Vorschaubild: Kristoffer Cornils (DJ Cassawarrior)
Im Innenhof vor dem Treibhaus lässt sich ein junger Physikstudent um Tschicks anschnorren, knipst sich mit Freundinnen vor einem Wolfgang Voigt-Poster und erklärt dann, dass er gerne in Innsbruck lebt. Hier, wo er aufgewachsen ist, hat er doch beides: die Natur einerseits und das Großstädtische andererseits. Es braucht nur einen Blick in die Altstadt der Tiroler Landeshauptstadt, um das zu bestätigen. Im Schatten der imposanten Alpen wuseln chinesische und indische Kleingruppen durch den überschaubaren Stadtkern, wo mit aller nur möglichen Weltoffenheit die regionalen Traditionen in Form von Speck, Strudel oder Loden feilgeboten werden. Mit über einer Million Übernachtung pro Jahr ist die 130 000-Einwohner-Stadt ein touristisches Zentrum Österreichs und damit der passende Ort für das Motto, welches sich das Heart Of Noise für die diesjährige Edition auf die Fahne geschrieben hat. Unter dem Titel Pop Life stellt es 2017 die Frage: „Gibt es eine Möglichkeit der Künste jenseits von E und U?“
Mit dem Österreicher Christian Fennesz und dem Norweger Arve Henriksen eröffnen zwei Musiker das Festival, die sich ihre Karrieren über nur mit dieser Frage auseinandergesetzt zu haben scheinen. Fennesz etwa nahm schon vollverdronete Cover-Versionen von den Rolling Stones und den Beach Boys auf, der Trompeter und Sänger Henriksen sucht über dem Jazz hinaus nach neuen Ausdrucksformen. Die verwaschenen Gitarrenakkorde des Wieners und die entrückten Melodien, die Henriksen entweder auf seinem Instrument bläst oder doch im unnachahmlichen Falsetto-Scat singt, sie wechseln sich mit langen und nahezu statischen Passagen ab, in denen die Maschinen freidrehen. Von E zu U sind hier, wie im Verlaufe der gesamten drei Tagen, besonders die Übergangspassagen die schönsten. Dabei setzt das Heart Of Noise vor allem auf ein kontrastreiches Programm, das scheinbar bewusst krasse Unterschiede auffährt. Auf die introspektiven Klänge folgt der von zwei Drummern begleitete Islam Chipsy, der mit psychedelischen Dabke-Synths über an Electro Sha’abi erinnernde Rhythmen reitet und damit das sich sonst gerne über den Boden ausbreitende Publikum auf die Füße reißt.
Am nächsten Abend zeigt sich Nadah el Shazly im Backstage-Bereich begeistert über die Diversität im Line-Up, während drinnen der Teheraner Sote mit hartem IDM-Rave nach Peder Mannerfelts Slo-Mo-Acid und dem ebenso grandiosen wie charmanten William Basinski das Tempo anzieht. Was die Ägypterin damit meint ist allerdings nicht nur die musikalische Vielfalt, die während dieser drei Abende im Turm und dem Keller des Treibhauses sowie auf dem Dach des fußläufig erreichbaren Pema Towers und im Musikpavillon des Innsbrucker Hofgartens geboten wird.
Das Heart Of Noise ist sichtlich darum bemüht, sein Programm paritätisch zu besetzen und sich gegenüber euro- und US-zentrischen Festival abzusetzen. Dabei geht es durchaus auf Konfrontationskurs: Mit El Shazly, Ola Saad und Bosaina treten drei Künstlerinnen im Musikpavillon neben schachspielenden Rentnern auf und bringen dabei die traditionellen Sounds ihrer Heimat mit abstrakten Ambient- und Post-Rock-Elementen zusammen (El Shazly), beschwören eine massive Drone-Landschaft herauf (Saad) und verwickeln ihr Publikum selbst in die Performance. Das Kairo Is Koming-Mitglied Bosaina nämlich verteilt für ihre Performance Chirurgenkittel an 30 Männer im Publikum, die während der gut dreiviertelstündlichen Metamorphose der Protagonistin dabei zusehen, wie sie dem Wahnsinn anheimfällt – und doch nichts machen müssen. Wer danach aufatmet, weil er nicht eingreifen musste, hat von Bosainas wirbelnder Kritik an der Verteuflung von Frauen durch eine untätig zuschauende Gesellschaft nur die Hälfte verstanden.
Die meisten anderen Performances indes widmen sich mit Ausnahme der ähnlich forsch vorgehenden Jenny Hval weniger explizit politischen Fragen, erfüllen aber zumindest maßgebliche politische Aufgaben. Das ist einerseits selbst im Programm angelegt, denn trotz großer Namen (Wolfgang Voigt stellt sein GAS-Projekt vor, Genesis P. Orridge kommt mit Psychic TV, Forest Swords spielt gemeinsam mit einem Bassisten neues und altes Material) werden die üblichen Headline-Hierarchien weitestgehend missachtet (Maja S.K. Ratkje oder Michaela Senn, die soeben auf dem zum Heart Of Noise gehörigen Label debütierte, bringen nicht immer ganz bequeme Elektronik zur Peak-Time). Vor allem aber zeigen sich hier alle ebenso offen für wie begeistert von dem, was sie sehen und hören – egal, was und von wem es kommt.
Wenn ein kleines Kind aufgekratzt durch eine Gruppe von Kids mit Hardcore-Shirts rast, um gemeinsam mit denen mit Panoramablick über Innsbruck zu äthiopischem Funk zu tanzen, scheint die Welt hier in Ordnung. Vielleicht erst recht deswegen, weil der Terror für schreckliche acht Minuten durch London Bridge zieht und unten auf den Straßen Österreichs weiß-rote Boulevard-Blätter daran erinnern, dass hier nicht alle willkommen sind – zumindest dann nicht, wenn sie neben ihrem Geld auch ihre Habseligkeiten und Familien mitbringen. Anders auf dem Heart Of Noise, wo das Pop Life ausnahmsweise wie das richtige im falschen aussieht. Und obwohl das schnell wieder vorbei ist, sobald die drei Tage in dieser Einerseits-Andererseits-Stadt verstrichen sind, hat sich dieses kleine Festival innerhalb seiner Nische doch als eines der besten Europas bewiesen. Nicht allein, weil es eine wichtige Frage an den Anfang gestellt hat, sondern auch deshalb, weil es deren Beantwortung zugleich vorantreibt – musikalisch und darüber hinaus.