Foto: Comatonse (Terre Thaemlitz)
Wie entsteht eigentlich ein Stück Musik? In dieser Rubrik lassen wir Produzenten die Entstehungsgeschichte zu einem ihrer Tracks erzählen. Terre Thaemlitz über „Deproduction“ auf Comatonse Recordings.
Als ich die Linernotes zu meinem 31-stündigen Memory-Stick-Album Soulnessless schrieb, wusste ich, dass ich einige darauf formulierte Gedanken zum Problem der wiedererstarkten klassischen Idee von Familie, Klan, Tribe oder Nationalismus weiterdenken muss. Ich wollte herausfinden, in welchem Zusammenhang diese Entwicklung zur systematischen Auflösung von demokratischen und sozialen Strukturen steht, die in den vergangenen Dekaden die Politik vieler Nationen bestimmt. Mein Produktionsprozess hat sich über die Jahre geändert. Heute machen Videoarbeiten einen wesentlichen Teil aus. Als es das Label Mille Plateaux noch gab, habe ich mir ein Thema ausgedacht und die Musik angefertigt. Anschließend kamen der Text und die Grafik. Und manchmal Jahre später eine Videoarbeit. Meine frühen Videos waren ja eher als visueller Zusatz zu meinen Konzerten gedacht. Heute bringe ich meine Arbeiten auf meinem Label Comatonse raus und habe volle Flexibilität, was das Format und den Inhalt angeht. Für Deproduction habe ich erst einige Wochen an Videomaterial gearbeitet. Dann am Text und der Musik. Das ging hin und her, bis sich alles zu einem geschlossenen Werk fügte.
Das Album dreht sich zentral um zwei Tracks von knapp 43 Minuten. Obwohl sie digital synthetisiert wurden, haben sie viele akustische Elemente und Soundsamples, die sie stilistisch im Ambient, der Musique concrète und der Elektroakustik ansiedeln. Deproduction feierte im Juli bei der Documenta 14 in Athen Premiere. Und obwohl dies ein Kunstkontext war, habe ich die Platte mit dem Fokus auf den privaten Audio-Konsumenten konzipiert. Ich stell mich zwar darauf ein, dass ich meine Projekte auch als Konzert, Installation oder im akademischen Kontext präsentieren kann. Aber der Schwerpunkt liegt beim Konsumenten. Es ist immer ein „Album“ für mich. Diesmal habe ich für die Produktion diverse Klang- und Bildbearbeitungsprogramme, ein Keyboard und einen Kontrabass benutzt. Ich favorisierte zuvor Musiksoftware aus den späten 90er- und frühen Nullerjahren. Aber die ist seit OS X oft nicht mehr nutzbar. Heute setzen sich viele für analoges Equipment ein, aber keiner spricht darüber, dass spezifische Sounds verschwinden, die aus einer Kombination von Software, Algorithmen, Prozessorgeschwindigkeit und alten Soundkarten entstehen. Die Dynamik von Computermusik ist nach wie vor unterrepräsentiert in einem Markt, der Analoges fetischisiert und von einer Software-Industrie bestimmt wird, die sich auf Echtzeit-Synthese konzentriert.
Dass die Leute die Agenda meiner Kunst entschlüsseln, erwarte ich nicht. Wenn ich das täte, hätte ich nie lange Texte verfasst und sie mitpubliziert. Manche Tracks sind einfacher zu entschlüsseln als andere. Ich denke, wenn sich jemand „Names Have Been Changed“ konzentriert anhört, versteht er, worauf ich hinauswill. Es gibt sehr klare Hinweise zu meiner Kritik am Konzept Familie. Er ist sehr narrativ und entspricht der Art, wie ich mir einen erzählerischen Track vorstelle. Es ist aber nicht so, dass die verwendeten Samples immer direkt das Thema des Tracks aussprechen. Die Samples können es aufrufen, ihm aber auch widersprechen. Ich vermeide es, Sounds, Texte und Bilder statisch zu wiederholen und versuche eher, Beziehungen zwischen ihnen herzustellen. Dadurch entsteht mehr Tiefe und alles wirkt ein wenig widersprüchlicher, denn ich liebe es, mit Widersprüchen und Scheinheiligkeit zu spielen, anstatt sie zu verneinen.
Der zweite Track „Admit It’s Killing You (And Leave)“ ist weniger literarisch. Hier geht es um soziale Klaustrophobie und Romantik. Zwei Dinge, die queerem Sex in einer heteronormativen, homophoben Gesellschaft schwer schaden können. Insgesamt denke ich, es bedarf der Einbeziehung von Text und Video, um die Nuancen, die Tiefe und die Klarheit zu erkennen, die mir als Produzent bei meiner Arbeit wichtig sind.
Samples aus Deproduction sind auf der Hompage von Comatonse zu hören.