Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Jeden Monat stellt die Groove-Redaktion zur Halbzeit fünf ganz besondere Alben vor, die es unserer Meinung nach wert sind, gehört zu werden. Dieses Mal mit dem Album der Ausgabe von Ancient Methods, Chris Liebing, Djedjotronic, Ital Tek und Jlin – ganz neutral in alphabetischer Reihenfolge.
5. Ancient Methods – The Jericho Records (Ancient Methods)
Electro erobert neuerdings die Mainfloors, und im geringeren Maß gilt das auch für Industrial-Techno. Anders als beim Electro gibt es da nur wenige außergewöhnliche Producer, die etwas Aufregenderes produzieren als besinnungslos vor sich hin hämmernde, seelenlose Grooves. Die meisten interessanten Künstler – Vatican Shadow, Cut Hands, Regis oder JK Flesh – sind schon so lange aktiv, wie es die Musik gibt, und sie kommen alle aus England. Ancient Methods fällt da heraus. Ihn gibt es als aktiven Producer erst seit 2006, und er stammt aus Berlin. Die Maxis auf dem gleichnamigen Label werden von einem komplexen Sound getragen, der nie brachial klingt. Seine Klänge sind haptisch wie Skulpturen und komplex wie die Konturen einer Gebirgslandschaft. „Ich arbeite viel mit Layern“, erklärt er dazu: „Da werden mehr oder weniger ähnliche Layer, Re-Samples zum Beispiel, mit minimaler Lautstärke drübergelayert. Dadurch löst sich auch das Repetitive auf. Selbst bei einer Hi-Hat sind verschiedene Layer drin, egal ob das ein psychoakustischer Effekt ist wie ‚Panorama‘, oder ob das tatsächlich die Klangfarbe selbst betrifft.“
In seinem „Industrial Soundtrack For The Urban Decay“-Mix oder dem „Secret Thirteen“-Podcast zeigt sich Ancient Methods als Industrial-Kenner. Dennoch hat er eine waschechte Berliner Techno-Sozialisation hinter sich. Als Jugendlichen inspirierten ihn DJs aus Detroit und aus dem Hardwax-Kontext. Als Trias legte er auf der legendären Nachwuchsveranstaltung Headquarters im Tresor auf. Er kaufte ein Roland SH-101 und eine TR-707 und begann zu experimentieren. Aber veröffentlichen wollte er damals noch nicht: „Ich bin schon ein Spätzünder“, sagt er. „Ich habe schon immer Musik gemacht, aber ich hatte nie so richtig den Drive, selbst auch Sachen zu releasen.“ Dieser Drive kam erst Jahre später.
Es begann mit einem Bild: Ein Holzschnitt von Julius Schnorr von Carolsfeld aus dem 19. Jahrhundert, der die Eroberung der Stadt Jericho durch Israeliten zeigt, wie sie im Alten Testament erzählt wird. Soldaten marschieren auf die Stadtmauer zu. Sie tragen aber keine Waffen, sondern lange Trompeten. Wir wissen nicht wie ihre Musik geklungen hat, aber sie lässt die Türme der Stadt einstürzen. Mit diesem Motiv war Ancient Methods geboren, der Act und das gleichnamige Label. Die Ancient Methods, das sind die archaischen, biblischen Mittel der akustischen Kriegsführung. Auf seinen ersten Maxis führt er uns in deren Methoden ein, die sechste entwickelte er mit Regis, mit dem er ein gemeinsames Projekt hat.
So handeln die EPs von einzelnen akustischen Waffen, die LP von der vollständigen Geschichte vom Untergang Jerichos. Industrial kommt wie gesagt meistens abstrakt und stereotyp daher. Das immer gleiche Gehämmer erzählt vom immer gleichen Schmerz. Hier tauchen wir in eine fremde Welt ein, erleben Stadtgetümmel und Schwerter-Klirren. „Ich wollte das immer sehr bildlich machen“, erklärt er. „Bei ‚Treason Creeps In‘ wollte ich zum Beispiel mit Sounds und Beats arbeiten, die schleichend sind. Meine Tracks sind normalerweise physikalischer und härter, da ist aber was sehr Weiches, Federndes, Subtiles.“ Ein Höhepunkt des Albums ist die Regis-Kollaboration „Array The Troops“: Da wird das Getrommel einer marching band, einer Militärkapelle, das von Todesverachtung wie von Todesangst erfüllt ist, gegen verzerrte, bombastische, unkontrollierbare Technoklänge montiert. So scheint der Track zu fragen: Was ist furchtbarer: Zu wissen, dass man stirbt? Oder der Tod selbst? (Alexis Waltz)
4. Chris Liebing – Burn Slow (Mute)
Burn Slow ist das erste Solo-Album von Chris Liebing seit 15 Jahren. Mit dem vormals so schnellen und monotonen Technosound hat Liebings aktueller Output nichts mehr zu tun. Aufbauend auf zwei poppigen „Burn Slow“-Remixes für Goldfrapp und Depeche Mode ist die LP eine Ode an die Bassline. Anstatt die Energie seiner Platten, wie früher, aus der Geschwindigkeit ihrer Tracks zu ziehen, hat Liebing zusammen mit der Eye-Q-Legende Ralf Hildenbeutel Platz zwischen den Kickdrums freigeschaufelt. Das Ergebnis ist eine moderne aber auch ziemlich zeitlose Platte, die in dieser Form zu irgendeinem Zeitpunkt innerhalb der vergangenen zehn Jahre hätte erscheinen können. Deutlich werden die Soundtrack-Allüren von Hildenbeutel, der heutzutage fast nur noch Filmmusik macht. Melodische Passagen bestimmen das Geschehen, verwaschene Breaks und ab und an ins prolligbollernde abdriftende Hymnen mit punkiger Attitude. Klassischen Tool-Techno sucht man hier vergebens und das ist auch gut so. (Felix Hüther)
3. Djedjotronic – R.U.R. (Boysnoize)
Wir wissen nicht, was sich der aus Bordeaux kommende und heute zwischen Berlin, Südfrankreich und Paris pendelnde Franzose Jérémy Cottereau bei dem Titel seines ersten Albums gedacht hat. R.U.R. heißt es, wofür mag es wohl stehen? Return un-repaired? Released upon request? In einer Sache gibt es allerdings Klarheit: Djedjotronic, so nennt sich Cotterau als Künstler, ist seit Jahren einer der interessantesten Produzenten, was Electro im klassischen Sinne angeht. Die großen Einflüsse Drexciya, Kraftwerk, Underground Resistance oder Electronic Body Music sind natürlich auch auf den elf Stücken seines Debütalbums stets präsent. Konnte man erwarten. Doch diese düsteren, im sonnigen Südfrankreich aufgenommenen Tracks sind absolut on point. „Taking The Light“, die Vorab-Single mit dem Nitzer-Ebb-Sänger Douglas McCarthy, mag hier der Hit sein, klingt ja durchaus wie Nitzer Ebb. Viel besser sind jedoch die stimmungsvollen, aber immer ungeheuer wuchtigen Instrumentals wie „Chasing The Light“. (Holger Klein)
2. Ital Tek – Bodied (Planet Mu)
Düstere Soundscapes erstrecken sich auf vibrierenden Bass-Ebenen und werden von hellen Klängen kontrastiert. Früher produzierte Ital Tek Clubmusik zwischen brachialer Bassmusik, vielschichtiger Electronica und hyperaktivem Footwork. Davon ist auf seinem sechsten Album kaum etwas übrig. Eins ist geblieben: Immer ging es bei ihm um Sound, um die digitale Feinjustierung der einzelnen Klänge und ihr Zusammenspiel. Auch die besondere Energie seiner Tracks ist noch präsent, auch wenn sie nicht mehr durch schnelle Drums übertragen wird, sondern durch Spannungen zwischen offen und geschlossen, brachial und sanft. Hin und wieder klingt Clubatmosphäre in fragmentierten Beats an, die an Halfstep-Drum’n’Bass oder gebrochenen Techno erinnern. Aus Synthesizern, bearbeiteten Klängen von Streichinstrumenten wie Cello oder Violine und verzerrten E-Gitarren kreiert Ital Tek in Verbindung mit sparsam eingesetzten Drums monumentale Hörstücke, in denen Beklemmung Zuversicht begegnet. (Philipp Weichenrieder)
1. Jlin – Autobiography (Planet Mu)
Nach zwei umjubelten Alben, auf denen die Footwork-Produzentin Jerrilynn Patton die Grenzen des Genres radikal erweitert hat, legt sie nun eine Auftragsarbeit für den Tanzchoreografen Wayne McGregor vor. Dies mag nur ein Zwischenschritt zum neuen Album sein, aber Autobiography ist ein vollwertiges Album, das auch ohne das Tanzereignis funktioniert. Jlin erweitert ihren Sound noch einmal gehörig. Es gibt ambiente Interludes, die zwischen abstrakter Elektronik und düsteren Soundscapes changieren. Es gibt Stücke, die klingen, als wäre DJ Screw von den Toten auferstanden und hätte Footwork verlangsamt und tiefer gelegt. Dann stoßen diese tiefer gelegten Juke-Sounds wiederum auf klassischen Minimalismus der frühen Steve-Reich-Schule. Und natürlich hat Jlin auch ihr Interesse an Hand-Percussion-Instrumenten aus aller Welt nicht verloren und kreiert die verrücktesten Polyrhythmen damit. Autobiography ist ein weiteres beeindruckendes Album einer großen Künstlerin. (Dieter Wiene)