fühlt, die Stimmung bis zum Barbarella’s oben zu halten – zumindest bei sich selbst.

Das Ibiza für den kleine(re)n Geldbeutel

In der Openair-Location, deren Sounddesign ein studierter Tonmeister, den ich eben im Bus kennengelernt habe, in den höchsten Tönen lobt, geht es noch bis sechs Uhr weiter, ehe endgültig das Putzlicht angeht – oder wie im Fall des B2B-Sets von Lena Willikens und Vladimir Ivkovic leider aus. Eine halbe Stunde vor Ende ihres herrlich verspulten Weird-Techno-Sets beendet ein plötzlicher Stromausfall die Party abrupt. 

Dekmantel-Familienmitglied Palms Trax spielt im Barbarella’s nach der Eröffnung am Mittwoch und der Bootparty am Donnerstag freitags sein drittes Set des Festivals. Da er momentan einen ziemlichen Hype erfährt und im Dunstkreis des Festivals einer der wenigen Headliner ist, ist der Dancefloor entsprechend voll. Statt wie gewohnt mit obskuren Soulplatten oder interessanten, weltmusikangehauchten Drumtracks seine ausgeprägten Digger-Qualitäten unter Beweis zu stellen, spielt er allerdings ein überraschend monotones, 80s-verliebtes Disco Set, bei dem gefühlt zwei Stunde lang dieselbe Sechzehntel-Bassline durchläuft. Als absoluter Publikumsliebling hätte Palms Trax vermutlich drei Stunden Free Jazz spielen können, die Leute hätten ihn trotzdem gefeiert. Stattdessen entscheidet er sich für die vermeintlich sichere, leider etwas phantasielose Peaktime-Variante.

Getränkepreise von über 5 Euro für 0,15 Liter Sekt oder eine Dose Bier lassen auch Berliner schlucken. 

Im Barbarella’s treffe ich zum ersten Mal auch Kroat*innen, die sich ein Ticket für die Party am Abend gekauft haben. Obwohl Locals einen reduzierten Eintrittspreis bekommen, ist das Festival für die meisten vor Ort trotzdem viel zu teuer. Getränkepreise von über 5 Euro für 0,15 Liter Sekt oder eine Dose Bier lassen aber auch Berliner schlucken. Die Preise seien aber nicht der einzige Grund für die sehr homogene, mitteleuropäische Crowd, wie mir ein kroatischer Raver an der Bar erzählt: In der lokalen Szene, etwa um Zagreb, gäbe es derzeit auch viele eigenständige, spannende Entwicklungen.

Kroatien hat sich in den letzten Jahren besonders für Raver*innen aus UK, Holland, Deutschland und Frankreich zum Ibiza für den kleine(re)n Geldbeutel entwickelt – da raven, wo andere Urlaub machen. Dass man diese Entwicklungen durchaus kritisch betrachten kann und sollte, dröselte Groove-Autor Kristoffer Cornils in seiner letzten konkrit-Kolumne auf. Airbnb-Host Jasna hingegen freut sich über die jungen Besucher*innen, die Leben in den verschlafenen Küstenort Tisno bringen. „Das hier ist meine Rente!“, sagt sie und deutet gut gelaunt auf ihre Ferienwohnung. Dann schenkt sie noch mal Kirschlikör nach.

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