Unsere Szene lebt von den Tracks, die Nacht für Nacht und Tag für Tag gespielt werden. In der Rubrik Track by Track wollen wir alle zwei Monate den wichtigsten von ihnen die Wertschätzung entgegenbringen, die sie verdient haben – durch Interviews, Analysen, persönliche Erinnerungen. Ob sie unsere Szene maßgeblich prägten, grundlegende musikalische Veränderungen einläuteten oder sich mit Nachdruck ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben: Wir rollen Rave-Geschichte auf – Stück für Stück, Track by Track.

Die erste Ausgabe behandelt Nightmares On Wax’ Hymne „Aftermath“, die 1990 erschien. Diverse Musikjournalist*innen und Kulturwissenschaftler*innen führten den Track immer wieder als entscheidende Zäsur der drogengeschwängerten Exzesse während der UK Hardcore-Ära an: “‘Aftermath’ ist ein Vorbote des dunklen Schattens, der sich drei Jahre später über Hardcore legte, als viele Raver den paranoischen Effekten des langzeitlichen, exzessiven Drogenmissbrauchs zum Opfer fielen”, schrieb etwa Simon Reynolds in seiner Dance-Music-Fibel Energy Flash.


Stream: Nightmares On Wax – Aftermath

„Wir machten Musik, die unsere Crews und wo wir herkamen repräsentierte. Dabei waren zwei Dinge unsere größten Ziele: Den stärksten Bass zu haben und andere DJs dazu zu bringen, unsere Tracks zu spielen. Das war die ultimative Respektsbekundung. Ein anderer DJ spielt deine Platte und reißt damit ab, die Leute gehen drauf ab, genau darum ging’s in der ganzen Szene.“

So bringt George Evelyn, seit Mitte der Neunziger als Solokünstler unter dem Alias Nightmares On Wax unterwegs, die Motivation ebenjener Producer auf den Punkt, die Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre die Genres UK Hardcore beziehungsweise Bleep’n’Bass prägten. Eher am Rande ging es laut Evelyn darum, mit der Musik tiefere Botschaften zu transportieren oder fundierte Aussagen zum Zeitgeist zu tätigen. Vielmehr standen Acts wie Unique 3, Forgemasters, A Guy Called Gerald oder eben Nightmares On Wax in einem steten Wettbewerb und versuchten, sich gegenseitig mit noch basslastigeren und abgedrehteren Tracks zu übertrumpfen.

It’s all about competition

Dieser fortwährende Konkurrenzgedanke hatte ebenso viel mit dem extrem kompetitiven B-Boy-Hintergrund zu tun, aus dem viele der Artists stammten, wie mit der importierten Soundclash-Kultur: Zuhauf fanden jamaikanische Soundsystems ihren Weg nach England, prestigeträchtige Wettbewerbe zwischen rivalisierenden DJs wurden organisiert. So war der Titel „Aftermath“ keineswegs ein Verweis auf den galoppierenden Drogenmissbrauch der Raver und die damit einhergehenden Nachwehen: „Das war vielmehr als Botschaft an die anderen Crews gedacht! Da ging es rein um den Wettbewerb. Wenn die Forgemasters einen Tune veröffentlichten, mussten wir darauf antworten. Das ging immer so weiter! Wir haben das nahtlos aus dem Breakdance-Gehabe übernommen! Wir haben uns immer gebattlet.“

Foto: Unbekannt

Zwar geht UK Hardcore durchaus als eigenständiges Genre durch. Tatsächlich amalgamierten die Producer unter diesem Etikett aber verschiedenste Einflüsse: Hip Hop, Dub, Reggae, Soundsystem-Kultur, House und Breakbeat verschmolzen zu unruhigen, bleepigen Bassmonstern, die auf illegalen Raves in ganz England tausende Menschen zu einer Einheit formten. Dieses akustische Heilmittel kam in biederen Zeiten – die Thatcher-Regierung befeuerte ein Klima tiefgreifender sozialer Umwälzungen – gerade recht: “Es gab in dem Leeds, das ich damals kennengelernt habe, Stadtteile, in die du wegen deiner Hautfarbe nicht gehen durftest. Das hat sich alles geändert, als die Musikszene explodierte, als die Leute Ecstasy nahmen und so weiter. Du sahst Fußball-Hools auf dem Dancefloor neben Rastas. Die Musik hat auf jeden Fall geholfen, Barrieren zu sprengen und ist ein Ausdruck dieser Bewegung.“

„Aftermath“ legten Nightmares On Wax – bis zum Release ihres vielsagend betitelten Debütalbums “The First And Final Chapter” 1991 ein Trio, bestehend aus George Evelyn, Kevin Harper und John Halnon – zunächst als House-Track an. Harper war es, der das leiernde Sample aus Newcleus’ „Jam On It“ aufstöberte, das dem Track seine durchweg wirre Note gab, und der die Bassline produzierte. Evelyn hingegen legte einen Hip Hop-Beat unter das melodische Gerüst und kam auf die Idee, Cuba Goodings „Happiness Is Around The Bend“ zu samplen, um ein prägnantes Vocal an den Anfang zu stellen. Dieses zog sich in mäandernden Loop-Schleifen bis zum Ende und tauchte den Track in genau jene düstere, ernste Atmosphäre, die ihm seine popkulturelle Relevanz als Statement zur drogenverkaterten Rave-Szene verlieh: “Das war viel mehr in die Richtung ‚Jetzt wird’s ernst, in your face!‘ Die Snares, alles daran ist roher und aggressiver. Alles an dem Track war ziemlich abrupt und brutal, so eine ‘I don’t give a shit’-Attitude. Kevin fiel dann der Name ‘Aftermath’ ein. Wir sagten quasi ‘Das sind die Nachwirkungen zu ‘Dextrous’ [Nightmares On Wax’ erster Single von 1989]. Das ist jetzt passiert, das haben wir geschaffen. Nachdem ihr eure Tracks gespielt habt, wischen wir mit eurem Kram den Boden auf.’ Es ist ziemlich witzig, jetzt als Erwachsener drüber zu reden, weil das einfach so kindisch war!“

Stream: Nightmares On Wax – Dextrous

„Wie können wir eine Hymne kreieren?“

Nightmares On Wax war zu keiner Zeit bewusst, dass sie mit „Aftermath“ das Ende der Hardcore-Ära einläuten sollten. Vollkommen eingenommen vom alles überstrahlenden Wettbewerbsgedanken konzentrierten sie sich mit Hingabe darauf, im engmaschigen Netzwerk der britischen Acts Duftmarken zu setzen. Und die stilistischen Verweise auf psychoaktive Substanzen? Reiner Zufall, glaubt man Evelyn: „Klar haben wir mal Ecstasy oder auch LSD genommen, aber nicht, während wir die Musik produzierten. Natürlich hat das in Kombination mit dem ganzen Zeitgefühl Einfluss auf die Musik. Aber haben wir uns Gedanken gemacht, ob wir mit den Platten in den Kopf des Hörers kommen? Ich denke nicht. Wir hatten nur eines im Kopf: Wie können wir eine Hymne schreiben?“

Dass ihnen genau das gelang, beweisen folgende Zahlen eindrucksvoll: „Aftermath“, eine der ersten Erscheinungen beim heutigen Traditionslabel Warp, verkaufte sich über 40.000 mal und kletterte 1990 bis auf Platz 38 der Mainstream-Charts im Vereinigten Königreich – ein immenser Erfolg für einen Underground-Track. Nicht ein Mitglied von Nightmares On Wax hatte das für möglich gehalten oder überhaupt in kommerziellen Kategorien gedacht. Für Evelyn liegt der Erfolg vor allem im Zeitgeist begründet: “Wir waren Teil einer Welle, es war wie ein Tsunami, der in die Stadt kam und jeden verschlang. Und in dem Tsunami waren Musik, Drogen, Clubbing, Leute treffen, Erfahrungen machen, die man davor nie hatte. Und diese Welle ging ein paar Jahre. Während sie durch die Stadt rollte, wurden neue Dinge und Wahrnehmungsmuster geschaffen. Wir hatten großes Glück, ein Teil davon zu sein. Dann kam auch noch der bizarre Erfolg, mit unserer 12” in die Top 40 zu kommen“, erzählt er leidenschaftlich. Zwar etablierte der Second Summer of Love mit seinem euphorischen Acid House schon 1988 Rave-Musik als Charts-taugliches Material. Dass “Aftermath” mit seiner weitaus dunkleren Atmosphäre an diese Erfolge anknüpfte, überrascht aber dennoch.


Foto: Presse

Während Nightmares On Wax also die Erfolgswelle ritten – ideell wie kommerziell -, waren sie obendrein Teil einer musikalischen Revolution, die keimhaft für spätere musikalische Strömungen wirkte. Evelyn und Harper frönten jedoch dem ungezügelten Hedonismus und machten sich über Genres keine Gedanken – selbst wenn sie sie mitbegründeten: „Wir kamen alle aus einem Bass Music-Hintergrund, der mit Reggae verbunden war. Aus einem Electro-Hintergrund, der mit Hip Hop zu tun hatte. Aus einem Dance-Hintergrund, der mit Funk und Soul gekoppelt war. Wir alle kamen aus einem ähnlichen Schmelztiegel urbaner Musik.“

Die ausufernden Interpretationen zu „Aftermath“ amüsieren Evelyn in gleichem Maße, wie sie ihn überraschen. Die unterschiedlichen Perspektiven von Künstler*innen und Rezipient*innent entstehen dabei wie so oft aus der zeitlichen Distanz. Während Nightmares On Wax unbekümmert funktionale Musik machten, die Gleichaltrige auf Raves zur Flucht aus dem trostlosen Alltag nutzten, sahen Musikwissenschaftler*innen und -journalist*innen “Aftermath” im Nachhinein vor allem als unheilvolle Prophezeiung zur Entwicklung der englischen Szene. Doch wer macht sich mit 19 oder 20 schon Gedanken um tiefere Botschaften in seiner Musik? Oder um Genres?

Ob „Aftermath“ also ein Bleep-Track ist? George Evelyn antwortet mit der ihm eigenen Mischung aus Nonchalance und Humor: „Aus der Sicht eines Deutschen muss man das beschreiben. Das müssen Deutsche ja immer. So bekommst du aber niemanden auf den Dancefloor!“ und fällt abschließend ein salomonisches Urteil: „Nicht alle Journalist*innen liegen richtig. Genauso wenig wie alle Musiker*innen.“

Back To Mine: Nightmares On Wax erscheint am 25. Januar auf Back To Mine

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